Vom doppelten Klang eines Namens

Neringa Nicht nur eine Halbinsel heißt Neringa...

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Klang Nr. 2: das Cafe

Neringa – eine poetische Bezeichnung für die Kurische Nehrung: Die schlanke Landzunge, die sich, von der Nordküste des Kaliningrader Gebiets aus durch das weite Wasser in den Norden erstreckt – wie eine dem Festland vorgelagerte Landbrücke, die bis vor die Tore der litauischen Hafenstadt Klaipeda reicht. Dieses, rund 100 Kilometer lange, schmale Land ist in der südlichen Hälfte ein Teil Russlands und in der nördlichen ein Teil Litauens, bleibt aber doch ein großes Ganzes.

Laut litauischer Sage wurde die Kurische Nehrung von einer blond bezopften Riesin namens Neringa erschaffen, die so schön und gütig wie groß war. Sie hatte viele Freier, doch keiner taugte in ihren Augen, bis schließlich doch noch der Eine kam... Auf jeden Fall galt es die Küstenbewohner vor den alles verzehrenden Sturmfluten der Ostsee zu schützen, die der Wellengott geschickt hatte. Neringa schritt zur Tat, schüttete kurzerhand vor der Küste einen Damm aus Sand auf und rettete so den Fischern (und ihrem Auserwählten) Leben, Hab und Gut. Tatmotiv war eindeutig Liebe. So inspiriert, lebt der Name Neringa in Litauen auch als weiblicher Vorname weiter.

Die Kurische Nehrung ist tatsächlich ein heikles, wie schönes Gebilde, das sich aus dem Zusammenspiel von Wind, Wasser, Sand und Pflanzenwelt geformt hat. Es reagiert sensibel auf jeden Eingriff. Der Mensch der Neuzeit brauchte fast ein halbes Jahrtausend, um mit diesem Umstand umgehen zu können.

In Teil 1 dieses Beitrages sind wir auf die auf der Kurischen Nehrung vom Menschen ausgelöste ökologische Katastrophe eingegangen. Hier in Teil 2 geht es um eine Einrichtung, die sich den Namen dieser Schönheit zu eigen gemacht hat und so wie die Halbinsel mit dem Klang ihres Namens sehr spezifische Vorstellungen auslöst: Das Cafe Neringa. Das Cafe Neringa steht weit abseits der Nehrung, in deutlichem Abstand von der großen Schönen, in der litauischen Hauptstadt Vilnius.

Die Bedeutung des Cafes lässt sich nur aus der Zeit ermessen, aus der es stammt. Man stelle sich vor: Vilnius Ende der 50er Jahre des 20. Jahrhunderts. 15 Jahre zuvor, im Sommer 1944, endet für Vilnius der Zweite Weltkrieg. Die Sowjetarmee erobert die Stadt von Hitlers Truppen zurück, nachdem sie 1941 von der Wehrmacht aus Litauen vertrieben worden ist. Die Aussicht auf die weitere Sowjetherrschaft animiert jetzt viele Litauer dazu, ihr Bündel zu schnüren und mit den Deutschen in den Westen zu flüchten.

Vilnius ist durch die Kampfhandlungen zu 40% zerstört. Die Stadt erlebt einen weitgehenden Bevölkerungsaustausch. Die Juden der Stadt sind unter den Nazis fast vollständig ermordet worden und dann bringt „Väterchen“ Stalin die in Vilnius lebenden Polen dazu, nach Westen zu ziehen, wo sich das polnische Staatsgebiet neu formiert. Beide Bevölkerungsgruppen zusammen haben bisher den Großteil der Stadtbewohner gestellt. Litauer hat es zuvor in Vilnius nur wenige gegeben. Die Stadt wird jetzt mit Neusiedlern aufgefüllt. Zunächst vor allem mit Russen, sowie Weißrussen und in weiterer Folge immer mehr und mehr mit Litauern, oft Bevölkerung vom Land, die das städtische Lebensgefühl noch nicht kennt. Von den Polen ist nur ein kleiner Teil geblieben. Eine Ironie: erst das Wirken der beiden Diktatoren macht Vilnius nach all den Wendungen der Geschichte wieder zu einer tatsächlich litauischen Stadt. Man könnte für die unmittelbaren Nachkriegsjahre sagen: Vilnius ist sich selber fremd. Damals hört man in Litauen oft den Satz: Kaunas – das in der Zwischenkriegszeit als Hauptstadt Litauens fungierte – ist eine Stadt und Vilnius ein Dorf. Die Hauptstadt als Provinz.

