Brücken und Gräben (Teil 1)

E30 Was verbindet Ost und West miteinander? Die Europastraße, zum Beispiel. Ein Verbundstoff aus Teer und Geschichte

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E30 ist kein Lebensmittelzusatzstoff aus gemahlenen Waldläusen, sondern ein wirklich den Kontinent verbindendes Projekt, das aber in seiner Vorgeschichte öfters dazu benutzt wurde, um zu trennen: die europäische Fernstraße oder offiziell – die Europastraße 30.

Beide Begriffe – Brücken wie Gräben – sind symbolisch zu verstehen: Brücken meinen Menschen, Institutionen und Geschehnisse etc., die Ost und West miteinander verbinden, Gräben dagegen jene Größen, die den Kontinent Europa entzweien.

Wir werden unregelmäßig entsprechende Beispiele vorstellen. Manchmal können Brücken zugleich auch Gräben sein und aus Gräben Brücken werden. Zu Beginn besehen wir dazu ein allzu profanes Beispiel, das es aber in sich hat: die E30 .

Der Kontinent wird von einer Vielzahl von internationalen Straßenverbindungen durchzogen, die die Staaten Europas von Nord nach Süd und von Ost nach West miteinander verbinden. Manche verlaufen nur durch zwei oder drei Länder, andere queren tatsächlich den ganzen Kontinent. Auf größeren Straßenbeschilderungen auf solchen Routen kann man dazu ein kleines grünes Rechteck mit der entsprechenden E-Kennzeichnung erkennen.

Eine der interessantesten Verbindungen dieser Art ist die durch sieben Staaten verlaufende E30, die sich von Cork im südlichen Irland bis nach Moskau und dann in ihrer Verlängerung bis ins sibirische Omsk zieht. Von dort führen weitere Trassen nach Wladiwostok, sodass die E30 Teil einer interkontinentalen, europäisch-asiatischen Straßenverbindung mit einer Länge von über 12000 km ist. Auf und entlang der E30, bzw. ihrer Vorläufertrasse in Mittel- und Osteuropa spielen einige der zentralsten Bestandteile europäischer Geschichte. Vor allem auf diese Teile werden wir hier einen Blick werfen.

Die E30 beginnt also im südlichen Irland, in Cork, führt dort die Südküste entlang und dann, über das für sein Opernfestival bekannte Wexford an der Ostküste, bis nach Rosslare Harbour.

Dort begibt sich die oder der E30-Reisende auf eine Fähre, die den St. Georgs Kanal, d.h. die Meeresstraße zwischen Irland und Wales überquert und dort in einem kleinen Hafen namens Fishguard anlegt. Das Städtchen Fishguard hat es zu dezenter Berühmtheit gebracht: Dort setzte zum letzten Mal in der Geschichte eine feindliche Truppe ihren Fuß auf die Britischen Inseln. Um es gleich vorwegzunehmen: die Invasion war nicht erfolgreich!

Das kam so: Acht Jahre nach der Französischen Revolution landeten französische Truppen nahe Fishguard, mit dem Ziel das britische Proletariat für einen republikanischen Aufstand zu gewinnen. Kaum an Land gegangen, machten sich die Franzosen über sämtliche Alkoholika der Gegend her, was ihre Kampfmoral nicht beförderte. Nun rotteten sich die Frauen von Fishguard zusammen, warfen sich in ihren Sonntagsstaat und zogen mit Mistgabeln bewaffnet gegen die französischen Eindringlinge zu Felde. Die angeheiterten Invasoren glaubten, es mit einer in Überzahl befindlichen Armee zu tun zu haben und streckten die Waffen.

So oder so ähnlich mag es wohl gewesen sein...

In Wirklichkeit waren die Verhältnisse etwas komplexer und auch ernster, im Verlauf der Handlung waren eine Handvoll Tote zu beklagen, aber die oben erzählte Version hat durchaus einen wahren Kern:

Zum einen ließen die Disziplin, wie auch die Kampfesfreude der französischen Invasoren sehr rasch nach, es kam zu schweren Plünderungen mit Tätlichkeiten gegen die Zivilbevölkerung, zum anderen wurden die anrückenden britischen Truppen durch freiwillige Zivilisten verstärkt, auch wenn letztere nicht viel mehr als diverses bäuerliches Gerät als Waffen mitbringen konnten.

Viele dieser Freiwilligen waren offenbar Frauen und die Episode mit der ins Feld ziehenden Damenarmee, die zum Standartrepertoire der Fishguarder Heldengeschichten zählt, hält man nicht für völlig ausgeschlossen. Tatsächlich wird bis heute einer dieser Frauen besonders gedacht, der Schusterin Jemima Nicholas, die es geschafft haben soll, alleine, nur mit einer Mistgabel bewaffnet, ein ganzes Dutzend Franzosen matt zu setzten und in die Gefangenschaft abzuführen.

Wir fahren weiter:

Von Fishguard führt die E30 Richtung Swansea, über Newport nach Bristol und schließlich nach London. In London knickt sie nach Nordosten ab und erreicht bei Ipswich die britische Ostküste. In Ipswich geboren, das sei hier am Rande einer der wichtigsten Straßenverbindungen der Welt doch erwähnt, wurde jener Mann, der spezielle Straßen und das Befahren von diesen mit sehr, sehr schnellen Autos zu seinem Lebensinhalt gemacht hat: Formel1 Chef Bernie Eccelstone. Im vor Ipswich liegenden Hafen Felixstowe wartet wieder eine Fähre zur Überfahrt.

Diese Fähre landet in Hoek van Holland, einem Rotterdam vorgelagerten Fährhafen und eigentlich auch Badeort an der Mündung eines ausgebauten Rheinarms, auf dessen gegenüberliegenden Seite sich der Europort Rotterdamm befindet. Von Hoek geht es über Utrecht und Apeldoorn nach Hengelo. Hinter Hengelo erreicht die E30 die holländisch-deutsche Grenze.

