Corona, Demokratie und Demo-Strategie

Basics Demokratie und was hat die Corona-Kritik mit ihr zu tun?

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Angesichts aktueller Ereignisse auf den Berliner Straßen in Bezug auf die sog. Coronakrise denken wir hier ein bisschen über den Begriff „Demokratie“ nach. Es soll ja Leute geben, die behaupten, angesichts der Maßnahmen der deutschen Bundesregierung gegen Covid 19 auf der Straße mittels Demonstrationen Demokratie und Freiheit verteidigen zu müssen und daher muss die Frage gestellt werden: Tun sie denn das tatsächlich? Dieser Frage versuchen wir hier nachzugehen.

Dazu muss man sich erst einmal fragen: Was ist eigentlich Demokratie? Das Kapitel „Freiheit“ lassen wir hier außen vor, sonst würde der Artikel zu lange werden. Demokratie ist vieles, sie hat aber ein paar sehr simple Grundzüge und an die werden wir uns hier halten. Was also ist Demokratie:

Demokratie hat zunächst eine Voraussetzung. Diese besteht darin, dass wir uns als Individuen in einem Kollektiv sehen. Die frühere britische Premierministerin Margaret Thatcher fiel mit ihrem Glaubensbekenntnis auf, dass es so etwas wie Gesellschaft nicht gäbe, dafür aber Männer, Frauen und Familien. Da hat Tante Margaret aber etwas nicht verstanden. Unsere Existenz spielt sich nämlich in einer Dualität ab. Das hat aber nicht nur Tante Margaret nicht verstanden. Es gibt also sowohl Gesellschaft als auch Männer und Frauen. Oder sagen wir besser: Frauen und Männer. Anders gesagt: da hat eine lupenreine Demokratin die Demokratie lupenrein zu Grabe getragen.

Da Individuen nur in einem Spannungsverhältnis zum Kollektiv existieren können, geht es hier darum, als einzelner Verantwortung für das Kollektiv zu übernehmen, wie aber auch umgekehrt. Wenn das Kollektiv keine Verantwortung mehr für das Individuum übernehmen möchte, bräuchte es schon einer besonderen Anstrengung, dass dann das Individuum trotzdem noch Verantwortung für das (sich auflösende) Kollektiv übernimmt. Eine solche Anstrengung wäre dann aber ein eindeutiger demokratischer Akt. Ein Zusammenhang hier mit Corona ist offensichtlich: Wenn uns etwa im Besonderen junge Leute erklären, sie müssten ihr Verhalten nicht anpassen, weil sie sowieso nicht krank werden, dann lässt das darauf schließen, dass es mit der Demokratie nicht mehr so weit her ist. Hier geht es letztendlich auch um die Frage einer globalen Verantwortung. Das Individuum trägt globale Verantwortung – nur wissen die Meisten nichts davon. Auch eine Gesellschaft oder ein einzelner Staat trägt globale Verantwortung. Was das mit einer Krise zu tun hat, die globalisiert ist, zum Beispiel weil es sich dabei um einen global Player namens Virus handelt, soll hier mal als Denkanstoß in den Raum gestellt werden.

Demokratie hat also eine Voraussetzung und die liegt in der Wahrnehmung des Spannungsverhältnisses zwischen Individuum und Kollektiv. Sodann hat Demokratie einen Charakter. Dieser besteht darin, dass der Demokratie Dynamik innewohnt. Demokratie ahmt unsere Existenz nach und ist daher grundsätzlich dynamisch und gleichzeitig verbindend. Macht dagegen hat eine statische „Persönlichkeit“ und versucht zu trennen. Wenn also ein gewisser Herr Adolf H. ein 1000-Jähriges Reich ausgerufen hat, dann hat er das deswegen getan, weil er damit implizit den statischen Charakter von Macht darstellt.