Noch vor allen Neubewohnern zieht Stalins Geheimdienst in Vilnius ein und dessen Anwesenheit legt sich wie ein bleierner, lähmender Schatten über die Stadt. Als Stalin 1953 stirbt, beginnt sich dieser Schatten zu lichten, langsam, ganz langsam setzt ein Aufatmen ein und das vom neuen Sowjetführer Chruschtschow angestoßene Tauwetter hält auch in Vilnius Einzug. Auf dem litauischen Land hat ein Partisanenkrieg gegen die Sowjetherrschaft getobt, der jetzt niedergeschlagen ist. Vilnius ist davon nicht betroffen gewesen, offiziell spricht man in der Stadt nicht darüber, man ahnt jedoch alles. Man ist sich jetzt klar, das Sowjetsystem wird einem lange, vielleicht sehr lange erhalten bleiben. Die Vilniuser beginnen daher, sich in der neuen Zeit einzurichten.

Chruschtschows Tauwetter ermöglicht der Vilniuser Gesellschaft mehr zu sich und ihrer Bestimmung zu finden und die Stadt etabliert sich als das, was sie im 19. Jahrhundert zeit- und ansatzweise schon einmal gewesen ist, bzw. sein wollte: nämlich ein Gegenentwurf zu Moskau oder St. Petersburg, dann Leningrad. Für die Menschen im sowjetischen Kernland Russland wird Vilnius der „Westen“, dieses scheinbar das Paradies bezeichnende Vokabel. Aus Moskauer Sicht ist damals der „Westen“ zunächst Vilnius und das Baltikum, dann Polen und die kommunistischen Bruderländer und erst in dritter Linie das, was man hierzulande unter Westen verstanden hat. Vilnius und das Baltikum nehmen in der Sowjetunion als erste westliche Einflüsse auf und leiten sie weiter. In Vilnius kann sich eine lebendige Kunst-, Intellektuellen- und Bohemienszene entwickeln, die mehr Spielraum bekommt, als anderswo in der Sowjetunion und die deshalb eine besondere Anziehungskraft ausstrahlt. Im Laufe der Zeit entwickelt sich eine andere Musik, ein anderer Film, ein anderes Theater, eine eigenwillige Malerei und vor allem eine neue unabhängigere Philosophie. Protagonisten dieser Szene sind nicht nur Litauer, sondern auch Russen, Polen und Juden. Vilnius ist, trotz des Bevölkerungsaustausches, eine multinationale Stadt geblieben, auch wenn zwischen den einzelnen Ethnien mitunter unsichtbare Wände stehen.

In diese, aus totalitärem, ärmlichen Grau und in genau abgesteckten Grenzen aufbrechende Atmosphäre wird ein Cafe gebaut, das oft auch als Jugendclub bezeichnet wird. Es ist konzeptuell neu gedacht, durchgestylt bis ins Detail, und künstlerisch ausgestaltet. Nach seiner Fertigstellung wird dieser Ort des Kommunizierens und Genießens Neringa heißen, Cafe Neringa.

