Die Muttergottes und der Osten

Glaube Macht Kampf Muttergottesverehrung und Machtansprüche sind nicht immer leicht voneinander zu trennen...

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Wie schon in der Einführung zu diesem Blog erwähnt, spielen Religionen bei den Vorgängen in Mittel- und Osteuropa eine zentrale Rolle. Man wird daher die Geschichte dieses Ostens nicht wirklich verstehen können, wenn man dieses Thema ausblendet. Deshalb reißen wir an diesem Ort einige Aspekte dieser Vorgänge an und nehmen uns dazu gleich einmal einen schweren Brocken vor, d.h. eigentlich besser, einen bedeutungsvollen: Die Muttergottes.

Die Verehrung der Muttergottes spielt in Mittel- und Osteuropa eine wichtige Rolle im Selbstverständnis der jeweiligen Völker, gleichwohl hat diese Gemeinsamkeit der Verehrung in der Vergangenheit nicht dazu geführt, dass sich – wie man annehmen könnte – die Beziehungen der Völker zueinander gebessert haben. Eher das Gegenteil.

Es ist also kein Zufall, wenn dieser Beitrag an die vorangegangene Serie über die Europastraße 30 anknüpft, die wir „Brücken und Gräben“ genannt haben und in dessen 3. Teil die Muttergottes unerwähnter Weise eine nicht unwichtige Rolle gespielt hat.

Ausgangspunkt unserer Tour ist das Städtchen Trakai, eine große Hand voll Kilometer westlich der litauischen Hauptstadt Vilnius gelegen. Jeder geeichte Litauen-Tourist hat es bereits einmal besucht und kennt die dort auf einer Seeinsel ruhende Wasserburg, sicherlich eines der eindrucksvollsten derartigen Bauwerke Europas. Die Burg ist ein nationales Wahrzeichen Litauens, sodass man sie als Litauen-Besucher gesehen haben muss. Bei uns aber nicht so bekannt ist der Umstand, dass Trakai auch ein Wallfahrtsort ist, der eigentlich nationale Bedeutung besitzt, dem aber später die Muttergottes im Tor der Morgenröte in Vilnius den Rang abgelaufen hat. Als Papst Johannes Paul II. 1993 Litauen seine Aufwartung machte – eine Visite die für das Bewusstsein des damals erst vor kurzem unabhängig gewordenen Landes kaum zu überschätzen ist – stattete er auch der Wallfahrtskirche in Trakai und ihrem wundertätigen Marienbild einen Besuch ab. Das Bildnis gilt in seinem ursprünglichen Aussehen als die älteste Mariendarstellung Litauens und trägt deshalb den Titel einer Patronin Litauens. Später wurde es in Anlehnung an den byzantinischen Ikonentyp der „Wegweiserin“ übermalt. Der Pilgerweg des Papstes durch Litauen wird immer noch hochgehalten und ist nicht zuletzt für polnische Touristen von besonderer Bedeutung.

Bereits 1611 bekam die Muttergottes von Trakai hohen Besuch. Es war die polnische Königin Constanze, die zusammen mit einigen erlauchten litauischen Häuptern die Wallfahrtskirche aufsuchte. Polen und Litauen bildeten damals einen Doppelstaat, in dem Polen langsam aber sicher die wichtigere Rolle zu spielen begann. Der Grund für diesen Besuch Constanzes lag darin, dass ihr Mann, der König, wieder einmal zu Felde gezogen war.

Wie wir schon in Teil 3 von „Brücken und Gräben“ berichtet haben, bemühte sich in dieser Zeit der Herrschaftswirren in Russland der Doppelstaat intensiv darum, bei der anstehenden Neubesetzung des Moskauer Throns „mitzureden“. Nebenbei hatte er Schweden als Nebenbuhler abzuwehren. Die Moskauer Fürsten wären zwar zu einem Kompromiss mit Polen bereit gewesen, dem polnischen König war das aber schlussendlich zu wenig. Er beschloss, sich selber zum Herrscher Russlands zu machen und damit nicht nur den aufsteigenden Konkurrenten im Osten ein für alle mal zu erledigen, sondern auch die Machtansprüche Schwedens in diesem Raum zu unterlaufen. Wie schon in Teil 3 berichtet ging das Ansinnen schief, die Russen hatten von den Polen vollends die Nase voll und drängten sie aus dem Land heraus. Mit der Ausnahme von einigen Gebieten im Westen und dem russischen Smolensk, das nach zwanzig Monaten Belagerung an Polen ging. Zu eben diesem Kampf um Smolensk war der Gemahl Constanzes, Sigismund III angereist. Eine Ironie dieser Geschichte liegt übrigens darin, dass Sigismund den Namen Wasa trägt, d.h. väterlicherseits schwedischer Abstammung gewesen ist, und bis zu seiner Absetzung als schwedischer König auch im eigentlich gegnerischen Schweden ein Standbein gehabt hat.

