Brücken und Gräben (Teil 3)

E30 Das Große Finale entlang der Europastraße 30!

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Von Cork bis nach Moskau. Das ist die Europastraße 30 (E30), die wichtigste West – Ost Straßenverbindung des Kontinents. Wir befahren sie ausgehend vom irischen Cork Richtung Osten. In Teil 2 machten wir zuletzt Station in der weißrussischen Grenzstadt Brest. Dort wurden wir Zeuge der Eroberung der sowjetischen Festung Brest durch die Truppen Nazi-Deutschlands Ende Juni 1941. Mit diesem Überfall des Deutschen Reichs auf die Sowjetunion wurde aus dieser Straßenverbindung von West- und Osteuropa ein riesiger Graben, der bis heute nicht vollständig überbrückt ist. Auf der Fahrt von Brest weiter nach Osten wird man unwillkürlich mit der noch immer offenen Frage konfrontiert: Sind wir fähig aus Geschichte zu lernen? Mal sehen, was die E30 für Antworten darauf bereit hält:

Hinter Brest knickt die E30, die von Holland bis zur weißrussischen Grenze mehr oder minder schnurgerade in relativer West-Ost Richtung verläuft, nach Nordosten ab und nimmt über Baranawitschy Kurs auf Minsk. Von dort zieht sie sich in einem wesentlich flacheren nordöstlichen Winkel weiter: über Barysau (Borisow), wo sie die Beresina überquert, Orscha, über die russische Grenze nach Smolensk, Safonovo, Wjasma, Gagarin, und schließlich an der Künstlerkolonie Peredelkino vorbei in die Hauptstadt Russlands Moskau. Hinter Moskau setzt sich die E30 als M5 bis nach Omsk fort. Gagarin hieß früher Gschazk, da aber der erste russische Kosmonaut Juri Gagarin in der Nähe geboren wurde und auch hier gelebt hatte, wechselte die Stadt nach seinem tödlichen Flugzeugabsturz ihren Namen. Was die Datschensiedlung Peredelkino angeht, so könnte man darüber natürlich einen eigenen Beitrag verfassen. Bei uns wurde die Siedlung vor allem durch den Vater von Dr. Schiwago bekannt, Boris Pasternak, Literatur-Nobelpreisträger von 1958, der hier gelebt hat und – unter Chruschtschow gedemütigt – gestorben und begraben ist, aber während der Perestroika in gewisser Weise wieder auferstehen konnte.

Die heutige Trasse der E30 umfährt in den meisten Fällen die hier genannten Ankerpunkte, viel früher verlief die Straße allerdings in Teilen ein wenig anders, und verlief direkt durch die genannten Orte. Das betrifft vor allem die Verbindung von Orscha über Smolensk bis Wjasma, wo die Straße südlich der heutigen Trasse und dann östlich von Gagarin, wo die „Neue Smolensker Straße“ nördlich der E30 verlaufen ist. Diese Bemerkungen sind nicht zuletzt für Schlachtenbummler der historischen Art von Bedeutung.

Zur Weiterfahrt von Brest nach Moskau knüpfen wir jetzt aber an den Schluss von Teil 2 an: Während die deutsche 45. Infanteriedivision (ID) noch hart damit beschäftigt ist, die Verteidiger der Festung Brest zur Strecke zu bringen, setzt die Panzergruppe 2 unter Generaloberst Guderian noch am ersten Tag des Angriffs über den Bug über und rollt bereits Tags darauf, am 23. Juni 1941, weiter gegen Osten.

Die bei Brest übriggebliebenen sowjetischen motorisierten und gepanzerten Verteidigungskräfte versammeln sich am Morgen dieses 23. Juni im Raum Kobryn – Zabinka an der Auto- bzw. Rollbahn Brest – Minsk (= E30) zum Gegenangriff, werden aber von Guderians Panzerkräften vernichtet oder zur Seite geschoben und was sich noch retten kann, flüchtet östlich Richtung Pinsk. Die 45. ID wird nach der Eroberung von Stadt und Festung Brest sofort ins Landesinnere in Marsch gesetzt. Sie bleibt dabei im Süden Weißrusslands und bewegt sich über Pinsk weiter durch die Pripjet (Prypjat) – Sümpfe, wo sie nicht nur gegen die sowjetischen Verteidiger, sondern auch gegen Scharen von Mücken kämpfen muss. Danach wird sie gegen Süden abgedreht und bei der Umschließung Kiews verwendet. Wir werden der 45. ID später noch einmal begegnen.