Dieses Neringa wird so zu einem Symbol des Aufbruchs in eine neue Zeit. Es ist ein Kind der Tauwetterperiode, es strahlt ihren Geist aus und nimmt wie natürlich auch all die kulturellen und gesellschaftlichen Strömungen in sich auf, die sich in dieser Zeit zu regen beginnen. Das Cafe stellt einen Kristallisationspunkt der Vilniuser Szene dar und verschmilzt ihre Kräfte zu einem größeren Ganzen, das wieder auf die Kultur der Stadt ausstrahlt. Denkverbote gibt es unter dem Publikum des Cafes keine, außer denen, die letztendlich von den Behörden gesetzt werden. So fungiert das Cafe vorerst gleichsam als vorgestellte sowjetfreie Zone. Die Besucher des Cafes suchen den geistigen Austausch, man diskutiert über Gott und die Welt. Das Neringa sei in dieser Zeit interessanter als die Universität gewesen, meint ein Zeuge von damals. Ins Neringa zu gehen, sei eine gute Geistesschule gewesen. Mit „in dieser Zeit“ ist vor allem die klassische Neringa-Zeit gemeint, die von der zweiten Hälfte der 60er Jahre bis in die erste Hälfte der 70er Jahre gereicht hat. Es sind letztlich diese Jahre, die den bis heute anhaltenden Ruhm des Cafes begründen. Man könnte die damalige Neringa-Szene als so etwas wie eine Art 68er-Generation von Vilnius bezeichnen. Eine ganz spezifische Ausformung, denn z.B. in Kaunas entwickelte sich der Protest völlig anders.

Der Katalysator dieses kulturellen Aufbruchs ist die Livemusik, die im Neringa gespielt wird: das ist Jazz. Besonders eine Formation prägt das Neringa nachhaltig: das Ganelin Trio. Seine Musik habe unterschwellig auf alles eingewirkt, was die dort Verkehrenden getan haben, und habe in einem gewissen Sinn das Denken der Zuhörer geprägt, sagt später einer der Stammgäste des Cafes. Das meint, die Stichwörter für den Jazz des Trios (als auch einiger anderer Sowjetjazzformationen), sind Freiheit und Pluralismus. Der Pianist Ganelin sieht sich nicht als bestimmender Direktor seiner Gruppe, sondern als Koordinator einer Föderation frei agierender Musiker. So wird der Jazz, den Ganelin mit dem Schlagzeuger Tarasov und dem Saxophonisten Chekasin gespielt hat, unter den gegebenen politischen und gesellschaftlichen Bedingungen zur politischen Ansage. Das Ganelin Trio ist durch seine Musik nicht unwesentlich an der Schaffung dieses Vilniuser kulturellen Klimas beteiligt.

Aus heutiger Sicht entbehrt das nicht einer gewissen Ironie: einer der Motoren der Vilniuser Kulturszene und in gewisser Weise der „Exportschlager“ Sowjetlitauens, das Ganelin Trio, setzt sich aus Leuten zusammen, die aus Russland zugewandert sind. Die Eltern des namensgebenden Ganelin, sind russische Juden, die im Zuge der Russifizierungsbestrebungen des Baltikums ins Land gekommen sind. Offiziell herrscht Völkerfreundschaft, aber, wie gesagt, es gibt eine unsichtbare Wand und die zugewanderten Russländer sind bei den Litauern nicht so wirklich beliebt.

Ganelin studiert am Vilniuser Konservatorium und entwickelt sich schon in ganz jungen Jahren zum Master Mind der Vilniuser Jazz-Szene. Er tritt auch schon vor der Existenz des Trios im Neringa auf. Seine beiden Kollegen Tarasov und Chekasin sind erst als bereits etablierte Musiker nach Litauen gekommen. Eine Ironie bleibt das letztendlich aber nur für litauische „patriotische Romantiker“. In Wirklichkeit ist es eben diese Offenheit für internationale, d.h. auch russische Einflüsse, die das damalige Vilniuser kulturelle Klima vor Provinzialität bewahrt hat. Im Vilnius der heutigen Zeit hat man offizieller Weise diese Kurve so hingekriegt: 2016 ist das Trio unter den Ausgezeichneten des Litauischen Nationalen Preises für Kultur und Künste. Ganelin selbst lebt aber schon lange in Israel.

