In Schnellzügen, die aus Deutschland oder der Schweiz kommend den Innsbrucker Hauptbahnhof passierten, nahm die Geschichte in den frühen achtziger Jahren ihren Anfang: Ein junger Rangierarbeiter machte es sich zur Gewohnheit, abends die verlassenen Waggons nach liegengebliebenen Zeitungen zu durchsuchen und begann, in seiner Wohnung in einer Tiroler Kleinstadt eine Sammlung von Zeitungsausschnitten anzulegen.
In derselben Kleinstadt, auf halbem Weg zwischen Innsbruck und der Schweiz, traf ich Romed Mungenast an einem Abend im November diesen Jahres. Seit kurzem arbeitet der 51-Jährige in Folge einer schweren Erkrankung nicht mehr in dem physisch anstrengenden Beruf des Rangiermeisters. Seine Sammlung, inzwischen ein einzigartiges Archiv zur Geschichte der Jenischen, einer Vol
einer Volksgruppe von Nichtsesshaften, hat er der Öffentlichkeit vermacht, seine umfangreiche zeithistorische Bibliothek an Freunde verschenkt. In einem Schreibbüro, das er sich unterdessen eingerichtet hat, arbeitet er weiterhin an wissenschaftlichen und literarischen Projekten.Der Anlass für unser Treffen ist erfreulich: Ein Monat zuvor wurde Romed Mungenast die Ehrenprofessur der Universität Innsbruck für seine Verdienste um die Geschichte, Kultur und Sprache der Jenischen verliehen. Nicht nur seine ungewöhnliche Sammeltätigkeit, die er von Zügen auf verlassene Häuser und Archive ausgedehnt hatte, wurde damit anerkannt, sondern vor allem seine Tätigkeit als Schriftsteller und Autodidakt in der Wissenschaft.Ein KarrnerkindGeschichten sammeln, nennt er selbst die Arbeit, zu der ihn seine eigene Geschichte gebracht hat: Als zweites von elf Kindern wuchs Romed Mungenast am Rand jener Kleinstadt auf, in einer ärmlichen Holzbaracke nahe den Flußauen. Die Großeltern, ehemals Fahrende ohne festen Wohnsitz, hatten sich nach der Geburt ihres Sohnes mit Unterstützung des nahen Nonnenklosters dort niedergelassen. Der Sohn arbeitete weiterhin in traditionell jenischen Berufen als Korbflechter, Besenbinder und Gelegenheitsarbeiter. Die Enkelkinder, Romed und seine Geschwister, lernten von verwandten und bekannten, noch nicht sesshaften Jenischen, die sich im Sommer nahe ihrer Hütte eine Zeit lang niederließen, die jenische Sprache und Kultur. Und obwohl die Familie in großer materieller Armut lebte, lagen die schwerwiegendsten Probleme der Kinder woanders: "Von Fluss und Erlen eingegrenzt und von der Dorfgemeinschaft ausgegrenzt, wuchs in mir der Verdacht, dass es etwas Böses sei, ein Karrnerkind zu sein", schreibt Romed Mungenast."Karrner" werden die Jenischen, eine zum Teil auch heute nomadisch lebende und noch vor kurzem kaum wahrgenommene Minderheit, in Tirol genannt, und es ist meist abfällig gemeint. Diese Bezeichnung hat einen Ursprung in den "Karren", den von Hand gezogenen Plachenwagen, mit denen jenische Familien übers Land zogen. Die Jenischen sind bzw. waren europäische Nomaden mit gleicher Lebensform und Verfolgungsgeschichte und entsprechenden Überlebensstrategien wie die so genannten Zigeuner. Doch im Unterschied zu diesen reichen die Ursprungserzählungen der Jenischen nicht bis nach Indien, sondern haben ihren Anfang in Europa. Häufig handelte es sich um verarmte Landbevölkerung, die ihren Grundbesitz verloren hatte und nicht wieder Fuß fassen konnte.Obwohl im gesamten deutschen Sprachraum Nachkommen jener