Constanze bat nun die Gottesmutter von Trakai inständig darum, dass ihr Mann die Schlacht um Smolensk unverletzt überstehe und die Polen den Sieg davon tragen mögen. Und siehe da: die Muttergottes von Trakai erhörte ihre Bitten: Smolensk fiel in die Hände der Polen und auch Sigismund III kam – zumindest körperlich – unversehrt wieder nach Hause. Zur Entschuldigung der Polen muss hier noch erwähnt sein, dass Constanze eine Habsburgertochter war, somit also aus Österreich gekommen und streng katholisch erzogen worden war. Sie brachte eine Art von Frömmigkeit mit ins Land, mit der nicht alle Polen etwas anfangen konnten und das hatte letztendlich politische Gründe.

Constanze tat also alles, was in ihrer Macht, oder vielleicht besser, Ohnmacht stand, um Polen und ihrem Gatten zum Sieg zu verhelfen. So weit so gut. Doch da gibt es ein Problem. Und zwar, dass in Smolensk auch eine Muttergottes sitzt, die wiederum für das Selbstverständnis Russlands und der russischen Orthodoxie eine besondere Rolle spielt. Und diese Muttergottes von Smolensk zog bei diesem Geschehen eindeutig den Kürzeren.

Hier sollten wir kurz, aber notwendig einschieben, dass es verschiedene Typen von Muttergottesdarstellungen gibt. Solche Unterscheidungen gibt es auch in der Katholischen Kirche. Die russische Orthodoxie hat es aber in der Spezifizierung der Muttergottesdarstellungen zu großer Meisterschaft gebracht, was sicherlich auch mit dem besonderen Stellenwert der Muttergottesverehrung in Russland zusammenhängt. In russischen Landen gibt es allein sechs- bis siebenhundert Muttergottesikonen, die für wundertätig gehalten werden. Einige wichtige Typen der Muttergottesdarstellung werden in der russischen Orthodoxie nach ihrem ursprünglichen Verehrungsort benannt. So gibt es zum Beispiel eine Muttergottes von Wladimir, eine Muttergottes von Kasan oder eben die Muttergottes von Smolensk, die jeweils unterschiedliche Typen repräsentieren. Mit den beiden letzteren Ikonen werden wir uns hier beschäftigen.

Wie damals die Muttergottes von Smolensk auf das Wirken ihrer Kollegin in Trakai reagiert hat, ist nicht überliefert, das polnische Abenteuer hat sie auf jeden Fall überstanden. Später wird sie in der Verteidigung ihres Landes eine nicht unwichtige Rolle spielen. Zunächst kommt aber eine andere Muttergottesikone Russlands ins Spiel und das ist die Muttergottes von Kasan. Zum näheren Kennenlernen dieser „Kasanskaja“ kommen wir zunächst in die fast unmittelbare Gegenwart zurück:

Kasan an der Wolga. Wir schreiben den 21. Juli 2005. Für die Herren Ischakov und Schaimijew ist das ein Freudentag. Die Beiden haben ihr ganzes tatarisch-muslimisches Herzblut in die Waagschale gegossen, um diesen Tag zu „ermöglichen“. Denn an diesem 21. Juli kehrt die Muttergottes von Kasan nach jahrhundertelanger Absenz wieder in ihre Heimatstadt zurück. 1612 hat sie die Stadt verlassen. Ischakov wie Schaimijew haben sich redlich bemüht, diese Rückkehr zu verwirklichen. Ischakov ist das Stadtoberhaupt von Kasan und Schaimijew der Präsident der dazugehörigen russländischen autonomen Republik Tartastan.

