Brücken und Gräben (Teil 2)

E30 Auf nach Osten! Die mitunter ziemlich harte Geschichte entlang einer der wichtigsten Straßenverbindungen Europas

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Brücken verbinden und Gräben trennen. Wir sind unterwegs auf der Europastraße 30 (E30), die das irische Cork mit Russlands Herz Moskau verbindet. Allerdings wurden in dem östlichen Abschnitt der E30 auch Gräben aufgeworfen, die bis heute nicht vollständig überbrückt sind.

In Teil 1 machten wir zuletzt in der Friedensstadt Osnabrück Station. Von dort geht es jetzt weiter Richtung Osten. Hier sind an der E30 eine Reihe wichtiger Städte aufgefädelt: Hannover, Braunschweig und Magdeburg, sodann macht die E30 einen Bogen um die deutsche Bundeshauptstadt und wir landen schließlich in Frankfurt an der Oder. Dieses stand immer im Schatten seines größeren Namensvetters am Main. So nennt man in Wien doch die Wiener Würstchen Frankfurter, oder? Und meint dabei die vom Main. Allerdings, für einen „Maineid“ gibt es keinen Grund, im Gegenteil: Frankfurt (Oder), ist keineswegs ein „Frankfurts“, sondern hat das Eine oder Andere zu bieten. Es ist die Kleiststadt, weil der später nicht glücklich gewordene Dichter Heinrich von Kleist hier geboren wurde und auch einen Teil seiner Kindheit und Jugend in der Stadt verbracht hat. Kleist entstammt einer alten und weitverzweigten Adelsfamilie, die neben Beamten und Gutsbesitzern auffällig viele hohe und höchste Offiziere hervorgebracht hat. Der heutzutage wohl bekannteste von diesen ist jener Ewald von Kleist, der in Hitlers Heer Kommandeur einer sogenannten Panzergruppe, später Panzerarmee, war. Eine der „Vorzeigeobjekte“ der deutschen Wehrmacht.

Die Bedeutung von Frankfurt (Oder) ist nicht unwesentlich mit seiner Universität verbunden, die zunächst von 1506 bis 1811 existiert hat und nach dem Mauerfall 1991 neu gegründet wurde. Die Neugründung hat sich einen guten Namen gemacht: Europa-Universität Viadrina. Also eine Europa-Universität, die heuer 25 wurde, an der Europastraße 30. Wenn das keine höhere Bedeutung haben soll! Tatsächlich pflegt die Viadrina eine besondere Verbindung zu Polen, das wir nach Überqueren der Oderbrücke erreichen.

In Polen wird die E30 neu als Autobahnverbindung verlegt. Von der deutschen Grenze bis Warschau ist dieser Ausbau fertig. Mit diesem Ausbau verbunden ist auch eine teilweise Verlegung der Trasse, sodass einige Orte, die bisher an der E30 lagen, von ihr weggerückt sind und umgekehrt. Weggerückt ist zum Beispiel das westpolnische Swiebodzin, das die E30-Reisenden mit der größten Christusstatue der Welt begrüßt hat. Herangerückt ist dagegen die Stadt Łodz. Geblieben, wo es war, ist Posen (Poznan), eine der Keimzellen des polnischen Staates. Posen wurde an der Kreuzung uralter Handelswege gegründet, von denen einer eben von West nach Ost führt und ein anderer vom Baltikum nach Italien. Diese Lage hat Posen zu einem bedeutenden Wirtschaftszentrum gemacht, aus dem sich die wichtigste Messestadt Polens entwickelte. Über Łodz, Warschau und weitere Städte an der polnischen E30 ließe sich natürlich gleichfalls einiges sagen, das würde aber an dieser Stelle zu viel Aufenthalt ergeben und so rauschen wir daran vorbei, weiter nach Osten. Hier wird die E30 immer mehr zu einer Art stummen Museum, das erst durch die Vorstellungskraft des Betrachters zum Leben erweckt werden muss. Treten wir also, oder besser, fahren wir in dieses Museum ein. Eintritt und -fahrt sind frei:

Bei Terespol erreicht die E30 die weißrussische Grenze. Kurz vorher wird ein Zweig der E30 auf eine Umfahrung geführt, die die gegenüberliegende weißrussische Grenzstadt Brest nördlich umgeht. Wir bleiben aber auf der alten direkten Route, die nach Brest hineinführt. Zwischen Terespol und Brest fließt der Westliche Bug, dessen Wasser der Weichsel zugeführt wird.

