Eine Art literarisches Schisma spaltet, wie auf den Seiten der FAZ ("Hat Michel Houellebecq Ihr Denken verändert?") zu verfolgen, die lesende Öffentlichkeit: Hat Houellebecq nun einen "epochalen Ideenroman" (fast alle Feuilletons) oder einfach nur ein "sehr zärtliches Buch" (Detlev Buck) geschrieben, "ein einziger Schrei nach Liebe"? Ist der Schriftsteller ein "rechter Beatnik" (Diedrich Diederichsen) oder bloß ein "freundlicher Delphin" auf der Suche nach einer menschlichen "Bezugsperson" (Silke Kipper, Verhaltensbiologin)? Immerhin taugt der Autor prächtig als "Projektionsfläche, wo alle möglichen Leute ihre Probleme hinschmeißen" (Jürgen Kuttner). Houellebecq selbst hält sich für einen "moralisch vollkommenen Menschen" und vergleicht sich gerne mit Robespierre. Wer möchte nicht nach allen Regeln der Kunst gefoltert werden mit Gedanken, die zu schön sind, um wahr zu sein?
Welche Gedanken wären das? Dass der Individualismus und die sexuelle Befreiung in Westeuropa eine Gesellschaft von mitleidlosen Hedonisten erzeugt, die ihre Kinder zwangsläufig zu seelischen Krüppeln macht? Dass eine Gesellschaft ohne die Güte und Opferbereitschaft der Frauen dem Untergang geweiht ist, weil sich Männer noch nie für ihren Nachwuchs interessiert haben und dies offenbar genetische Gründe hat? Dass Heil nur zu finden ist in der freiwilligen Selbstausrottung des nach Geschlechtern getrennten homo sapiens sapiens zugunsten einer neuen brüderlichen Rasse, die aus genetisch völlig identischen Individuen besteht, lauter fröhlichen Elementarteilchen eben?
Was ist dran, an den Thesen dieser Thesenromane? Dass die Individualisierung in westeuropäischen Gesellschaften zur Zerstörung traditioneller Familienstrukturen geführt hat, ist offenkundig. Dass wir in der Mehrzahl ratlos sind, welche Werte wir - außer Flexibilität von Arbeitszeit vielleicht - unseren Kindern vermitteln sollen, stimmt ebenfalls. Und dass sich die Vorstellungen von Selbstverwirklichung je nach Geschlecht und Präferenz unterscheiden, ebenso. Nur, aus dieser Diagnose des schleichenden Selbstzerfalls westlicher Gesellschaften muss man keinesfalls auf die vom Autor postulierten Lösungen schließen. Leider steht zu befürchten, dass nicht die Richtigkeit der Diagnose, sondern der Glaube an die Triftigkeit von Houellebecqs Schuldzuweisungen ausschlaggebend ist für den Erfolg der Elementarteilchen.
Dem Buch zufolge sind es die attraktiven und sexuell befreiten Frauen, die ihrer genetischen Verpflichtung zur Kinderaufzucht, Großzügigkeit und Selbstausbeutung nicht mehr nachkommen. Die Lösung kann nur darin bestehen, sich von der Lust und der Qual zu befreien, die Frauen den Männern immer noch bereiten. Ferner soll die Abschaffung der geschlechtlichen Verpflichtung zur Reproduktion durch eine Welt aus genetisch korrigierten Klonen geleistet werden. Diese Radikallösung zieht ihre verschwiegene Rechtfertigung aus dem Mitleid, das man unweigerlich für die mutter- und vaterlosen Gestalten im Buch empfindet.
Von der dumpfen, in Worten kaum zu kanalisierenden Aggressivität, die dieses Mitleid beim erwachsenen Mann freisetzt, kann sich überzeugen, wer den Autor lesen hört. Deprimiert und durch Alkohol und Tabletten notdürftig sediert, weckt Houellebecq allseits mütterliche Gefühle, die sodann brüsk zurückgewiesen werden. Denn die Mütter sind in den Elementarteilchen an allem schuld. Die Großmütter, weil sie ihre Enkelkinder mit überkommenden Moralvorstellungen abfrühstücken, die leiblichen Mütter, weil sie attraktiv, sexuell freizügig und mitleidslos sind, die Mütter der eigenen Kinder, weil sie während und nach der Schwangerschaft nicht länger den eigenen erotischen Wünschen entsprechen. Und als wäre das noch nicht genug, krepiert die einzig liebenswerte weibliche Restgruppe, Frauen, die keine Mütter sind, eher früher als später an Gebärmutterhalskrebs. (Ich habe einen Freund, der hält Houellebecq für einen großen Humoristen. Hat er womöglich recht?)
