Gefühle unter der Erde

MEDIENTAGEBUCH "Der Tunnel", die fiktionale Wiedergabe einer wahren Geschichte auf SAT 1

Es gehört zu den Feinheiten der Regie von Roland Suso Richter, dass man in keinen Tunnel gestiegen sein muss, um ihn zu kriegen, den berüchtigten Tunnelblick. Die Schultern nach vorne gebeugt, dass die Lungen kaum mehr Luft kriegen, die Augen fixiert auf einen fernen Punkt, kehrt Vittorio Castanza (Mehmet Kurtulus) am Weihnachtsabend 1961 zu seinen Freunden in den Westteil Berlins zurück, Tage, nachdem ihn der ostdeutsche Sicherheitsdienst am Checkpoint Charly geschnappt und verhört hat. "Habt Ihr mich noch nie essen sehen", fragt er, ein Butterbrot in sich hineinschlingend, als er die Blicke der anderen nicht mehr erträgt. "Was ist passiert?" fragen die. "Nichts", antwortet er. "Was ist passiert?" fragt Harry Melchior (Heino Ferch) noch einmal, Verrat ahnend. "Sie haben nur gewartet, bis ich verrückt geworden bin", antwortet Vittorio. Da atmen die anderen beinahe auf. Schließlich hätte der Freund verraten können, dass sie dabei sind, einen 145 Meter langen Tunnel über die Sektorengrenze, unter der Mauer hindurch zu graben, um 32 Menschen aus dem Ostteil der Stadt die Flucht zu ermöglichen. "Ihr seid wohl ein kleenes bissken total bekloppt", wundert sich die Frau, die der bunten Putztruppe - bestehend aus Leistungsschwimmer, Ingenieur, Adeligem, Bohémien und Berliner Göre - ihre alte Fabrik am Grenzstreifen zum Tunnelbau überlässt. "Wenn ick det meinem Alphons erzähle...".

Der für das Kino (nun doch leider nicht im Verleih) gedrehte Fernsehfilm Der Tunnel beruht auf mehreren ineinander montierten, wahren Begebenheiten, von denen es überdies historisches Filmmaterial gibt. Zum Zwecke der Dramatisierung sind die üblichen Übertreibungen wie Schießerei, Uniformtausch, Verschleppung, Selbstmord hinzugekommen. Gleichzeitig versucht der Film, die historische Situation zu entideologisieren. Nicht der Streit der Systeme, sondern die ganz praktischen Folgen des Mauerbaus für die Menschen interessieren die Macher. Es "menschelt". Man mag das politisch bedenklich finden. Dennoch gibt es in diesem Film Wendungen und Gefühlsumschwünge zu entdecken, die nicht einfach zu denunzieren sind.

Zum Beispiel, wie verführerisch schmal der Grat zwischen Selbstzerstörung durch Sturheit und Selbsterhaltung durch Verrat sein kann. Darf man sich als Spitzel an die Staatssicherheit verkaufen, um das ungeborene Kind zu schützen? Muss man auf die Mauer klettern, um einen verblutenden Flüchtling von der Ostseite herüberzuziehen? Es gehört zu den Kunststücken des Films, dass bei diesen an sich melodramatischen Entscheidungsszenen das Geschehen nicht ins Heroische kippt. Es ist die ehrliche Empörung, die im Tunnel die Menschen so erfindungsreich und tatkräftig macht. Der Film zeigt uns die Menschen in Berlin kurz nach dem Mauerbau nicht eingeschüchtert, sondern sauer. Manchmal, wie aus Versehen entscheiden sie sich für das Richtige.

Da ist etwa Lotte, Harrys Schwester, die ihrer Freundin, von der sie bespitzelt wird, gesteht: "Ich mag Dich, Carola. Ich will Deine Freundin bleiben." Sie weiß nicht, dass sie mit dieser Geste das Fluchtunternehmen rettet, weil sie Carola eine zweite Chance und die Möglichkeit gibt, den Stasi in Gestalt des Oberst für Republikflucht, Krüger, auf eine falsche Fährte zu locken.

Weder die maschinenbewehrte action, noch das kalkulierte Spiel mit einem emphatiefähigen historischen Ereignis, das hier - zum Grauen des Historikers - zu fiction verschmolzen wird, machen die Klasse des Tunnels aus. Vielmehr sind es die glaubhaft dargestellten Gefühle. Sie sind gleichsam, da unter der Erde im Tunnel gewachsen, tiefer verwurzelt als andere. Spannung erwächst im Film aus der Dynamik innerhalb der Gruppe. Aus der Art, wie einigen der Tunnelbauer während der neunmonatigen Knochenarbeit die Gründe, weiterzumachen abhanden kommen. Aber gleichzeitig ist das Sichweitergraben durch den gestampften Lehm zu gleichen Teilen Weltflucht wie Mittel gegen die Selbstaufgabe. Praktische Arbeit gegen den Wahnsinn, der oberirdisch stattfindet. Unterwanderung im buchstäblichen wie übertragenem Sinn. Es gibt eine Szene, da brechen die Tunnelbauer unter Tage plötzlich in komplizenhaftes Lachen aus, obwohl sie gerade auf Granit gestoßen sind. Da ahnt man etwas von der Freude, die daraus erwächst, dass man klammheimlich die Ebene und das Element gewechselt hat. Ab wie viel Meter Tiefe hört die Erde auf, territoriales Eigentum eines Staates zu sein? - könnte man die Message des Film zusammenfassen.

Zur Erde gehört die Feuchtigkeit. Mit einer Ästhetik aus Erde und Schweiß geizt der Film nicht. Selbst Tränen sind Überzeugungssache. Weinende, erdbeschmierte Männer gibt es zu sehen und einen, der nicht weinen kann: In der Rolle des Fred von Klausnitz ist Felix Eitner die Entdeckung des Films. Mit der Selbstverständlichkeit, mit der er - als Klempner verkleidet - den DDR-Grenzern klarmacht, dass sie den Rohrbruch zu reparieren haben, der den Fluchttunnel zu überfluten droht, stiehlt er selbst dem twisttanzenden Heino Ferch die Schau.

Selten gab es in einem TV-Zweiteiler so wenig Sex und Crime zu sehen. Fast vergisst man, dass es sich um jenen neuen Typus von "Eventprogramm" handelt, der seine 13 Millionen wieder einspielen muss. Es ist den Produzenten Nico Hofmann und Ariane Krampe zu verdanken, dass sie mit ihrer Firma TeamWorx den Regisseur Roland Suso Richter bei SAT.1 durchsetzen konnten, obwohl der zuletzt mit seinem Mengele-Drama und der Bubi-Scholz-Story zu wenig Quote gemacht hatte. Die wahren Geschichten haben es dem Regisseur angetan. Vielleicht, weil sie eine gute Tarnung bieten, um neuerlich die Welt nach den Gesetzen der Fiktion einzurichten.

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