Hinter der 45. ID ziehen deutsche Sicherungsbataillone und Polizeiabteilungen in Brest ein. War schon die 45. bei der Erstürmung der Festung laut Augenzeugenberichten nicht „sauber“ geblieben, beginnen die Besatzungstruppen alsbald mit Massenerschießungen, vor allem von Juden, aber auch von sonstigen Zivilpersonen, teils gezielt, teils aus momentaner Willkür. Damit startet nicht nur der allgemeine Vernichtungskrieg der Deutschen gegen weite Teile der sowjetischen Bevölkerung, sondern auch eine Art Testlauf des Holocaust, nicht allein in Brest, sondern auf der gesamten Länge der Front, vom Baltikum über Weißrussland bis in die Ukraine. Diese ungeheure Tötungsenergie (Ralph Giordano)frisst sich auch entlang der Rollbahn Brest – Minsk – Moskau (der späteren E30) nach Osten. Wir wollen es hier mit diesem Hinweis belassen.

Im Ostfeldzug beginnt jetzt das große „Kesseltreiben“. Die deutsche Führung möchte mit einem Blitzkriegskonzept die Sowjetunion innerhalb weniger Wochen lahmlegen: Die vier deutschen Panzergruppen stoßen rasch nach vorne, schließen die sowjetischen Verbände in Zangenbewegungen ein und die nachrückende Infanterie räumt die so entstandenen Kessel aus. Dieses Konzept scheint großartig zu funktionieren. Mit jeder Einkesselung gehen mehrere hunderttausend sowjetische Soldaten in Gefangenschaft, zusätzlich fällt den Deutschen deren Ausrüstung in die Hände. Heeres-Generalstabschef Halder notiert bald in seinem Tagebuch, dass es nicht zu gewagt sei, zu behaupten, man habe den Feldzug gegen die Sowjetunion innerhalb von vierzehn Tagen gewonnen. Und auch viele aus dem Fußvolk Halders teilen diese Meinung.

Den ersten von den Deutschen anvisierte Kessel bildet der Frontvorsprung von Białystok und die östlich davon angesiedelte weißrussische Hauptstadt Minsk. Białystok liegt etwa nördlich von Brest und ist heute ein Teil Nordostpolens. Dort wölbt sich bis Juni 1941 sowjetisch kontrolliertes Gebiet weit in das von den Deutschen besetzte Polen hinein. In diesem Vorsprung stehen drei sowjetische Armeen und dahinter bei Minsk liegt eine weitere in Reserve. Die Panzerkräfte Guderians stoßen jetzt entlang der Rollbahn nach Minsk vor und schwenken dann in einem kurzen Bogen in den Raum Slonim, sowie in einem langen gegen Minsk. Aus dieser Richtung erscheinen gegengleich die Kräfte der deutschen Panzergruppe 3 unter Generaloberst Hoth am Schauplatz. Diese erreichen bereits am 27. Juni die weißrussische Hauptstadt. Am 28. können sie in die Stadt eindringen und sie in der Folge besetzen. Guderians langer Angriffskeil kommt südlich nicht so schnell durch und kann erst mit etwas Verspätung den Kessel um Minsk schließen. So entsteht ein Doppelkessel. Während dieser Operation wird in der Festung Brest noch gekämpft.

Hitler und der Führungsstab der Wehrmacht geben sich jetzt dem Augenschein hin, dass man auch Großstädte wie Minsk mit schnell vorstoßenden Panzerkeilen zu Fall bringen könne. Doch vor Ort zeigt sich bereits hier ein Grundproblem des deutschen Angriffs: der viel zu geringe Motorisierungsgrad des Heeres. So können kleinere Gruppen sowjetischer Soldaten, teilweise auch mit schwerem Gerät, durch Wälder und Wiesen aus dem keineswegs luftdicht abgeschlossenen Kessel entweichen. Die übrigen sowjetischen Kräfte in der Umklammerung wehren sich nach Leibeskräften, nicht zuletzt um die deutschen Truppen zu binden. Die Sowjets stürmen mit dem Mut der Verzweiflung gegen die feindlichen Linien, werden aber von dort reihenweise niedergemäht. „Der Boden ist zu tausenden mit Russen übersät“ schreibt ein deutscher Soldat nach Hause.

Dieser Doppelkessel ist bald erledigt. Die deutschen Panzerspitzen wenden sich gegen Smolensk (E30) und die Infanterie hastet hinten nach. Smolensk, das ist das innere Tor nach Osteuropa. Das innere Burgtor Moskaus. Seine dicken Mauern sprechen von der exponierten Lage der Stadt, die für die Russen zudem eine große symbolische Bedeutung hat. Dementsprechend ausgeprägt ist das Selbstverständnis der Verteidiger. Vor Smolensk haben schon Andere tiefe Fußspuren auf den Wegen der Geschichte hinterlassen. Doch die deutschen Angreifer nehmen sie nicht wahr.