Die beiden Herren ließen zuvor im Kreml (= in der Burg) von Kasan ordentlich bauen: eine neue Moschee, wie es heißt, die größte Europas, sowie die christlich-orthodoxe Kathedrale, die wiederhergestellt wurde. Die quasi nebeneinander liegenden Gebetsstätten sind für Ischakov und Schaimijew der Ausdruck für ihre Bemühungen um ein gedeihliches Miteinander von Islam und Christentum in Tartastan und ganz Russland. Und eines ist dabei klar: die Kathedrale ist erst vollendet, wenn auch die Muttergottesikone von Kasan dorthin zurückkehrt. Doch das zu bewerkstelligen, ist nicht so einfach:

Nach dem Zerfall der Mongolenherrschaft in Russland während des ausgehenden Mittelalters bilden sich einige tatarische Nachfolgereiche muslimischen Glaubens heraus. Eines dieser neuen Reiche ist das Khanat von Kasan, ein weiteres wird von Astrachan an der Wolgamündung aus regiert und eines befindet sich auf der Krim. Diese Reiche bilden für die Moskowiter nach Osten und Süden hin einen Riegel, während im Westen Litauen Druck macht. Zugleich bildet zumindest das Khanat auf der Krim eine ständige militärische Bedrohung. Iwan IV, der bei uns „der Schreckliche“ genannt wird, möchte seinem Reich den Weg sowohl nach Ost als auch West hin öffnen. Er stellt ein großes Heer auf, rüstet es mit neuester Technik und engagiert ausländische Belagerungsspezialisten. So vorbereitet, zieht er gegen das Kasan. Die Kasaner Tataren sind einer solchen Überlegenheit nicht gewachsen. Die Erstürmung der Stadt endet in einem Blutbad und offenbar in einer Vergewaltigungsorgie. Iwan IV, der in seiner Persönlichkeit so sehr zwischen Extremen hin und hergerissen ist, missbilligt dieses Verhalten seiner Soldaten mit den Worten, die Tataren seien zwar keine Christen, aber doch immerhin Menschen.

Wenige Jahre später fällt auch das Khanat Astrachan an Russland. Nur mit den Tataren der Krim tun sich die Russen schwer. Die Krimer werden ihnen noch rund 200 Jahre lang ziemliche Kopfschmerzen bereiten. Übrigens nicht nur den Russen, sondern auch allen anderen angrenzenden Volksschaften, insbesondere den Polen.

Nach der Eroberung von Kasan werden dort anstelle der Moscheen Kirchen gebaut und orthodoxe Christen lösen die tatarisch-muslimische Bevölkerung ab. Damit ist aber noch lang nicht alles paletti. Im Gegenteil: der Regierungsstil Iwans schwächt das Land so sehr, dass seine Feinde leichtes Spiel haben. 1571 erobern Tataren Moskau und 1579 holt Litauen zum großen Gegenschlag aus, um den Expansionsplänen Russlands Richtung Ostsee ein Ende zu setzen. In dieser Zeit der inneren und äußeren Not geschieht plötzlich ein Ereignis von großer Symbolkraft: Teile Kasans und seines Kreml brennen nieder und unter den verkohlten Trümmern eines Hauses wird eine unversehrte Muttergottesikone gefunden. Für die Bürger Kasans ein Wunder.

Kasan, das ist der Eckpfeiler, den Iwan IV. in die Geschichte Russlands eingerammt hat. Die Eroberung der Stadt eröffnet den Weg nach Sibirien. Doch jetzt brennt die Stadt. Für die Muslime, die durch die Eroberung Kasans zu Untertanen Moskaus geworden sind, ist der Brand die Strafe Gottes, ein Zeichen für die Sündhaftigkeit Russlands und seines Christentums. So ganz Unrecht haben sie schließlich damit nicht. Die Auffindung der Ikone soll das in dieser Situation bedrängte russisch-orthodoxe Christentum stärken.

