Chelm

Wer ist da verrückt ? Das Städtchen Chelm kann uns einiges über Dummheit, Gescheitheit, kulturelle Verbundenheit und Abstoßung erzählen.

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Die Einwohner von Chelm sind in zwei Lager gespalten: Leidenschaftlich streiten sie über die Frage, ob die Sonne oder der Mond wichtiger für die Welt ist. Nachdem die Querelen kein Ende nehmen, treten die Weisen der Stadt zusammen, um den Streit zu schlichten. Nach eingehender Überlegung verkünden sie einen Schiedsspruch, der alle überzeugt: „Klarerweise ist der Mond für die Welt wichtiger. Denn er scheint in der Nacht, wenn wir ohne sein Licht nichts sehen könnten. Aber die Sonne scheint am Tag, wo wir sie gar nicht brauchen, weil es ohnehin hell ist.“

Diese kleine humoristische Geschichte eignet sich gut dazu, die Durchdringung wie auch die Abstoßung der in Mittel- und Osteuropa lebenden Kulturen kennenzulernen. Nicht ganz zufällig erinnert die Erzählung an die, der deutschsprachigen Kultur vertrauten Schildbürger und an ähnliche, einfältige Genossen in zahlreichen anderen Ländern Europas wie z.B. den Bewohner von Gotham in der britischen Folklore. Die Variante der Weisen von Chelm entstammt allerdings aus einer untergegangenen Kultur, nämlich der jüdischen, bzw. der jiddischen Sprachkultur in Mittel- und Osteuropa. Sie lebt aber als fester Bestandteil im jüdischen Erinnerungsraum weiter. Gewissermaßen lässt sich also sagen, dass das einzig wirklich Völkerverbindende die Dummheit ist. Allerdings ist sie auch das, was die Völker voneinander trennt.

Tatsächlich sind diese Art Geschichten und ihre unverbesserlichen Protagonisten aus dem deutschen Sprachraum in die jüdische und zugleich jiddische Kultur eingewandert. 1597 erschien in deutschen Landen erstmals eine Ausgabe von Schildbürgererzählungen. Diese Geschichten wurden auch von der jüdischen Bevölkerung aufgenommen, verbreiteten sich sodann in der mündlichen Überlieferung und wurden schließlich in die mittel- und osteuropäische jiddische Folklore eingemeindet. Nach einiger Zeit lösten sie sich zunehmend von den Bewohnern von Schilda und begannen eine eigenständige Tradition, die zunächst in verschiedenen realen polnisch Städten mit jüdischer Bevölkerung angesiedelt war. Es gibt Hinweise, dass dieser Vorgang auch damit zusammenhing, dass die Strömung des aufgeklärten, progressiven Judentums mit der Ansiedlung dieser Geschichten in der jüdischen Kultur Mittel- und Osteuropas die alten, überkommenen Strukturen des dortigen jüdischen Lebens als überholt brandmarken wollte. Im Laufe des 19. Jahrhunderts setzte sich schließlich das in Ostpolen gelegene Chelm als Zentrum der Narrengeschichten durch. Gleichwohl ist das Städtchen der Weisen von Chelm ein fiktiver Ort im Universum des Ostjudentums.

Wieso diese Geschichten gerade in Chelm angesiedelt wurden, ist unklar. Manche meinen, dass es sich dabei möglicherweise um eine Rivalität zwischen verschiedenen Städten gehandelt habe. Nach anderer Meinung repräsentierte Chelm aber auch einfach einen so ganz normalen, unauffälligen Allerweltsort in der Provinz, dass er gerade deshalb als Namensgeber in Frage kam.

Auffallend ist aber, dass das etwa 70 km östlich von Lublin gelegene reale Chelm eher das Gegenteil eines Narrenstädtchens darstellte und allgemein betrachtet, auch nicht eine so ganz normale Provinzstadt war. Juden siedelten sich bereits im 13. Jahrhundert in Chelm an und stellten schließlich zumindest die Hälfte der Stadtbevölkerung. Das Chelmer Judentum war einerseits für seine Thora-Gelehrten bekannt, andererseits war es erfolgreicher Teil des Bürgertums der Stadt, in der mehrere Konfessionen und Kulturen zusammenlebten und arbeiteten. Chelm war Sitz eines griechisch-orthodoxen, später mit Rom unierten Bischofs und nach der Einverleibung der Stadt durch Polen auch Sitz eines katholischen Bischofs. Später kamen noch Protestanten und russisch-orthodoxe Gläubige dazu. In der Stadt wurden Polnisch, Russisch, Jiddisch sowie weitere Sprachen gesprochen.