Anfang des 17. Jahrhunderts, es ist die Zeit nach Iwan dem sog. Schrecklichen und Boris Godunow, brechen in Russland Thronwirren aus. Adel und Geistlichkeit Russlands matchen sich in wechselnden Koalitionen und Lagen mit dem polnisch-litauischem Doppelstaat sowie Schweden um die Krone in Moskau. Ihren Höhepunkt erreicht diese Geschichte in der Idee des schwedisch-stämmigen polnischen Königs Sigismund III., sich selbst die Moskauer Krone aufs Haupt zu setzen. Zur Durchsetzung seiner Ansprüche versucht er als erstes, Smolensk unter seine Kontrolle zu bringen. Das scheitert zunächst an der Hartnäckigkeit der Smolensker. Die Polen belagern jedoch die Stadt, während sie gleichzeitig gegen Moskau ziehen und sich dort im Kreml einrichten. Ein Volksaufstand, der bezeichnender Weise von einem Fleischermeister angezettelt wird, fegt schließlich die polnischen Usurpatoren aus Russland heraus, Smolensk fällt jedoch nach 20 Monaten Belagerung an Sigismund. Damit hält Polen den wichtigsten Zugang zu Moskau, seinen Einfluss auf den Moskauer Thron verliert es aber trotzdem. Diese Vorgänge sind für die Wahrnehmung der Historie durch Russland von zentraler Bedeutung.

200 Jahre später erscheint abermals jemand vor den verschlossenen Toren des nun wieder russischen Smolensk und begehrt Einlass. Es ist ein kleingewachsener Franzose mit seinen Freunden: Napoleon und das, was im allgemeinen Sprachgebrauch als Grande Armée daherkommt. Die Große Armee hat, als sie über Wilna (Vilnius) und Witebsk kommend bei Smolensk auf Moskau einschwenkt, bereits etliche Federn lassen müssen. Die ungewohnten Marschbedingungen in Russland haben die Truppen erheblich dezimiert. Ganz ohne Feindberührung beginnt schon jetzt das große Sterben. Napoleon ahnt bereits, dass es besser wäre, den Feldzug zu unterbrechen, doch er lässt sich von den Russen immer tiefer in seinen Untergang hineinziehen.

Im Sturmlauf versuchen die napoleonischen Angreifer Smolensk zu nehmen. Aber sie scheitern an den dicken Mauern der Stadt und ihren entschlossenen Verteidigern. Erst nachdem Napoleons Artillerie die Stadt in Brand geschossen hat, geben die Russen Smolensk auf und ziehen sich zurück. Das Feuer läuft wie ein Sturm durch die Stadt, die darin Eingeschlossenen werden zu unförmigen Klumpen verbrannt oder von der ungeheuren Hitze ausgeglüht. Nur die wenigen Steingebäude überstehen die Katastrophe. Für Napoleon ist das Ganze, das zweifelsohne eine apokalyptische Ästhetik entwickelt, ein „schönes Schauspiel“. Doch am nächsten Morgen ordnet er an, die überlebenden Russen entsprechend zu versorgen.

Smolensk ist nur das Vorspiel für den zentralen Höllenakt auf Napoleons Weg nach Moskau: Bei dem östlich von Gschazk (Gagarin) gelegenen Borodino (etwas nördlich der E30) stellt sich die russische Armee endlich der lang geforderten „Entscheidungsschlacht“. Die Schlacht wird zum größten Massaker, das je an einem einzigen Tag von statten gegangen ist. Erst im Ersten Weltkrieg wird es gelingen, diesen „Rekord“ einzustellen und zwar in den Kämpfen Deutschlands gegen Frankreich . Von der Theorie her hat Napoleon die Schlacht gewonnen, denn er hat die russischen Stellungen um zwei Kilometer Richtung Moskau verschieben können. In der Praxis ergibt sich aber eine Pattstellung und nachdem die Russen geordnet abziehen können, dürfen sie einen moralischen Sieg für sich verbuchen. Der russische Oberbefehlshaber Kutusov fällt nun gegen große Widerstände in den eigenen Reihen die beste und schwerste Entscheidung seines Lebens: Moskau aufzugeben und Napoleon sich darin verfangen zu lassen. Kutusovs Armee marschiert also nach Moskau hinein, um es umgehend am anderen Ende wieder zu verlassen und sich südlich davon in eine Warte- und Auffrischungsstellung zu begeben. Der Plan geht voll auf....