Brest ist von seiner Lage her das äußere Tor zum Osten Europas. Die Stadt hat daher eine dementsprechend strategische Bedeutung und die drückt sich unter anderem dadurch aus, dass hier das zaristische Russland eine Festung errichtet hat, die später nochmals ausgebaut und verstärkt wurde. Zu diesem Zweck verschob „der Zar“ die Stadt, die damals noch Brest-Litowsk hieß, ein Stückchen weit nach Osten.

Brest-Litowsk kann man als ein Synonym für den nicht unpopulären Versuch verstehen, den Lauf der Dinge in Russland von außen zu beeinflussen. Hier fanden im Ersten Weltkrieg die separaten Friedensgespräche des deutschen Kaiserreiches mit dem gerade sowjetisch gewordenen ehemaligen Zarenreich statt. Bekanntlich hat zuvor das Deutsche Reich den Bolschewikenführer Wladimir Illitsch Lenin mit der Eisenbahn aus der Schweiz nach Russland transferiert, in der Hoffnung, so dort das politische System weiter zu destabilisieren und damit in letzter Konsequenz ein Ausscheiden Russlands aus dem Krieg zu erreichen. Die Rechnung ging irgendwie auf. Deutschland konnte in der Folge in Brest-Litowsk aus einer starker Position heraus verhandeln. Und man blieb sich dann sogar noch eine ganze Weile näher verbunden.

Vor ziemlich genau 75 Jahren, am 22. Juni 1941 und die Tage danach stand das nun sowjetische Brest und seine Festung wieder im Mittelpunkt einer solchen Absicht, in die Geschicke des Moskauer Staates einzugreifen. Nach dem Überfall Deutschlands auf Polen im September 1939 bildete der Bug auf weiten Strecken die Demarkationslinie zwischen dem deutschen und dem sowjetischen Einflussbereich, was soviel heißt, dass Brest das zentrale Einfallstor Richtung Moskau darstellte.

Der 22. Juni 1941, ein strahlender Sonntagmorgen. Der „Sonntagsausflug“, der jetzt beginnt, heißt „Unternehmen Barbarossa“ und obwohl er nur für einige Wochen angesetzt ist, endet er erst vier Jahre später: Die Streitkräfte Nazideutschlands überfallen die Sowjetunion. Die Hauptstoßroute der solcherart Reisenden verläuft auf, entlang und im Einzugsbereich der späteren E30. Damit bricht ein Inferno los, das diesbezüglich alles bisher Dagewesene an Erfahrungen übersteigt.

Hitler und seine Militärs waren überzeugt, es mit einem inferioren Gegner zu tun zu haben, den man leicht niederringen konnte. Tatsächlich waren die letzten militärischen Leistungen der Sowjetarmee nicht gerade berauschend, die militärischen Führungskader unerfahren und Sowjetführer Stalin wiegte sich in Sicherheit, obwohl ihm mehrmals der bevorstehende Angriff der Deutschen gemeldet worden war. Hitler und die deutsche Heeresführung waren daher bereit, einen nur als improvisiert zu bezeichnenden Angriff zu starten und machten damit den typischen Denkfehler, Russland, bzw. die Sowjetunion in all ihren Dimensionen und Möglichkeiten zu unterschätzen.

Wenige Wochen zuvor, Ende Mai 1941 wurde die 45. Infanteriedivision (ID) aus Frankreich / Belgien kommend bis vor Terespol geführt. Die 45. ID war in Linz an der Donau aufgestellt worden, was bedeutete, dass zunächst das Gros der Mannschaften aus Oberösterreich und teilweise auch Niederösterreich stammte, oftmals junge Bauernburschen, die von ihren abgelegenen Höfen weg in den Krieg geschickt wurden. Die Division war bereits im Polen- und Frankreichfeldzug eingesetzt worden. Jetzt wurde sie im Rahmen der 4. Armee der 2. Panzergruppe unter Generaloberst Guderian zugeordnet, die sich im Raum westlich von Terespol für den Angriff bereitstellte. Aufgabe der 45. Infanteriedivision war es, die Brücken nach Brest zu sichern, sodann die Festung Brest zu stürmen und damit den Weg Richtung Moskau für die Panzer freizumachen.