Ein Demokrat wird versuchen, dem dynamischen Charakter von Demokratie zu entsprechen und daher gar keine Reiche ausrufen. In einer dynamischen Demokratie kann es ebenso kein „Zurück zur Normalität geben“. Damit im Zusammenhang zu sehen sind auch Versuche des Feindbildaufbaus und die Suche nach Schuldigen. Wenn man sich die breite Diskussion – gewissermaßen auf Volksebene – über die Corona-Maßnahmen angesehen hat, so ist diese meistens explizit oder implizit von der Suche nach Schuldigen geprägt gewesen. „Mutti ist an allem schuld“ und so in diese Richtung. Immer geht es letztendlich darum, dass an der Situation irgendjemand schuld sein muss. Auch in „seriöseren“ Medien hat die Diskussion nie einen viel größeren Tiefgang erreicht, als diese Frage nach den Schuldigen. Oft werden die Schuldigen sogar direkt benannt. Und das alles natürlich im Namen der Demokratie.

Doch hat das tatsächlich etwas mit Demokratie zu tun? Nein, natürlich nicht. Die Suche nach Schuldigen kennzeichnet lediglich den Versuch ein Machtgefälle aufzubauen – ein kleines Reich sozusagen – und damit eine statische Situation zu schaffen. Demokratie fragt nicht danach, wer Schuld ist. Es liegt in der Natur der Sache, dass in einer unbekannten Situation Fehler gemacht werden. Ist das ein Problem? Nein, natürlich nicht und ist jemand an diesen Fehlern schuld? Nein, natürlich auch nicht. Da wir aus Versuch und Irrtum heraus lernen, sollten wir froh darüber sein, dass Fehler gemacht werden und man diese auch erkennen kann, das schärft nämlich die Konturen einer Situation. Wir können dann also klarer sehen. Demokratie wird also nie nach Schuldigen suchen, sondern sich die Frage stellen, was können wir aus den Fehlern lernen. Die Suche nach Schuldigen betont den statischen Charakter von Macht, während die Betonung des Lernens den dynamischen Charakter von Demokratie hervorhebt.

Demokratie hat also eine Voraussetzung, sie hat einen Charakter – die Dynamik – und sie hat einen Inhalt. Der Inhalt von Demokratie lässt sich auf einen Punkt hin verdichten: Den Ausgleich von Interessen. Der wesentliche Gehalt von Demokratie ist der Ausgleich von Interessen. Wenn also auch in den europäischen Gesellschaften die Armen immer ärmer und die Reichen immer reicher werden, dann fehlt dieser Ausgleich und ist eine Bedingung für Demokratie nicht erfüllt. Nun gibt es einen solchen Interessensausgleich natürlich nicht nur auf sozialer Ebene, sondern auf vielen verschiedenen Ebenen, etwa auch im Rahmen einer Pandemie. Diese Frage wird zwar von sog. Corona-Kritikern bei der Frage nach Verhältnismäßigkeit der Maßnahmen angesprochen, aber es ist zweifelhaft, ob diese Kritiker auch die Reichweite dieser Frage überblicken. Man kann z. B. die Frage stellen, ist das Tragen von Mund-Nasenschutz eine Einschränkung meiner persönlichen Freiheit oder ist sie – im Sinne von Demokratie – ein eigentlich recht harmloser Ausgleich von Interessen bei dem Versuch eine nicht ganz ungefährliche Krankheit einzudämmen? Die Antwort darauf ist auch kulturell geprägt. Was für die Einen einen Einschnitt in die persönliche Freiheit darstellt, ist für andere eine Selbstverständlichkeit des gesellschaftlichen Zusammenlebens.

Es kann hier natürlich nicht die ganze Corona-Problematik in ein paar Zeilen aufgerollt werden, aber man könnte ein Beispiel herausnehmen: Wir wissen mittlerweile, dass die Krankheit bei vielen, auch jüngeren und keinesfalls schwer erkrankten, eine längere Nachsorgezeit mit sich bringt. Manche werden durch das Virus derart geschädigt sein, dass sie ihr Leben lang mit den Folgen der Krankheit zu kämpfen haben werden. Zusätzlich ist die Behandlung der Krankheit bisher offenbar teurer gewesen (auch durch das noch fehlende Wissen), als bei einem schweren Grippeverlauf. Sofern sich die Gesellschaft auch weiterhin für ihre Individuen zuständig fühlt, wird dieser Umstand eine gewisse volkswirtschaftliche Belastung mit sich bringen. Man könnte natürlich auch darüber jubeln, denn so entstehen in der Nachsorge neue Arbeitsplätze, hurra, aber es kostet auf jeden Fall Geld. Geld, das auch der zahlt, der jetzt gegen Corona-Maßnahmen, die die Häufung von Langzeitfolgen verhindern sollen, protestiert. Hier greift unser Demokratieverständnis. Demokratie ist Interessensausgleich, ohne einen solchen Ausgleich, existiert Demokratie nicht. Sich einfach nur hinzustellen und sagen, ich rühre mich nicht, ist keine Demokratie. Jetzt sind Sie gefragt, werte Leserschaft: Wie soll ein solcher Ausgleich ausschauen. Und bedenken Sie: es muss tatsächlich ein Ausgleich sein, nicht nur irgendetwas!