Im Juli 1941 wird also Smolensk von den Hausherrn nicht so mir nichts dir nichts der Wehrmacht überlassen werden. Die deutschen Angreifer müssen jetzt vollends in der Realität dieses Feldzugs ankommen: Die selben Soldaten, die zuvor noch meinten, dass „der Russe“ nicht lange durchhalten werde und der Krieg bald wieder zu Ende sei, liegen nun in ihren Erdlöchern und können nichts anderes tun, als dabei zuzusehen, wie die sowjetische Artillerie die Landschaft umpflügt, mitsamt ihren Kameraden.

Es sei die Hölle gewesen, schreibt ein Überlebender nach Hause. Und ein Anderer: ein Hexenkessel, aus dem er nur mit Glück entkommen sei. Die Kameraden seien grau geworden, das Lachen aus ihren Gesichtern verschwunden. Aus Wut und Frustration über die Situation, in die sie hier gebracht worden sind, schlachten sich deutsche und sowjetische Soldaten buchstäblich gegenseitig ab, wobei es die Sowjets mit dem Schlachten offenbar genauer nehmen. „Keine wesentlichen Neuigkeiten“, merkt Generalstabschef Halder in einer Niederschrift an. Smolensk fällt schließlich.

Hitler macht jetzt den „glücklichen Fehler“, dass er den Sturm auf Moskau unterbricht und die Schwerpunkte der Offensive nach Süden und Norden verlegt. Erst im Oktober kann der Angriff auf Moskau wieder aufgenommen werden. Angeblich der letzte Sturm, dann soll der Kampf vorüber sein. Inzwischen hat Generalstabschef Halder aber wieder etwas notiert: Der Koloss Russland sei von uns unterschätzt worden, schreibt er.

Auch wenn nun der Angriff auf Moskau furios beginnt: In Wirklichkeit ist man sich in der deutschen Führung nicht mehr so richtig darüber im Klaren, wie es weitergehen soll. Nach der für Deutschland im September erfolgreich geschlagenen Kesselschlacht von Kiew, setzen die deutschen Truppen die sowjetische Armee mit den Kesseln von Wjasma (E30) und Brjansk doppelt unter Druck. Wieder ziehen die Sowjets den kürzeren. Der Fall von Wjasma und die anschließende Verfolgung der sowjetischen Kräfte macht die Rollbahn von Smolensk nach Moskau praktisch frei. Allerdings ist diese durch die Kampfhandlungen schwer beschädigt.

Mit dem bald darauf hereinbrechenden Herbstwetter beginnt die gefürchtete Schlammperiode. Die Wege werden unpassierbar. Auch die Rollbahnen sind in Mitleidenschaft gezogen. Mühsam arbeiten sich die Deutschen meterweise voran. Dann setzt Frost ein. Dieser macht die Straßen wieder befahrbar, wird bald darauf aber so stark, dass er die Angreifer buchstäblich außer Gefecht setzt. Einige deutsche Spitzen erreichen gerade noch Moskau, doch dort ist ihre Offensivkraft endgültig verbraucht. Ein konzentrierter sowjetischer Gegenschlag schiebt die Angreifer aus dem Umfeld der sowjetischen Hauptstadt heraus. Moskau ist gerettet. „Es gibt keine Helden“, notiert ein deutscher Soldat, „nur Opfer“.

Diejenigen deutschen Kämpfer, die den Weg bis vor Moskau überlebt haben und dann den darauf folgenden, dem Zusammenbruch nahen Rückzug, sind jetzt durch die Erfahrungen derart gehärtet, dass sie durch nichts mehr so schnell zu erschüttern sind. Dies ist mit ein Grund, wieso sich die Sowjets, nach anfänglichen Erfolgen ihrer Gegenoffensive, schließlich festbeißen. Anfang 1942 brechen die sowjetischen Truppen südwestlich von Moskau, sowie südwestlich vom westlicheren Rshew, weit in die deutschen Linien ein. Dadurch entsteht dazwischen ein Frontvorsprung der deutschen Linien. In und vor diesem Vorsprung stehen drei deutsche Armeen. Nördlich bei Rshew ist diese Ausstülpung geschlossen, südlich bei Wjasma ist sie gegen die Rollbahn Smolensk – Moskau (E30) hin offen. Die Sowjets drücken dort nun von Norden und Südosten auf die Rollbahn, um so den Sack zuzumachen. Doch das gelingt nur ansatzweise. Dadurch entwickelt sich um diese Ausstülpung bei Rshew eine der blutigsten Schlachten des gesamten Krieges, die diesbezüglich mit Stalingrad mehr als mithalten kann. Über ein Jahr lang rennt ein ganzes Konglomerat von sowjetischen Armeen gegen die sich dort verteidigenden Deutschen an, ohne Erfolg. Fehlendes taktisches Vermögen versucht die sowjetische Kampfleitung durch den gnadenlosen Einsatz von Menschenleben zu ersetzten. Umsonst. Erst als die Deutschen aufgrund der allgemeinen Verschlechterung der Lage Anfang 1943 aus dem Frontvorsprung abziehen, können die Sowjets nachstoßen und auf der Verbindung Moskau – Smolensk weiter nach Westen rücken. Der Großraum Rshew bleibt als riesiges Leichenfeld zurück. Ein Unfriedhof, aus dem noch immer die Überreste der getöteten Soldaten beider Seiten geborgen werden, um sie in Gräber umzubetten. Manchmal liegen die sowjetischen Gefallenen unter den Feldern in bis zu sieben Schichten übereinander.