Hinter Brest beginnen drei wichtige Straßenverbindungen. Die Deutschen bezeichneten im Krieg Straßen dieser Art als Rollbahnen, vergleichsweise besser ausgebaute, breite Hauptverkehrswege, deren wichtigste Route Brest mit Moskau verband, die spätere E30 also. Wer Moskau einnehmen wollte, musste diese Rollbahn unter seine Kontrolle bringen. Der Anfang dazu war in Brest zu machen, wo die Festung Straßen- und Eisenbahnbrücken über den Bug und damit den Zugang zu den Rollbahnen wie zur Eisenbahnverbindung bewachte. Die Festung war auf mehreren Flussinseln errichtet worden, wobei die Hauptinsel durch drei rundherum vorgelagerte Inselfestungen geschützt war. Die westliche Vorfestung lag am westlichen Bugufer, sodass der Bug durch die Festungsanlage floss.

22. Juni 1941, es ist kurz nach 3 Uhr früh, als die bei Terespol aufgefahrene deutsche Artillerie beginnt, die Festung Brest mit intensivem Geschosshagel zu belegen. Die Erde bebt und die Nacht verfinstert sich. Im Schutz des Artilleriefeuers rückt die 45. ID vor und nimmt die Brücken im Handstreich. Dann gerät sie auch unter eigenen Beschuss. Eine Handvoll Männer sind auf einen Schlag weg. Doch die Infanteristen stürmen weiter. Mit Schlauchbooten setzten sie zu den Festungswerken über. Jetzt muss die deutsche Artillerie das Feuer einstellen, um nicht die eigenen Leute zu gefährden. Die Divisionsführung ahnt wohl, dass der massive Artilleriebeschuss die Festung nicht genügend ins Wanken bringen wird, aber man rechnet mit der psychologischen Wirkung und einem Überraschungseffekt. Schließlich hat man die Festung im September 1939 schon einmal erobert, damals aus der Hand sich wacker schlagender Polen. Tatsächlich gelingt es leicht in die Befestigungen einzudringen. Doch dort erwartet die Infanteristen eine böse Überraschung: Sie werden mit einem dichten Kugelhagel begrüßt. Binnen kurzem sind dutzende 45er tot. Der Angriff bleibt stecken. Der dichte Artilleriebeschuss hat zwar viele Opfer gefordert, aber die Festungsanlage nicht wirklich erschüttert. Nach einer kurzen Zeit des Schocks und der Überraschung formieren sich die Verteidiger zur Gegenwehr. Zu bedenken ist dabei, dass in der Festung nicht nur Soldaten, sondern auch etliche ihrer Familien leben.

Gegen Abend dieses Sonntags macht sich bei der deutschen Divisions- und Armeeführung eine gewisse Ratlosigkeit breit. Zwar ist es gelungen, die Panzer südlich und dann auch nördlich von Brest über den Bug rollen zu lassen, sodass sie freien Weg nach Osten haben, aber man sitzt auf einem Berg von toten Infanteristen*: mehr als 310 der 45. ID sind es alleine in diesen ersten Stunden von „Barbarossa“ in und um die Festung Brest, die unbeirrt von den Sowjets gehalten wird. Mit herkömmlichen Mitteln ist den Verteidigern nicht beizukommen. Man möchte daher mehr auf Zeit spielen und fordert zuletzt auch Luftunterstützung an. Sturzkampfbomber (Stukas) sollen die Festungswerke weich klopfen.

Zwar sind nach drei Tagen die schlimmsten Kämpfe vorüber. Aber die Stukas müssen erst mit den schwersten Bomben angreifen, um die verbliebene Festungsbesatzung mürbe zu machen. Trotzdem dauert es mehr als eine Woche, bis die Deutschen die Festung tatsächlich unter Kontrolle haben. Einige Widerstandsnester halten sich noch bis in den Juli hinein. Über 470 ihrer Männer muss die 45. Infanteriedivision in Brest begraben, weiters verliert die Division zumindest an die 700 Verwundete. Nach dem Fall der Festung wird die Division sofort wieder in Marsch gesetzt, ins Landesinnere hinein.

Die Opferzahlen auf sowjetischer Seite sind etwas schwerer zu beziffern. Bereits zu Beginn des Artilleriebeschusses gelang es einigen Bewohnern der Festung zu fliehen. Während der Kämpfe gingen tausende von ihnen in Gefangenschaft oder versuchten auszubrechen. Wie erwähnt, lebten auch viele Soldatenfamilien in der Festung, die jetzt Hilfsaufgaben bei der Verteidigung übernahmen. Man muss von 2000 gefallenen und 6800 gefangenen Sowjetsoldaten ausgehen, wobei diese Zahlen durchaus eine größere Schwankungsbreite besitzen können. Da die Wehrmacht in ihren Gefangenenlagern einen Großteil der sowjetischen Gefangenen zu Tode brachte, wird die Opferzahl letztendlich um einiges höher anzusetzen sein. Etliche der Offiziersfamilien sollen ebenfalls gefangen genommen und, wie es heißt, teilweise auch ermordet worden sein.