Dass sich die Männer samt ihrer Männlichkeit in einer tiefen Krise befinden und sich von der Genetik eine schnelle Lösung erhoffen, hat nicht erst Houellebecq behauptet. Man kann es seit Jahren - ironisch gebrochen - in den künstlichen Hodenhaltern des Amerikaners Matthew Barney (Cremaster-Zyklus) sehen, in Filmen wie Gattaca studieren. American Beauty oder Magnolia bieten für die Krise des Mannes immerhin amüsante Lösungen (etwa: werde homosexuell und/oder Sex-Guru). In Filmen wie Fight Club aber sieht man den Gegenschlag, bevor man den Schlag gesehen hat. Ist die Selbstbefreiung der Frau wirklich schon soweit fortgeschritten, dass der backlash gerechtfertigt ist? Gezeigt wird das Zusammenrotten lauter hochdotierter Angestellter, die sich gedemütigt fühlen, vor allem von den Selbsthilfegruppen, die ihre Frauen besuchen. Was an Filmen wie diesen, an Büchern wie Elementarteilchen so beunruhigt, ist nicht die Krise der Männer und ihrer Männlichkeit, sondern die Kur, die sie dafür vorschlagen: Vollständige Regression oder hemmungslose Aggression. Dazwischen scheint es an möglichen Verhaltensmustern für die Männer nichts zu geben.
Eine Frau würde mit Houellebecqs Thesen statt Verständnis höhnische Kommentare ernten. Ihr würde man wohl kaum verzeihen, wenn sie - selbst augenscheinlich sexuell frustriert - eine neue Moral des Selbstmitleids predigen wollte. Und ähnlich überzogene Vorstellungen vom Glück des Begehrtwerdens und Verführens würden lautes Gelächter auslösen. Bei Houellebecq lacht niemand.
In Jenseits von Gut und Böse scheint Nietzsche diesen Fall vorhergesehen zu haben: "Die Menschen der tiefen Traurigkeit verrathen sich, wenn sie glücklich sind: sie haben eine Art, das Glück zu fassen, wie als ob sie es erdrücken und ersticken möchten, aus Eifersucht, - ach, sie wissen zu gut, dass es ihnen davonläuft." Bei einem, dessen Übermensch-Visionen viele an den französischsten unter den deutschen Philosophen denken lassen, ist die Ferne zu Nietzsche erschreckend. Ein Umstand, der um so leichter übersehen wird bei scheinbar gleichem Vokabular und Impetus zur Umwertung aller Werte. Zur Genealogie der Moral, Nietzsches Streitschrift von 1887, enthält die treffendsten Sätze über das Korsett aus Affekten, das Houellebecqs Texte zusammenschnürt: "Jeder Leidende sucht instinktiv zu seinem Leid eine Ursache; genauer noch, einen Thäter, noch bestimmter, einen für Leid empfänglichen schuldigen Thäter". Statt Thesen findet man bei Houellebecq bloß Affekte, Attacken statt Analysen, allesamt feige Ausflüchte für ein zu kurz greifendes Denken. Er hat das Ressentiment und die damit einhergehende verlogene Mitleidsmoral wieder in ihr altväterliches Recht gesetzt, daher sein Erfolg. Der wütende Impuls nach Rache hält sich schadlos im "Verlangen nach Betäubung von Schmerz durch Affekt: - man sucht dieselbe gemeinhin, sehr irrthümlich, (...) in einem Defensiv-Gegenschlag (...) von der Art, wie sie ein Frosch ohne Kopf noch vollzieht, um eine ätzende Säure loszuwerden" (Nietzsche).
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