In dieser Rückzugssituation bekommen die Nazis die Gelegenheit, den fehlenden Erfolg am Schlachtfeld durch einen Propagandafeldzug wettzumachen. Nahe Smolensk, unweit der Rollbahn, stoßen die deutschen Truppen auf ein Massengrab. Nach eingehenden Untersuchungen stellt sich heraus, dass darin polnische Offiziere und Zivilpersonen verscharrt worden sind. Erschossen von den Häschern Stalins, nachdem die Sowjetunion 1939 den Osten Polens besetzt hatte. Wie man heute weiß, nur einer von mehreren Orten, wo derartiges passiert ist, aber der hiesige ist mit seinem Namen Katyn das Symbol dafür*. Reichspropagandaminister Goebbels erkennt sofort das Potential des Fundes und zieht die Sache international groß auf. Sein Ziel: durch Anprangerung des Massenmordes die gegen Deutschland gerichtete Kooperation des Westens mit der Sowjetunion zu zerstören. Obwohl die Glaubwürdigkeit der Sowjetunion massiv in Frage gestellt ist, hat es nur ansatzweise die Folgen, die sich Goebbels erhofft. Schließlich müssen die Deutschen die Bearbeitung des Fundes aufgeben. Sowjetische Panzer nähern sich unaufhaltsam.

Die Sowjets beginnen damit, die Deutschen langsam aber stetig von der Rollbahn Moskau – Smolensk – Orscha (E30) wegzuschieben. Das geschieht in den sog. „Rollbahn-“ oder „Autobahnschlachten“ vom Herbst 1943 bis zum Frühjahr 1944. Diese werden von der sowjetischen Führung in der üblichen Manier geführt: fehlende militärische Ideen, dafür umso größerer personeller Aufwand, sprich Verluste an Menschenleben. Im Frühjahr 44 stehen die sowjetischen Truppen schließlich östlich der Linie Witebsk – Orscha – Mogilew, d. h. etwa an der Ostgrenze Weißrusslands. Dort werden die sowjetischen Truppen neu gruppiert und trainiert sowie in einer Reihe von „Fronten“ zusammengefasst. Diese werden von Norden nach Süden gestaffelt für einen fundamentalen Angriff auf die deutschen Linien im Mittelabschnitt des Kriegsschauplatzes bereitgestellt. Die Operation trägt den Namen eines in der Schlacht von Borodino 1812 tödlich verwundeten Generals der Russen Bagration. Angriffstermin ist der 22. Juni 1944. Sozusagen die Jubiläumsfeier zum dritten Jahrestag des Überfalls Nazideutschlands.

Was jetzt folgt, ist die größte militärische Katastrophe der Wehrmacht. Eigenartigerweise ist der Vorgang aber nie wirklich im allgemeinen Bewusstsein der Deutschen und Österreicher angekommen. Innerhalb von drei bis vier Wochen durchquert die sowjetische Armee Weißrussland. Die Kräfte der Wehrmacht lösen sich dort binnen kurzem auf, ganze Divisionen der Deutschen verschwinden gleichsam über Nacht von der Landkarte. Auch die 45. ID, die in den Raum Bobruisk im Südosten Weißrusslands zurückgezogen wurde, wird vollständig vernichtet. Brest fällt am 28. Juli in die Hände der Sowjets. Nachdem die Operation Bagration heutigen polnischen Boden erreicht hat, muss die Kampagne zunächst gestoppt werden. Der Nachschub ist mit dem schnellen Vormarschtempo nicht mehr mitgekommen, nicht zuletzt, da die Infrastruktur in großem Ausmaß zerstört ist. Die Deutschen brechen auf ihrem Rückzug nicht nur alle Brücken hinter sich ab. Hitler und seine Generäle stehen vor dem Scherbenhaufen ihrer Selbstüberschätzung.