Die Geschehnisse in Brest sind gewissermaßen typisch für den Verlauf des Feldzugs. Der, auf der gesamten Front vorgetragene Überraschungsangriff der Deutschen schlug voll ein. Große Teile der an der Grenze stationierten sowjetischen Einheiten lösten sich sofort in Blut und Chaos auf. Dort allerdings, wo die Befehlsstrukturen erhalten geblieben waren, leisteten die Sowjets erbitterten und energischen Widerstand, der die Angreifer vor enorme Probleme stellte. Obwohl der deutsche Vormarsch in den ersten Wochen geradezu wie im Manöver zu funktionieren schien, musste die Wehrmacht in zunehmenden Maße die Brester Erfahrungen wiederholen und der rasch ansteigende Blutzoll beim deutschen Angreifer ließ bald erahnen, dass man sich eigentlich zu Tode gesiegt hatte. Das war schon wenige Monate nach Beginn des Feldzugs klar.

Heute ist ein Teil der Festung Brest ein Memorialkomplex mit Denkmälern und Museen, andere Areale des weitläufigen Bauwerks wurden von der Natur zurückerobert, die umgebenden Kanäle sind teilweise verlandet. Wer nicht vor Terespol auf die Umfahrung von Brest abzweigt, sondern auf der alten Route bleibt, fährt gleich nach dem Flussübergang direkt an den Wällen der Festung vorbei.

Fortsetzung folgt.

*Wenn man sich mit Opferzahlen während des „Unternehmens Barbarossa“ beschäftigt, stößt man oft an Grenzen. In der Literatur werden mitunter unterschiedliche Größen genannt, wobei die Angaben je nach Ereignis von wenigen Dutzend bis zu x-mal zehntausend Opfern differieren können. Historiker bemühen sich zwar gegebenenfalls genaue Zahlen zu erheben, wegen der Unübersichtlichkeit mancher Ereignisse, ist das aber nicht immer möglich. Diese Anmerkung gilt auch für die Kämpfe um Brest und seine Festung. Deshalb werden hier meist nur ungefähre Größenordnungen bzw. Richtwerte angegeben.

Von Christian Ganzer liegt diesbezüglich für Brest eine Untersuchung vor (in englischer Sprache):

https://www.academia.edu/7794599/German_and_Soviet_Losses_as_an_Indicator_of_the_Length_and_Intensity_of_the_Battle_for_the_Brest_Fortress_1941

Anderenorts sind aber auch höhere deutsche Opferzahlen zu lesen. Zum Thema gibt es von deutscher (bzw. österreichischer) Seite zwei Hauptquellen, nämlich den Report von Divisionskommandeur Schlieper und die Aufzeichnungen von Divisionspfarrer Gschöpf, und dazu noch diverse andere Niederschriften von Beteiligten. Schlieper musste aufgrund der für den Feldzugsbeginn exorbitant hohen deutschen Verluste an die Obrigkeiten reportieren, was da eigentlich vorgefallen war. Die Totenbücher der 45. ID liegen im oberösterreichischen Landesmuseum in Linz und sind im Internet abrufbar, z. B. hier:

http://www.zobodat.at/pdf/GEF_2_0001-0500.pdf

Zuletzt ist noch zu sagen, dass die Brester Ereignisse in den sowjetischen bzw. russischen und weißrussischen Weltkriegserzählungen eine zentrale Rolle spielten und spielen, während sie in der deutschen und österreichischen Wahrnehmung kaum präsent sind. Seit einigen Jahren bemühen sich deutsche Historiker dieser mangelnden Aufmerksamkeit entgegenzuwirken und wenn dieser Beitrag auch etwas dazu leisten kann, dann wäre das natürlich nett.

Dieser Beitrag wurde zuvor auf dem Blog https://mittelundosteuropa.wordpress.com/ veröffentlicht. Dort gibt es auch Fotos zu sehen, die die Festung Brest in heutigem Zustand zeigen.

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Michael Schütz

Unabhängiger Historiker

Michael Schütz

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