Fahrenden leben, wurde ihre Existenz erst Mitte der siebziger Jahre öffentlich wahrgenommen. Ein Journalist deckte die Verbrechen des von der Stiftung Pro Juventute in der Schweiz betriebenen "Hilfswerks für die Kinder der Landstraße" auf: Mehr als 600 jenische Kinder waren zwischen 1926 und 1973 ihren Eltern weggenommen und in Pflegefamilien oder Kinderheimen erzogen worden, wo man sie ihre Kultur und Sprache vergessen machen wollte.Nach dem Skandal um Pro Juventute erkannte die Schweiz als einziges europäisches Land die Jenischen als Volksgruppe an, weshalb viele von ihnen dort heute wieder das traditionelle Leben der Fahrenden führen. Auf Standplätzen, die der Staat zur Verfügung stellt, leben die Schweizer Jenischen in Wohnwagen, verrichten zum Teil Arbeiten wie Körbe flechten und Messer schleifen und sprechen in der ihnen eigenen Sprache, einer Mischsprache aus deutschen Dialekten mit Lehnwörtern aus dem Jiddischen, Rothwelschen, Romanés und den Romanischen Sprachen.Nationalsozialistische ÜberlieferungRomed Mungenast war der erste österreichische Jenische, der sich offen zu seiner Herkunft bekannte. Mit Hilfe ermutigender Freundschaften - zu dem Musiker und Schriftsteller Bert Breit oder dem Leiter der Innsbrucker Bewährungshilfe Edmund Pilgram - entkam er dem Teufelskreis aus Gewalt und Diskriminierung, dem er mit anderen Jugendlichen seiner Generation und Herkunft ausgesetzt war. Er begann sich für die Geschichte seiner Familie zu interessieren, ging in Bibliotheken und Archive. Dort fand er heraus, dass die wissenschaftliche Forschung über die Kultur und Geschichte der Jenischen nahezu ausschließlich unter dem Einfluss von Friedrich Stumpfl, in der Zeit des Nationalsozialismus Leiter des Erb- und Rassenbiologischen Instituts in Innsbruck, entstanden war und sich nach 1945 kaum verändert hatte."Ich bekam eine ungeheure Wut", sagt Romed Mungenast während unseres Gesprächs, "und dachte mir: Du mit deinen acht Jahren Schulbildung, du kannst reden, hast einen Mund und musst Dinge richtig stellen." Mit den wenigen Informationen, die ihm zur Verfügung standen, den Namen jenischer Familien und Sippen, ging er in die Archive. Chaotische, ungeordnete und bis dahin weitgehend unbearbeitete Bestände erwarteten ihn. Die Suche stellte sich als schwierig heraus, da die Jenischen nicht als einheitlich definierte Volksgruppe in den Akten geführt wurden. Die Behörden, nicht nur die nationalsozialistischen, sprachen von "nach Zigeunerart Lebenden" oder "Zigeunermischlingen", meist aber einfach nur von "Asozialen".Romed Mungenast legte Inventarlisten an, um dann den persönlichen Kontakt von Historikern und Ethnologen zu suchen: "Ich begriff, dass ich, um in den Diskurs einzugreifen und ihn zu verändern, vor allem die Wissenschaft ansprechen muss." Er begann Aufklärungsarbeit über die Verfolgungsgeschichte, aber auch die Kultur der Jenischen zu betreiben, hielt Vorträge an Schulen, Universitäten und bei Kulturveranstaltungen. Mit der Zeit begannen Wissenschaftler und Journalisten sich für das Thema zu interessieren. Sie kamen zu ihm, auf der Suche nach Materialien, Informationen und Kontakten, schickten ihm zahlreiche Studierende, deren Magister- und Doktorarbeiten - auch eine Habilitation - er inoffiziell betreute. Mit seiner Beharrlichkeit und seinem Mut setzte Romed Mungenast den Beginn einer seriösen