Wir drehen die Zeit ein wenig zurück:

Herbst 1812. Mit der Feststellung, er werde lieber mit dem geringsten seiner Bauern im hintersten Winkel Sibiriens Kartoffeln essen, als mit diesem Ungeheuer zu verhandeln, schlägt Zar Alexander die Verhandlungsangebote des in Moskau sitzenden Napoleon aus. Letzterer kann also nur mehr einpacken gehen und Moskau verlassen. Kaum biegen die napoleonischen Truppen wieder auf den Weg nach Smolensk ein, heften sich verschiedene russische Korps an deren Fersen. Russlands Oberbefehlshaber Kutusow scheut sich aber, Napoleon direkt herauszufordern und lässt dessen Armee ziehen, in der Hoffnung, dass weiter westwärts eine Falle zuschnappen werde. Fast wäre es dazu gekommen.

Die Rückkehr der napoleonischen Invasionsarmee nach Hause entwickelt sich bald zu einem veritablen Chaos. Das hat einerseits mit mangelnder Vorbereitung und Ausrüstung zu tun, andererseits mit fehlenden Versorgungsmöglichkeiten, sowie mit der Masse an Menschen, die sich über einen sehr begrenzten, engen Raum, nämlich diese eine Straße von Moskau nach Smolensk vorwärts bewegt. Der Armee hat sich noch eine unüberschaubare Menge an Zivilisten angeschlossen, die nun gemeinsam westwärts ziehen, in einem langen Zug, der sich über eine Ausdehnung von mehreren dutzend Kilometern erstreckt. Das bedeutet, dass die Marschbedingungen mitunter sehr verschieden sind. Wer an der Spitze des Trosses geht, kommt gut voran, wer hinten mitzieht, ist oft den fürchterlichsten Bedingungen ausgesetzt. Außerdem steigen die Überlebenschancen des oder der Einzelnen stark an, wenn er/sie in einer Gruppe kooperativ zusammenarbeitet. Wer dagegen nur auf seinen Eigennutz sieht, für den ist zumeist früher oder später Endstation.

Während die ersten Tage des Rückzugs noch einigermaßen tragbar erscheinen, ändert sich das Anfang November schlagartig, als Frost und Schneefall einsetzen. Darauf ist man so wenig eingestellt, dass viele Soldaten gleich in der ersten winterlichen Nacht im Schlaf erfrieren. Als die Offiziere am nächsten Morgen ihre Mannschaften wecken wollen, stellen sie mit Entsetzen fest, dass viele in die ewige Ruhe übergegangen sind.

Der Weg der napoleonischen Armee steigert sich nun zu einem unvorstellbaren Elend, das nur durch die Hoffnung ertragen wird, dass es weiter westwärts irgendwie besser werden würde. Trotz dieser fürchterlichen Bedingungen entwickeln die Soldaten Napoleons aber, wenn sie von den Russen angegriffen werden, eine kaum zu glaubende Kampfkraft. Nach ersten Gefechten östlich von Wjasma errichten die Russen schließlich westlich von Smolensk Straßensperren und positionieren sich gleichzeitig südlich der Sperren im Gelände. Napoleon und die ihm folgenden Truppen kämpfen sich unter großen Opfern und mit einer Portion Kriegslist an den Russen vorbei. Doch der Kaiser der Franzosen zahlt dafür einen Preis, nämlich den, seine Nachhut aufzugeben. Diese wird von Marschall Ney geführt und besteht beim Abmarsch aus Smolensk aus noch etwa sechstausend Mann. Ney gilt als besonders tapferer Kämpfer. Als er aber erkennt, dass er mit seinem Korps, von allen verlassen, in der Falle sitzt, entlockt ihm das nicht nur ein populäres Wort aus der Fäkalsprache: Seine Wut macht sich in lautstarken Beschimpfungen Napoleons Luft. Doch der kann das zum Glück nicht hören. Dann stellt sich Ney dem Kampf. Mit ungeheurer Zähigkeit versuchen die Regimenter Neys durchzubrechen, die Russen aber mähen eine anstürmende Reihe nach der anderen nieder. Die einbrechende Nacht beendet vorerst die Kämpfe. Es scheint aber nur mehr eine Frage der Zeit, bis der Rest von Neys Korps in die Hände der Russen fällt.

Ney gibt sich aber noch nicht geschlagen. Während er vortäuscht, ein Biwak aufzuschlagen, setzt er sich mit seinen Mannen langsam Richtung Norden ab, um dort den Fluss Dnjepr zu überschreiten. Der Dnjepr ist zugefroren. Das Eis trägt zunächst, bricht aber schließlich unter der anhaltenden Belastung des darüber ziehenden Korps ein. Etliche Unglückliche versinken im Wasser, ohne dass ihnen die Kameraden helfen können. Der Großteil des Korps gelangt dennoch ans andere Ufer. Von dort zieht man in westlicher Richtung weiter nach Orscha, wo Napoleon und die anderen verzweifelt auf Ney hoffen. Neys Zug bewegt sich jetzt genau durch das Gebiet, durch das viel später die E30 verlaufen wird. Eine nördlich davon stehende russische Armee entdeckt ihn und verfolgt ihn durch dichten Wald. Dieser erschwert allerdings auch den Angriff auf die Flüchtenden. Etwa noch eintausend von Neys Mannen entkommen völlig erschöpft nach Orscha.