Hier kommen zwei Dinge zusammen: eine Staatsgrenze und die wichtigste West-Ost Straßenverbindung des Kontinents. Diese Kombination führt zu einer erheblichen Konzentration von Handlungen, die man allgemein als nicht gesetzeskonform beschreiben kann. Das hält die Polizeikräfte beider Länder auf Trab. Angeblich wird der nun folgende deutsche Teil der E30 im internen Polizeisprech auch „Warschauer Allee“ genannt. Das ist ein deutlicher Hinweis auf die Streckenführung und so manches andere auch. Die wesentlichen Probleme, mit der sich hier niederländische und deutsche Sicherheitskräfte konfrontiert sehen, sind Schmuggel von Menschen, Rauschgift und Betäubungsmitteln, das Verbringen illegalen Abfalls sowie das Verschieben von gestohlenen Fahrzeugen. Es gibt glaubhafte Erzählungen, dass schon mancher bestohlene Fahrzeughalter sein entführtes Gefährt beim Kurz-Städte-Urlaub im Osten wiederentdeckt hat.

Daumengepeilte 80 Straßenkilometer nach der holländischen Grenze erreicht die E30 eine größere Stadt, an der wir auf unserer Expedition keineswegs achtlos vorbeifahren sollten: Osnabrück, genauer: die Friedensstadt Osnabrück. Dieser Zusatz Friedensstadt soll hier besonders betont werden, angesichts der Dinge, die uns dann weiter östlich erwarten. Die Friedensstadt Osnabrück ist auf besondere Weise mit diesen historischen Geschehnissen verbunden, nämlich, durch die transkontinentale Straßenverbindung E30.

Friedensstadt wurde Osnabrück einerseits dadurch, dass es neben dem nicht weit entfernten Münster Verhandlungsort des Westfälischen Friedens war, der 1648 den 30-jährigen Krieg beendete und andererseits dadurch, dass man sich sehr, sehr viel später, nach zwei Weltkriegen, auch der Verantwortung und des Auftrags aus dieser historischen Bedeutung bewusst wurde. Wer sich seiner Vergangenheit nicht bewusst ist, wird auch kaum Zukunft haben und zumindest in Osnabrück, wie auch Münster hat man diesen Zusammenhang verstanden. Diesen Gedanken allerdings mit der E30 in Verbindung zu bringen, wäre noch eine Idee!

Der Westfälische Friede, der im Rathaus von Münster unterschrieben und am nächsten Tag auch von der Vortreppe des Osnabrücker Rathauses aus verkündet wurde, war zunächst eigentlich mehr ein Waffenstillstandsvertrag, der erst durch festzulegende Durchführungsbestimmungen in die Realität eines Friedensvertrages umgesetzt werden musste. Die Verhandlungen dazu begannen im Jahr darauf in Nürnberg und endeten 1650 mit dem Nürnberger Friedensexekutionshauptrezess. Zur Unterfütterung dieser Verhandlungen wurde im Nürnberger Rathaus ein großes Friedensmahl abgehalten. Frieden schaffen kann also ziemlich delikat und köstlich sein!

Beide Verträge zusammen wurden nicht nur zu einem Reichsgrundgesetz, sondern bilden so etwas wie ein erstes Völkerrecht, das nationalem Recht übergeordnet gewesen ist und das einen neuen Gedanken entwickelt hat, nämlich den einer europäischen Idee. In Zeiten wie diesen sollte man wieder mal daran erinnern!

Wesentlich später schaffte es das historische Schicksal, einen Jungen namens Erich Paul Remark in Osnabrück zur Welt zu bringen und dort aufwachsen zu lassen. Als Erich Maria Remarque landete dieser mit seinem erstmals 1928 erschienen Antikriegsroman Im Westen nichts Neues einen Welterfolg. Die Nazis waren allerdings vom Wirken Remarques so sehr nicht angetan, dass der Schriftsteller ins Exil ging. Dafür musste seine jüngere Schwester im wahrsten Sinne des Wortes Blutrichter Freisler ihren Kopf hinhalten.* Nach dem Krieg lebte Remarque, der den Frieden und die Frauen liebte, im Tessin. Begraben ist er am Friedhof von Ronco sopra Ascona.

Im Westen gibt es also nichts Neues. Und im Osten?

Fortsetzung folgt.

* Remarques jüngere Schwester Elfriede Scholz, geborene Remark, ließ sich als Schneiderin in Dresden nieder, wo sie später in zweiter Ehe den Musiker Heinz Scholz heiratete. Sie war, wie ihr Bruder, zu dem sie allerdings jeden Kontakt verloren hatte, Gegnerin des Nationalsozialismus. 1943, nach der angeblich „Wehrkraft zersetzenden“ Äußerung, dass der Krieg nicht mehr zu gewinnen sei, wurde sie von ihrer Umgebung denunziert und vom Vorsitzenden des Volksgerichtshofs Freisler zum Tod durch das Fallbeil verurteilt. Dass der Hass der Nazis auf ihren Bruder bei der Urteilsfindung eine Rolle gespielt haben könnte, ist nicht unwahrscheinlich. Freisler selbst soll, laut einer Zuhörerin des Prozesses, während der Verhandlung eine entsprechende Anspielung gemacht haben. Das Urteil wurde am 16. Dezember 1943 in Berlin-Plötzensee vollstreckt.

Dieser Beitrag wurde zuvor auf dem Blog https://mittelundosteuropa.wordpress.com/ veröffentlicht.

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Geschrieben von

Michael Schütz

Unabhängiger Historiker

Michael Schütz

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