Forschung zur Geschichte einer Minderheit ohne Lobby durch.Alter Rassismus und neues SelbstbewusstseinAmbivalenz klingt aus der Beschreibung seiner Erfahrung mit den Mitgliedern der eigenen Volksgruppe. In Tirol waren viele von ihnen bereits so sehr in die Gesellschaft assimiliert und gleichzeitig so wenig integriert, dass ihnen das öffentliche Auftreten Romed Mungenasts unangenehm war und ist. Anders waren die Reaktionen aus Deutschland, wo in zahlreichen Dörfern im Schwarzwald nach dem Krieg Nichtsesshafte zwangsangesiedelt wurden und auch in Städten wie Köln oder Mönchengladbach heute zahlreiche Jenische leben. Sie führen zum Teil noch weiterhin ein halbtraditionelles Leben, sind häufig Marktfahrer, wohnen aber längst in soliden Häusern und fahren Mercedes. Vielen hätte sein Auftreten ein anderes Selbstverständnis gegeben, bemerkt Romed Mungenast, und sie wären heute stolz darauf, Jenisch zu sein.Als Enttäuschung und großen Fehler beurteilt er seine Initiative bei der Gründung eines Jenischen Kulturvereins. Die von der Gesellschaft Geschundene seien in Folge vorenthaltener Bildung und schlechter Erfahrungen oft selbst rassistisch. Eine Zusammenarbeit mit ihnen habe sich unmöglich herausgestellt. Deshalb habe er sich unmittelbar nach der Gründung vom Verein ab- und wieder der Wissenschaft und Literatur zugewandt.Als Romed Mungenast begann, auf Jenisch Gedichte und Geschichten zu schreiben, warfen ihm traditionell lebende Jenische vor, er verrate ihre Sprache an die "Gadsche", die Nicht-Jenischen. Aber das sei ein Irrtum, erklärt er, kein Bereich der Geschichte der Jenischen sei so gut erforscht wie ihre Sprache. Seit dem 19. Jahrhundert hatte die Polizei im gesamten deutschsprachigen Raum Glossare angelegt, um den Behörden die Sprache der "Karrner" zu erschließen.Im Jenischen gibt es, ähnlich wie im Romanés, nur wenige Wörter, nicht mehr als zwölf- bis fünfzehnhundert. Deshalb muss die Sprache, die sich auf das alltägliche Leben beschränkt, sehr präzise sein und das vollständige Fehlen abstrakter Begriffe ausgleichen. Im Jenischen, so Romed Mungenast, muss man also umschreiben und Geschichten erzählen. Er ist Herausgeber eines Sammelbandes über jenische Kultur, Geschichte und Sprache, das nicht nur informativ sein, sondern und über eine kleine intellektuelle Gruppe hinaus möglichst viele Leser ansprechen soll.Anfang der neunziger Jahre lehnte Romed Mungenast ein Stipendium des österreichischen Pen-Clubs für seine literarische Tätigkeit ab, weil er es vorzog, unabhängig zu bleiben und weiterhin in seinem Beruf und in der Bahngewerkschaft zu arbeiten. Den Professor h.c. nahm er nun, nach einigem Zögern, an. Der Titel verschaffe ihm Gehör, meint Romed Mungenast. Und vielleicht auch ein wenig Vergnügen? Im Jahr zuvor, als ihm die Verdienstmedaille des Landes Tirol verliehen wurde, stand er in einer Reihe mit jenem Schuldirektor, der versucht hatte, den einst auffälligen Jugendlichen mit regelmäßigen Prügeln gefügig zu machen.Als wir schließlich auf die Voyeure zu sprechen kommen, die im Licht der Öffentlickeit stehende Minderheitenvertreter gern umgeben, lacht Romed Mungenast. Nein, er stoße keinen vor den Kopf, im Gegenteil, er spanne sie alle ein, lasse sie arbeiten: "Ich ärgere mich zwar, aber der Zorn lacht mir aus dem Gesicht."
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