Man kann es auch so sehen: Mit Kasan brennen symbolisch die Errungenschaften, wie die ganze Zwielichtigkeit der Ära Iwans IV. ab. Russland braucht einen Neustart, den Druck auf die Reset Taste. Und dieses Reset ist die Muttergottes. Die neue Zarendynastie, die nach der Zeit der Wirren an die Macht kommt, wird ihre Herrschaft unter den Schutz der Ikone von Kasan stellen. Brautpaare werden mit der Ikone der Gottesmutter von Kasan gesegnet. Und vor allem: die Ikone spielt bei der Befreiung des Landes von den Polen eine zentrale Rolle.

Die in dem abgebrannten Haus aufgefundene Ikone wird in Kasan zum Ziel intensiver Verehrung. Schon bald wirkt sie zahlreiche Wunder. Der Priester Ermogen, der zunächst für sie zuständig ist, macht im Schatten der Ikone Karriere, wird Bischof von Kasan und später der Patriarch in Moskau. Doch bald geht es in Moskau drunter und drüber. Polen und Litauen nützen die Situation, um in Russland einzufallen und sich das Land untertan zu machen. Ermogen ruft seine Landsleute auf, unter dem Schutz der Muttergottes von Kasan die polnischen Eindringlinge zu vertreiben. Für Ermogen ist das das Todesurteil. Die Polen lassen ihn im Kerker verhungern. Aber in der Bevölkerung wird sein Aufruf vernommen. Man zieht mit der Kasaner Ikone gegen die Polen. Nach einigen Startschwierigkeiten ist das Unternehmen erfolgreich. Wie gesagt, bis auf Smolensk und einige Gebiete im Westen gelingt es Russland zu befreien und schließlich einen neuen Zaren zu wählen: Michail Romanow. Der Ikone wird nun am Roten Platz in Moskau eine Kirche gebaut, wo sie offenbar bis zu Lenins Umsturz verbleibt.*

Etwas mehr als ein Jahrhundert vor Lenins Eingreifen in die Geschichte Russlands, sieht das Land wieder einer äußeren Bedrohung entgegen. Napoleon schickt sich an, Russland zu unterwerfen. Wir sind in Teil 3 näher darauf eingegangen. Nachdem es am Zarenhof in St. Petersburg aufgrund des fehlenden Erfolgs der russischen Truppen gegen Napoleon massive Unstimmigkeiten bezüglich der militärischen Führung gegeben hat, ernennt Zar Alexander den durchaus umstrittenen alten Haudegen Kutusow zum Oberbefehlshaber. Dessen erste „Amtshandlung“ als neuer Oberbefehlshaber ist die: Er geht in die Kirche. Und zwar nicht in irgendeine, sondern in die gerade mehr oder weniger fertiggestellte neue Hauptkirche von St. Petersburg. Als hätte man es geahnt, hatte man in den Jahren in denen sich Napoleon anschickte, Europa aufzurollen, eine neue Kathedrale gebaut, die der Muttergottes von Kasan geweiht wurde, also gleichsam dem Schutz Russlands. Kutusow wird dort mit der Ikone der Kasanskaja gesegnet. Mit anderen Worten, Napoleon besitzt jetzt schlechte Karten.

Als Kutusow zu den russischen Truppen stößt, haben diese gerade Smolensk den Flammen und Napoleon überlassen müssen. Aber sie haben etwas sehr Bedeutungsvolles mit im Marschgepäck: Die wundertätige Ikone der Muttergottes von Smolensk. Bevor die Russen sich aus der Stadt zurückgezogen haben, haben sie die Ikone geborgen und führen sie nun im Tross mit. Napoleon hat Smolensk physisch erobert, aber nicht spirituell. Kutusow weiß, das zu nützen. Und Napoleon versteht genau das nicht.

Bei Borodino bieten die russischen Truppen Napoleons Armee schließlich die lang geforderte Feldschlacht. Sie bauen Stellungen und Schanzen und warten auf das Eintreffen der Franzosen, die sich ihrerseits im Gelände in Position bringen.

Dann ist Stille, die Stille vor der Schlacht.