Sowjetjazz ist ohne Ganelin Trio nicht zu denken. Daher darf das Trio später auch ins westliche Ausland, sprich, in die sozialistischen Bruderländer reisen und dann sogar im kapitalistischen Westen auftreten. Die Musikkritiker in Berlin, New York und anderswo sind begeistert. Aufregend, expressiv und leidenschaftlich, sei das, was das Trio auf der Bühne bietet und schließlich würzen Ganelin, Tarasov und Chekasin ihre Auftritte noch mit einer Prise Humor und Ironie. Das Cafe Neringa wird für die Entwicklung des Sowjetjazz eine zentrale Basis, sodass es schließlich den Beinamen „Wiege des Jazz“ bekommt. Durch diesen Teil seiner Geschichte angeregt und verpflichtet, engagiert sich heutzutage die Leitung des Cafes für das Jazzfestival von Vilnius.

Der Ruf des Neringa verbreitet sich mit der Zeit auch bis nach Moskau und Leningrad. Sicher ist es nicht nur die Kunst- und Dissidentenszene, die den Ruf vernimmt... In Vilnius sollte man da vorsichtig sein. Die litauische Sowjetrepublik hat in Moskau durchaus den Status eines unsicheren Kantonisten. Der mit allen Wassern gewaschene litauische Parteiführer ist mehrfach nur knapp seiner Entmachtung oder gar Verurteilung entgangen. Zuletzt sind es massive Jugendproteste im Kaunas des Jahres 1972: In Litauen steht die Lage tatsächlich auf des Messers Schneide. Als der Parteivorsitzende 1974 stirbt, wird schließlich ein farbloser und unzweifelhaft Moskau-treuer (schwacher) Nachfolger eingesetzt. Solche Entwicklungen können am Neringa nicht spurlos vorübergehen.

Zunächst beginnt aber die klassische Neringa-Zeit und da ist es ein junger Dichter aus Leningrad, der auf das Cafe aufmerksam wird. Der junge Mann ist zuvor wegen „Parasitentums“ in Lagerhaft gewesen, dann aber offenbar aufgrund zahlreicher Interventionen aus der etablierten sowjetischen Kunstszene (und dem Ausland) wieder freigekommen. Freunde machen den Dichter dann auf Litauen aufmerksam, wo er sich etwas von seinen Leningrader Verstrickungen erholen könne. Der Dichter macht sich also auf und fährt nach Vilnius. Dort wird er in einen Kreis kritisch denkender junger Leute eingeführt, die ihn auch ins Neringa bringen. Endlich schreibt der junge Dichter in seiner Sprache auf das Cafe ein Gedicht. Es beginnt mit den für das Cafe wie auch für Vilnius sinnstiftenden Worten:

Время уходит в Вильнюсе в дверь кафе,

(Wremja uchodit w Vilniuse w dwerʼ kafe)

Время, also Zeit, schreibt da der Dichter, mache sich in Vilnius durch die Tür des Cafes auf den Weg. Diese Worte werden nicht vergessen werden, denn schließlich wird der Dichter 1987 zum Nobelpreisträger für Literatur und spätestens damit weltberühmt: Jossif Brodskij.

Dieser Eröffnungssatz des Gedichts ist bis heute die Identitätsbasis des Cafes geblieben. Der Begriff „Zeit“ bekommt bei Brodskij eine besondere Bedeutung und wird von ihm im Laufe seines Schaffens entwickelt. Hier steht das Wort „Zeit" an erster Stelle und wirft damit ein eigenes Licht auf die Vorgänge in Vilnius. Bei Brodskij geht das Phänomen „Zeit“ über die physikalische Dimension hinaus. „Zeit“ schließt bei ihm auch eine metaphysische Seite mit ein. Zeit steht für Endlichkeit, als Folge davon aber auch für Veränderung und gleichzeitig sieht Brodskij darin das nicht zeitgebundene Umfassende des Daseins.