Napoleon ahnt, dass er mit dem Erreichen Orschas der Falle noch nicht entkommen ist. Er interpretiert den bisher ausgebliebenen Generalangriff Kutusows auf seine Armee damit, dass er zunächst durch den langen Rückzug so sehr geschwächt werden sollte, dass er dann im finalen Kampf umso leichter zur Strecke gebracht werden kann. Dieser finale Kampf wird sich im Bereich der letzten und größten Hürde abspielen, die seine zusammengeschmolzene Große Armee zu nehmen hat: dem Fluss Beresina. Die Beresina teilt Weißrussland gleichsam in einen Ost- und einen Westteil. Im Raum der Beresina operieren nun Reservearmeen bzw. Korps sowohl der Russen als auch Napoleons. Napoleon ist sich aber der Gesamtlage nicht bewusst. So läuft er nach seinem Aufbruch nach Borisow (Barysau E30) direkt in die Falle. Von allen Seiten bewegen sich russische Armeen auf ihn zu. Eigentlich eine ausgemachte Sache für die Hausherren. Doch die Falle schnappt nicht zu. Die Eigenmächtigkeit eines russischen Kommandeurs und die Fehleinschätzung eines anderen öffnen Napoleon doch noch ein Fenster.

Nachdem die Russen in Borisow die Brücke über die Beresina zerstört haben, muss Napoleon umdisponieren. Der dort geplante Übergang über die Beresina fällt ins Wasser, die Lage ist damit für Napoleon eigentlich hoffnungslos. Doch er erkennt seine letzte Chance. Er hängt die russischen Armeen ab und weicht an eine seichtere Stelle des Flusses 12 km nördlich von Borisow aus, wo er von seinen Spezialisten zwei Brücken bauen lässt. Über die ziehen, schieben und drängen sich nun die Reste der verschiedenen Korps der einstigen Grande Armée. Das geht mit etlichen Opfern einher, aber immerhin nimmt man auf der gegenüberliegenden Seite einigermaßen geordnet Aufstellung.

Hinter den Kampfverbänden dürfen die Nachzügler und Zivilisten die Brücken passieren. Doch nur die wenigsten nehmen das Angebot auch in Anspruch. Da inzwischen die Nachhut ihrer Armee eingetroffen ist, die die Ostseite der Brücken absichern soll, entschließen sich die Meisten die Nacht am Ostufer der Beresina zu verbringen – ein verhängnisvoller Fehler. Am nächsten Morgen erscheinen zu beiden Seiten des Flusses russische Armeen und greifen die dort lagernden napoleonischen Truppen frontal an. Doch Napoleons Soldaten verbeißen sich in den Gegner. Obwohl eine ihrer Einheiten nach der anderen aufgerieben wird, weichen sie nicht zurück. Der Schnee färbt sich rot, rot, blutrot. Aber sie halten ihre Stellungen. Am Abend müssen die Russen den Kampf aufgeben. Sie sind keinen Zentimeter vorwärts gekommen, haben aber selbst immense Verluste davongetragen.

Hinter diesen Kämpfen spielt sich am Ostufer noch ein weiteres Drama ab. Die Russen schießen mit ihrer Artillerie direkt in das ufernahe Gebiet, wo die Nachzügler und Zivilisten lagern. Daraus entsteht eine Massenpanik, in der alle gleichzeitig versuchen, durch das Nadelöhr der einzigen Fluchtmöglichkeit zu entkommen: den beiden Brücken. Doch eher geht ein Kamel durch ein Nadelöhr! Wer nicht von den russischen Geschoßen zerfetzt wird, wird von der Menge niedergetrampelt oder unrettbar ins eisige Wasser gestoßen. Die wenigsten kommen durch. Die Geschehnisse an der Beresina sind zweifelsohne ein Sieg Napoleons – und eine der größten Tragödien der Menschheitsgeschichte.

Napoleon entschließt sich nun, seinen ursprünglichen Plan aufzugeben, nach Minsk zu ziehen und steuert wieder Wilna an, von wo der Feldzug seinen Ausgang genommen hat. Damit entfernt er sich mit seiner Armee aus dem Gebiet, durch das später die E30 verlaufen wird und wir verlieren ihn damit aus den Augen. Es sei noch dazu gesagt, dass die härtesten Tage des Rückzugs noch bevorstehen. Die Temperaturen werden ins Bodenlose fallen und die kümmerlichen Reste der Grande Armée sich langsam aber sicher auflösen. Allerdings sind auch die Russen von den Vorkommnissen derart geschwächt, dass sie nur mehr erschöpft nachhinken werden, ohne das Potential zu haben, nochmals konzentriert anzugreifen.