Es ist ein Sonntag. Über das Lager der Russen breitet sich ein Mantel der Ruhe und Konzentration. Kutusow lässt eine kleine Prozession organisieren, die sich nun langsam durch die russischen Stellungen bewegt. Begleitet vom Oberbefehlshaber und seinem Stab führen einige Geistliche die Ikone der Muttergottes von Smolensk durch das Feld, von Regiment zu Regiment, von Batterie zu Batterie und zu jeder Schanze. An jedem Haltepunkt wird gebetet, Lieder werden gesungen und die Soldaten ziehen in tiefer Andacht an der Ikone vorüber. Kutusow kann dabei zusehen, wie in den Männern ein neuer Geist erwacht, eine neue Kraft, die nur aus echtem Glauben erwachsen kann. Auf diesen Geist kann Kutusow in der Schlacht bauen.

Mit gemischten Gefühlen beobachten die Generäle Napoleons von Ihren Stellungen aus das Geschehen. Napoleon selbst hält den Umzug allerdings für seelenloses Theater. Einen solchen Gegner, verkündet er, werde man leicht in den Sack stecken. Die Schlacht am nächsten Tag endet allerdings in einem Patt. Das gibt den Russen die Möglichkeit, sich geordnet zurückzuziehen und Moskau aus freien Stücken Napoleon zu überlassen. Napoleon bekommt zwar Moskau, hat damit aber nichts gewonnen. Im Gegenteil. So zieht er unverrichteter Dinge wieder ab und der Rückzug seiner Armee wird zu einem der größten militärischen und menschlichen Fiaskos, die die Weltgeschichte je gesehen hat.

Smolensk hat nach der Zerstörung durch Napoleon einigen „Renovierungsbedarf“, doch schlussendlich kann die Ikone der Muttergottes wieder in ihre Stadt zurückkehren. Von dort blickt sie auch heute noch gegen Westen. Und was sieht sie da?

Zum Beispiel sieht sie in etwas weiterer Entfernung ein Symbol: Zwölf im Kreis angeordnete Sterne auf einem blauen Hintergrund. Die Smolensker Muttergottes würde sicher dazu sagen: „Gefällt mir“. Das Symbol steht in Brüssel und bezeichnet eine wackelige Gemeinschaft europäischer Staaten. Die zwölf Sterne sind ursprünglich in der Tradition ein „Accessoire“ der Muttergottes. Dieses geht auf eine Stelle in der Offenbarung des Johannes im Neuen Testament zurück (12,1). Dort erscheint eine Jungfrau am (hoffentlich blauen) Himmel, geschmückt mit zwölf Sternen und gebärt unter Schmerzen ein Kind. In dieser Lesart würden die zwölf Sterne ein Zeichen der Vollkommenheit und Vollendung Mariens darstellen. Entgegen der Tradition der Marienverehrung ist dieser Text eigentlich symbolisch zu verstehen, das Kapitel firmiert unter der Überschrift: „Der Kampf des Satans gegen die Herrschaft (oder: das Volk) Gottes“. Man könnte auch sagen: der Kampf des Bösen gegen das Gute. Es heißt gerade nicht: der Kampf des Guten gegen das Böse. Nur so als Randbemerkung. In dieser Sichtweise bilden die zwölf Sterne das Volk Gottes. Wir sollten unsere EU-Politiker einmal zu einem Meditationsworkshop über das Symbol der Europäischen Union einladen.

Katholische Muttergottesdarstellungen, vor allem aus der Barockzeit, verwenden oft dieses Symbol der zwölf Sterne. Eine der wichtigsten Darstellungen dieser Art in Mittel-Osteuropa ist die zu Beginn erwähnte Muttergottes im Tor der Morgenröte in Vilnius. Diese ist einerseits ein katholisch litauisches, wie auch polnisches Heiligtum, andererseits aber auch für orthodoxe Gläubige ein Ort der Verehrung. Beide Seite haben rund um das Bild ihre eigenen Legenden und Erzählungen gesponnen, die mit den zunehmenden Spannungen zwischen Polen-Litauen und dem zaristischen Russland jeweils politisch und national aufgeladen wurden.

Auf ostkirchlichen Muttergottesdarstellungen finden sich allerdings keine zwölf, sondern nur drei Sterne, von denen einer oft durch das Jesuskind verdeckt ist. Diese Sterne sind das Zeichen für Maria als der „immerwährenden Jungfrau“. Für diejenigen, die diese Aussage jetzt allzu anatomisch nehmen, sei dazu gesagt, dass ein spirituell inspirierter Mensch im Modus des sog. "Anfängergeists" lebt. „Und jedem Anfang wohnt ein Zauber inne, der uns beschützt und der uns hilft, zu leben“, sagt Hermann Hesse (Stufen).