Als Leser-Normalverbraucher könnte man „Zeit“ als ein anderes Wort für Entwicklung oder Evolution ansehen, womit man der Idee Brodskijs wohl schon nahe kommt. „Zeit“ als Entwicklung ist unbegrenzt, eigentlich nicht steuerbar und damit letztendlich der irdischen Dimension enthoben. Da kommt noch ein weiteres Element hinzu: Die Besucher des damaligen Neringa haben Zeit. Der real existierende Sozialismus hat im Gegensatz zum real existierenden Kapitalismus seine Bevölkerung nicht zur Eile animiert. Seine Menschen haben und nehmen sich Zeit. Und manche haben diese dazu genutzt, um über die wirklich wichtigen Fragen des Lebens nachzudenken. Vielleicht sollte man darin den Grund sehen, wieso es im Kommunismus eine Revolution gab, im Kapitalismus aber nicht.

In Litauen der 60er und 70er Jahre findet „Zeit“, also ein Versprechen auf Veränderung, in einem Cafe statt. Die Energie, die diese „Zeit“ schließlich bekommt, ist so groß, dass sie aus dem Cafe ins Freie gelangt. Die Urheber dieses Vorgangs sind von ihrem Werk, laut Dichter, übrigens selbst so überrascht wie auch angetan, dass sie ihm lange nachstarren, bevor sie richtig begreifen. Die „Zeit“ verflüchtigt sich nicht beim Verlassen des Cafes, sondern wechselt die Dimension. Aus der wahrnehmbaren, materiellen Dimension des Cafes geht sie in eine nicht mehr steuerbare, andere Dimension über. Mit anderen Worten, was einmal als Idee (im Cafe) angestoßen worden ist, lässt sich nicht mehr einfangen.

Im Laufe des Gedichts bricht Brodskijs schließlich die zu Beginn aufgezogene Atmosphäre und holt uns auf den Boden der Realität, oder was man dafür halten könnte. Wahrscheinlich hat man ihm vor Ort das auch übel genommen. Brodskij entweiht gleichsam das Cafe und zeigt es uns als das, was es wohl auch gewesen ist: ein Ort der Selbstdarstellung und des spontanen Vergnügens. Die Hauptrolle spielen da die Beine der Serviererin. Brodskij sieht die Serviererin auf ihren Beinen elegant durch den Raum gleiten, nachdem sie diese gerade zuvor noch auf die Schultern eines heimischen Fußballstars gelegt hat.

Wie so oft hat auch diese Geschichte ihren doppelten Boden: Zu Beginn dieser Strophe verwendet Brodskij eine Redewendung, die sich augenscheinlich von dem russischen Märchen des „Goldenen Fischleins“ ableitet. Das „Goldene Fischlein“ ist die russische Version des von den Brüdern Grimm aufgegriffenen Märchens vom „Fischer und seiner Frau“. Das Märchen erzählt, wie sich ein armes Fischerpaar von einem verzauberten Fisch, etwas mehr Wohlstand und schließlich Reichtum und Macht wünscht. Der Fisch erfüllt zunächst diese Wünsche, dann wird ihm die Machtgier der Fischersleute aber zu viel und er schickt die beiden wieder zurück in ihren alten, verkommenen „Pißputt“.

Brodskij verpackt in diese letzte Strophe offenbar eine Warnung. Das Geschehen im Neringascheint ihn in gewisser Weise an dieses Märchen bzw. an das Treiben am Hof der zu Reichtum und Einfluss gekommenen Fischerleute zu erinnern. Auch die Gäste des Neringa könnten schließlich dem Glanz der Oberflächlichkeit verfallen und ihre Möglichkeiten überschätzen, womit sie genauso der Endlichkeit der „Zeit“ ausgeliefert sind.

Jossif Brodskij wird 1972 aus der Sowjetunion ausgewiesen und damit enden auch seine Besuche im Neringa. Doch der Ruf des Cafes ist bereits gefestigt und so finden sich bald auch andere Persönlichkeiten des Kultur- und Gesellschaftslebens aus den sowjetischen Kernlanden ein: Die beiden Protestsängerheroen Vysockij und Okudschava oder die Dichter Jevgenij Jevtuschenko, Viktor Nekrasov und Bella Achmadulina. Ein weiterer Nobelpreisträger, der bereits als solcher ausgelobt ist, nimmt ebenfalls im Cafe Platz.