Die Bedeutung der Stadt ergab sich einerseits aus ihre Lage an einem wichtigen Handelsweg, bzw. an der Grenze zwischen östlichen und westlichen Slawentum und andererseits aus ihrem Hauptwirtschaftszweig. Der bestand darin, dass man Stollen unter der Stadt ausgrub und das dabei gewonnene Material in alle Himmelsrichtungen verkaufte: Chelm liegt auf einem Kalkstock, aus dem sich eine qualitativ hochwertige Kreide gewinnen ließ, die weithin geschätzt wurde. Der Kreideabbau begann bereits im Mittelalter und ließ im Laufe der Jahrhunderte ein weitverzweigtes, mehrgeschossiges Netz an Stollen und Hallen entstehen, die in Kriegszeiten auch als Schutzorte für die einheimische Bevölkerung genutzt wurden. Im 19. Jahrhundert war schließlich der Untergrund Chelms dermaßen ausgehöhlt, dass die Stadt langsam einzustürzen drohte. Es ergab sich also die paradoxe Situation, dass sich die Chelmer mit ihrem Erfolg zwar nicht das eigene Wasser, aber doch ihre Zukunft abgruben. Daher wurde der Kreideabbau eingestellt und in den 60er Jahren des 20. Jahrhunderts begann man damit, die Stollen wieder zuzuschütten und aufzufüllen. Ein etwa zwei Kilometer langer Stollenkomplex wurde verstärkt und als Museum eingerichtet. Die Besucher können unter der Altstadt in ein Stollensystem einsteigen und sich mit der Geschichte und Geologie des Bergbaus in Chelm und archäologischen Exponaten vertraut machen. Wer Glück hat, trifft während der Wanderung durch das geheimnisvolle Labyrinth auf den Geist Bieluch, der die Stollen beschützt und angeblich guten Menschen ihre heimlichsten Wünsche erfüllt.

Leider war den Bewohner Chelms nicht immer ein solch guter Geist gewogen. Ab der Mitte des 17. Jahrhunderts geriet Chelm in die Auseinandersetzungen zwischen Polen, Russland, Schweden und anderen Kräften, sodass die Stadt schlimmsten Bedrängnissen ausgesetzt war. Das betraf gerade auch ihre jüdischen Bewohner. Nach den polnischen Teilungen kam Chelm zuerst unter österreichische und dann unter russische Herrschaft. Spätestens da begann das multikulturelle Universum von Chelm zu bröckeln. Doch erst im Zweiten Weltkrieg ging das alte historische Chelm wirklich unter. Die Ermordung fast der gesamten jüdischen Bevölkerung durch die Nationalsozialisten sowie die Folgen des Krieges vernichteten das kulturell vielschichtige Gemeinwesen und veränderten unwiederbringlich den Charakter der Stadt.

Heutzutage versucht die polnische Non-Profit Organisation „Forum Dialog“ nicht nur in Chelm, sondern landesweit durch Veranstaltungen, Information und in Workshops mit Schülern, die Bevölkerung wieder mit dem jüdischen Teil der regionalen Geschichte vertraut zu machen, was vielfach den Blick der jungen Polen auf ihre eigene Welt verändert.

Trotz des Untergangs des alten Chelms und der jüdischen Kultur, samt ihrer jiddischen Geschichten in Mittel- und Osteuropa haben die „Weisen von Chelm“ in der jüdischen Tradition überlebt. Einige Schriftsteller wie Literaturnobelpreisträger Isaac B. Singer griffen die Chelmer Narrengeschichten auf und erzählten sie neu. Auf diese Weise kamen die Geschichten der Chelmer Weisen wieder zurück nach Deutschland, von wo sie ausgegangen waren und Kenner der Weltliteratur rund um den Globus dürfen auch heute noch über die einfältigen Chelmer Weisen lachen und damit über eine sehr menschliche wie allgemeingültige Seite unserer Spezies.

Der Chelmer Bürger Finkelstein liest im Talmud, dass Gott die Dummen schützt. Finkelstein gefällt das. Schließlich sagen alle Leute, er sei ein Esel. Jetzt will er gleich feststellen, ob das wahr ist und springt daher aus dem Fenster. Finkelstein schlägt hart am Boden auf und bricht sich etliche Knochen. Er schreit so laut vor Schmerzen, das die Leute zusammengelaufen kommen. „Was ist den los“, fragen sie schockiert? „Oh“, stöhnt Finkelstein, „ich wusste, dass ich nicht dumm bin. Aber dass ich so gescheit bin, das habe ich doch nicht gewusst!“

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Geschrieben von

Michael Schütz

Unabhängiger Historiker

Michael Schütz

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