Was sieht die Smolensker Muttergottes noch, wenn sie gegen Westen blickt?

Sie sieht ihre Schwester, die unter dem Namen Schwarze Madonna in einem Kloster im polnischen Wallfahrtsort Tschenstochau (Czestochowa) residiert.

Die Muttergottes von Smolensk verkörpert den Ikonentyp der byzantinischen Hodegetria, was soviel bedeutet wie: die Wegweiserin. Der Legende nach hat der Evangelist Lukas selbst die erste Ikone dieses Typs von der Gottesmutter gemalt. Eine byzantinische Prinzessin machte sich einst, von einer solchen Ikone begleitet, auf den Weg in die Ehe mit dem Herrscher der alten Rus. Schlussendlich landete diese Ikone in Smolensk.

Der Typ der Hodegetria oder Wegweiserin ist auch in die Westkirche eingewandert. Wir erwähnten zu Beginn die Übermalung der Muttergottes von Trakai. Die wohl bekannteste Vertreterin innerhalb der Katholischen Kirche ist jedoch die Schwarze Madonna in Tschenstochau. Die Beter, die das Gnadenbild aufsuchen, finden de facto das Erbe der Ostkirche zum Niederknien.

Die Tschenstochauer Hodegetria hat von der Legende her eine ganz ähnliche Herkunftsgeschichte, wie die in Smolensk. Auch sie soll mit einer byzantinischen Prinzessin in die Rus gekommen und später nach Westen weitergewandert sein. In Tschenstochau war sie diversem kriegerischem Unbill ausgesetzt und wurde bei solcher Gelegenheit auch beschädigt. Schließlich bewahrte sie aber ihr Kloster in Tschenstochau vor der Eroberung durch die Schweden – so die allgemeine Überzeugung.

Und noch etwas konnte die Smolensker Muttergottes bei ihrem Blick nach Westen beobachten: die Odyssee der Kasanskaja, der Muttergottesikone von Kasan, durch den Westen. Wie erwähnt, war zu Ehren dieser Ikone am Roten Platz eine Kirche gebaut worden, in der sie nach dem Sieg über die Polen ihre neue Heimstätte fand. Stalin ließ die Kirche schließlich sprengen, das Bildnis war allerdings schon vorher daraus verschwunden. Klar ist, dass die Kasanskaja irgendwann am westlichen Kunstmarkt auftauchte. Nach mehreren Besitzerwechseln kaufte die US-amerikanische marianische Organisation Blue Army – nicht ganz zufällig wieder die Farbe Blau – die Ikone um angebliche 3 Millionen Dollar und verbrachte sie in den portugiesischen Wallfahrtsort Fatima. Später wurde die Ikone Papst Johannes Paul II. übergeben, dessen Schicksal oft mit den sog. Geheimnissen von Fatima in Verbindung gebracht wird. Der Papst stellte sie in seinem Arbeitszimmer auf.

Irgendwann kam die Idee auf, die Ikone wieder nach Russland zurückkehren zu lassen. Kasans Bürgermeister Ischakov machte sich auf den Weg in den Vatikan, um die Rückkehr der Ikone zu erbitten. Papst Johannes Paul II. wollte dieser Bitte gerne nachkommen, dabei allerdings selbst die Ikone nach Russland bringen.

Derartige Angebote wurden vom Moskauer Patriarchat jedoch abgelehnt. Man ließ wissen, die Ikone hätte man schon gerne, aber ohne Papst. Johannes Paul II. stimmte schließlich der alleinigen Rückkehr zu, war doch auch seine eigene Reisefähigkeit bereits erheblich eingeschränkt. Nach einer Feier im Petersdom in Rom, bei der sich die Gläubigen von der Ikone verabschieden konnten, fuhr der zuständige deutsche Kurienkardinal Kasper mit der Ikone nach Moskau, um sie Patriarch Alexej II. zu übergeben. Damit war die Ikone aber noch nicht in Kasan. Die Kasaner Autoritäten beharrten darauf, dass die Ikone tatsächlich in ihre Stadt zurückkehrt. Möglicherweise war es der lange Schatten der Moschee im Kasaner Kreml, der den Patriarchen bewog, die Ikone tatsächlich nach Kasan zu bringen. Bei der Rückkehrfeier in Kasan brachte es die Moskauer Kirchenführung aber nicht über' s Herz, dem Papst und der katholischen Kirche für die Rückgabe zu danken. Das besorgte schließlich der muslimische Präsident Schaimijew.