Nur rund hundertdreißig Jahre später ziehen wieder Invasoren auf der beschriebenen Strecke nach Moskau und werden genauso wieder zurückgedrängt wie Napoleons Armee. Napoleons Feldzug gegen Russland war eine Art europäisches Projekt: Soldaten aus fast aller Herren Länder des Kontinents zogen für ihn in diesen Krieg. Portugiesen, Spanier, Italiener, Holländer, Belgier Schweizer, Kroaten, Österreicher, und vor allem Deutsche und Polen stellten neben den Franzosen selbst die wichtigsten Kontingente. An der Beresina kämpften neben einer französischen Einheit vor allem Polen, Holländer, Schweizer und Deutsche. Diese Illusion einer europäischen Erhebung gegen Russland hat Hitler propagandistisch wiederzubeleben versucht, als „Europäischen Kreuzzug gegen den Bolschewismus“. Tatsächlich hatte er eine Menge Verbündete, Freiwillige und Kollaborateure an seiner Seite. Ein Drittel der während des Ostfeldzug eingesetzten Uniformierten waren Nicht-Deutsche. Obwohl diese Idee der europäischen Erhebung gegen Moskau kolossal gescheitert ist, hat sie den Untergang des Nazi-Reiches in Nischen überstanden. Letztendlich hat sich diese Idee aber immer gegen ihre Propagandisten selbst gerichtet. 1944/45 bedeutete das, dass der Hauptvorstoß der Sowjetarmee nach dem Fall Warschaus von dort im Großraum der Verbindungsstraße nach Berlin verlief, also der späteren E30, auf der die Sowjets eine große Flüchtlingswelle vor sich herschoben. Zuerst fiel Posen, dann wurde – als Teil der im Oderbruch stattfindenden letzten großen Durchbruchsschlacht – Frankfurt an der Oder zerstört und schließlich ging Berlin unter. Wie immer hat sich Macht- und Gewaltanspruch als völlig banal und für sich belanglos erwiesen.

Die E30 ist also eine Straße, die West und Ost und Ost und West miteinander verbindet. Sie ist ein Ort, auf dem mit blutiger Tinte „große“ Geschichte geschrieben wurde und auf dem gleichzeitig versucht worden ist, aus dieser Art von Geschichtsschreibung zu lernen. Und sie ist ein Denkmal. Ein Denkmal für Hybris und Dummheit in der Geschichte. Eine entsprechende Gedenktafel wurde, soweit bekannt, noch nicht angebracht. Aber das kann ja noch werden.

Damit endet diese Reise über die Europastraße 30.

* Die im deutschsprachigen Raum im allgemeinen Bewusstsein gut verankerte Wahrnehmung von Katyn macht insofern Sinn, als dass es einer der Orte und Linien ist, an denen entlang das polnisch – russische Verhältnis „verhandelt“ wird, was zweifelsohne europäische Relevanz besitzt. Andererseits ist diese einseitige Wahrnehmung aber auch ein Indiz dafür, wie sehr unsere Sicht auf den Ostfeldzug immer noch entlang der Vorgaben der Nazi-Propaganda verläuft: Gedenkorte für die Opfer deutscher Gräueltaten sind hierzulande praktisch unbekannt geblieben und außer Eingeweihten und einigen Touristen kaum ein Begriff geworden. Siehe dazu etwa den Beitrag in der Zeitschrift Ost-West Europäische Perspektiven:

https://www.owep.de/artikel/275/katyn-und-chatyn-fragen-an-gesellschaftliche-bedeutung-von-erinnerung

Eine Gedenkstätte ganz anderer Art ist einer der wichtigsten deutschen Soldatenfriedhöfe im Osten, der vor ein paar Jahren vom Volksbund Deutsche Kriegsgräberfürsorge in Duchowschtschina angelegt wurde. Duchowschtschina liegt im Smolensker Gebiet im Raum Jarcewo (E30), einige Kilometer nördlich der E30. Zu diesem und zu anderen deutschen Soldatenfriedhöfen, z.B. in Rshew, gibt es Informationen beim Volksbund:

http://www.volksbund.de/kriegsgraeberstaetten.html

Dieser Beitrag wurde zuvor auf dem Blog https://mittelundosteuropa.wordpress.com/ veröffentlicht.

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Geschrieben von

Michael Schütz

Unabhängiger Historiker

Michael Schütz

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