Der Autor möchte jetzt noch auf zwei Punkte aufmerksam machen:

Die sog. „Coronakrise“ ist doch in Wirklichkeit (bis heute, September 2020) keine echte Krise, sondern höchstens eine Art von Krise, ein Krischen sozusagen. Es hat sogar zahlreiche Stimmen gegeben, von Leuten, die am Anfang meinten, es wäre unvorstellbar gewesen, dass so eine Situation eintreten könne. Da fragt man sich schon: wie sehr muss man eigentlich aus der Historie herausgefallen sein, um so etwas behaupten zu können. So wie sich die Menschheit jetzt aufführt, werden Krisen und zwar richtige Krisen noch so richtig schön auf uns zu kommen und möglicherweise auch weitere Viren, die es in sich haben. Wir haben jetzt wirklich Glück gehabt, mit dieser sog. Corona-Krise die relativ „stressfreie“ Möglichkeit zu bekommen, die Handlungsfähigkeit von Gesellschaft, Verwaltung und Politik zu testen. Dass Politik und Verwaltung deutlichere Managementfähigkeiten entwickeln werden müssen, ist eines der Erkenntnisse aus den letzten Monaten, hätte aber auch schon nach der sog. Flüchtlingskrise 2015/16 eine Schlussfolgerung sein können. Der große Wunsch nach einem „Zurück in die Normalität“ zeigt nur, wie sehr man eigentlich die historische Dimension von „Corona“ missverstanden hat. Die sog. Corona-Krise hilft uns jetzt, Fähigkeiten aufzubauen, die wir in Zukunft noch gut gebrauchen werden können.

Wie beschrieben, ist Demokratie der Ausgleich von Interessen und dieser Interessensausgleich funktioniert in unseren Demokratien nicht wie gewünscht. Wir haben in der EU ein Heer von Mittel- und/oder Arbeitslosen. Arm zu sein bedeutet de facto einen Lockdown nicht nur für ein paar lächerliche Wochen lang, sondern bis zu dem Lebensende. Armut und Arbeitslosigkeit sind, wie uns die historische Erfahrung lehrt, Hauptfeinde von Demokratie. Die Frage ist, wieso hat das die Leute, die sich jetzt so sehr um Freiheit und Demokratie Sorgen machen, nicht schon seit Jahren regelmäßig auf die Straßen getrieben? Sicherlich, ab und zu sind schon ein paar „sozialkritische“ Artikel aus der Komfortzone heraus gescheibt worden, aber ein wirkliches Anliegen war das doch nie. Machen wir uns nichts vor. Warum hat niemand zu einem Arbeitslosen gesagt: Mitbürger, ich bin auch für dich verantwortlich und teile daher meinen Arbeitsplatz mit dir?

Die Antwort darauf ist eine ganz ein- und zweifache: Zum einen fehlt es an demokratischen Bewusstsein und zum anderen hat sich unser Ego bisher nicht von den Zuständen bedroht gefühlt. Nun aber ist das Ego durch die ungewohnte Situation verunsichert. Nur eines muss schon klar sein: wer sich jetzt so plötzlich für Demokratie und Freiheit interessiert, sollte sich folgendes bewusst machen: Dieses Interesse ist nicht aus ihr oder ihm selbst heraus gekommen ist, sondern ist die Folge eines äußeren Impulses. Und dieser Impuls kommt von Lockdown & Co. Wenn ich jetzt diesen Impuls als etwas Abzulehnendes bekämpfe, bekämpfe ich letztendlich auch das, was er in mir ausgelöst hat. Und ein solches Verhalten ist nicht besonders gescheit….

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Michael Schütz

Unabhängiger Historiker

Michael Schütz

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