Die ganze Geschichte war nicht nur ein Fall missglückter Kirchendiplomatie. Bei einer bereits vor der Übergabe erfolgten wissenschaftlichen Untersuchung der Ikone stellte sich heraus, dass es sich offenbar nicht um die Originalikone der Kasaner Muttergottes handelt, sondern um eine etliches jüngere Kopie. Das Original ist weiterhin verschollen. Das tat aber der Freude in Kasan über die Rückkehr der Ikone keinen Abbruch.

* Der genaue Ablauf des Lebens der Originalikone der Muttergottes von Kasan ist umstritten. Manche Experten nehmen an, dass die Ikone zunächst aus Moskau nach St. Petersburg gekommen und dort dann verloren gegangen ist, bzw. von den Bolschewiki in den Westen verkauft wurde. Entsprechend werden z. B. auch in Reiseführern oft ganz eigene Geschichten angeboten, die mit den Tatsachen mitunter nicht so viel zu tun haben. In diesem Artikel wird von einer quasi konservativen Theorie ausgegangen, nachdem die Ikone zumindest bis 1904/05 in Moskau verblieb, wahrscheinlich sogar bis in die Zeiten Lenins und sich erst dann die Spuren verlieren. Viele glauben, dass das Original nicht mehr existiert.

Der Muttergottes von Kasan sind zwei Festtage gewidmet: der 21 Juli und der 4. November. Letzterer hängt mit dem Sieg des russischen Volksaufstandes über die Polen 1612 zusammen und wurde später als allgemeiner hoher Feiertag begangen. Dieser Feiertag wird seit 2005 wieder gefeiert, nämlich als „Tag der Einheit des Volkes“, bei dem es um das gute Zusammenleben der vielen verschiedenen Nationalitäten in Russland, vor allem aber der großen Religionen geht. An diesem Festtag der Muttergottes von Kasan versammeln sich die russländischen Führer von Christentum, Islam, Judentum und Buddhismus, um zusammen mit dem Präsidenten Russlands die Einheit des Landes zu beschwören. Dieser Feiertag bekommt für Russland eine immer größere Bedeutung. Dazu gilt es, zu bedenken, dass nicht nur die christlichen Kirchen wie auch der Islam jeweils über ein eigenes Sendungsbewusstsein verfügen, sondern z. B. am Territorium der autonomen Republik Tartastan Bodenschätze liegen, an denen auch Moskau gerne mitnaschen möchte.

Obwohl die ökumenischen Bestrebungen der Katholischen Kirche in Bezug auf die Ostkirchen insgesamt derzeit offenbar einen gewissen Stillstand erleben, hat sich aufgrund der allgemeinen Weltlage die Kirchendiplomatie des Moskauer Patriarchats verändert. Das Treffen von Patriarch Kirill mit Papst Franziskus in Havanna hat die neue Position deutlich charakterisiert. Der für die Außenbeziehungen des Moskauer Patriarchats zuständige Metropolit Hilarion hat diesbezüglich eine klare Einladung an die Mitglieder der Kirche Roms formuliert: Nachdem die Gläubigen beider Seiten sich den selben Herausforderungen gegenübersehen, sollten wir lernen, uns nicht als Konkurrenten, sondern als Verbündete zu sehen. Wir seien doch schließlich Brüder.

( Die Schwestern hat Hilarion zwar nicht erwähnt, aber sicher auch dazu gemeint!)

Dieser Beitrag wurde zuvor auf dem Blog https://mittelundosteuropa.wordpress.com/ veröffentlicht.

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Geschrieben von

Michael Schütz

Unabhängiger Historiker

Michael Schütz

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