Es ist kein Künstler, sondern ein Menschenrechts- und Friedensaktivist, der just in dem Moment des Jahres 1975 in Vilnius weilt und dort ins Cafe geht, als man ihm eigentlich in Oslo den Friedensnobelpreis überreichen möchte: Andrei Sacharow. Sacharow ist von den Moskauer Behörden die Ausreise zur Verleihung verwehrt worden, sodass schließlich seine Frau Jelena Bonner den Preis übernimmt und die von Sacharow verfasste Dankesrede dem Nobelpreisauditorium zu Gehör bringt.

Sacharow selbst fährt stattdessen nach Vilnius, um dort seinem von der Sowjetjustiz bedrängten Freund Sergei Kowaljow zu Hilfe zu eilen. Der Moskauer Kowaljow hat sich u. a. für eine für Litauen wichtige Untergrundpublikation engagiert und deshalb wird ihm nun der Prozess gemacht – in Vilnius, nicht zuletzt deshalb, weil die Stadt ziemlich abseits der Wahrnehmung der westlichen Öffentlichkeit liegt. Sacharows Reise dorthin, während er eigentlich in Oslo sein sollte, unterläuft diese Strategie der Autoritäten. Als Sacharow versucht, als Zuhörer in den Gerichtssaal zu kommen, wird ihm der Zutritt erwartungsgemäß verwehrt. Das Neringa dagegen nimmt ihn gerne auf. Sacharow, der sich vom „Vater der sowjetischen Wasserstoffbombe“, zum Menschenrechts- und Friedensaktivisten gewandelt hat, wird heutzutage vor allem in letzterer Eigenschaft wahrgenommen. Dabei ist er zunächst vielleicht einer der genialsten Physiker und brillantesten Köpfe des 20. Jahrhunderts überhaupt.

In Vilnius regen Sacharow und seine Mitreisenden ganz offenbar bereits die Gründung einer litauischen Helsinkigruppe an. Helsinkigruppe oder Helsinki-Komitee meint eine Vereinigung systemkritischer Bürger im kommunistischen Osten, die die im KSZE-Vertrag von Helsinki garantierten Menschenrechte gegenüber dem übermächtigen Staat einfordern. Sacharows Anregung wird in Vilnius im November/Dezember 1976 umgesetzt, und aus seinem Besuch entwickeln sich gute Beziehungen der litauischen Menschenrechtler und Dissidenten zu den Sowjetkritikern in Moskau. Zu den Mitbegründern der litauischen Helsinkigruppe gehören sowohl der Quartiergeber Sacharows in Vilnius Eitan Finkelstein, als auch Tomas Venclova, der heutzutage auch in den deutschsprachigen Ländern gut bekannte Dichter, Essayist, Übersetzer und Systemkritiker. Venclova ist nicht nur der Begleiter Brodskijs bei dessen Vilnius-Aufenthalten, sondern mit seinem Freundeskreis auch oft gesehener Gast im Neringa.

Venclova ist Kosmopolit, der einmal von sich selbst sagt, er sei sogar ein Russenfreund. Schließlich übersetzte er Brodskij und andere wichtige Dichter Russlands ins Litauische. Eine solche Haltung stößt aber bereits in Sowjet-Litauen an seine Grenzen. Dem Helsinki-Komitee in Vilnius sei sodann auch vorgeworfen worden, berichtet Venclova, dass es nicht aus litauischen, sondern „gesamtsowjetischen“ Dissidenten bestehe. Venclova steht dagegen für ein Vilnius, das seine Kraft aus seiner geographischen Lage, wie auch seiner (leidvollen) Geschichte bezieht: Vilnius als der Ort, an dem sich mittel- und osteuropäische Kultur und Geschichte überschneiden und das fähig wäre, daraus etwas Konstruktives zu formen.

Die sowjetischen Behörden raten Venclova schließlich dringend zur Ausreise. Venclova geht in die USA und unterrichtet sodann an der Yale-Universität Slawische Sprachen und Literatur. Er bleibt aber ein aufmerksamer Beobachter der Geschehnisse in seiner Heimat und so wundert es nicht, dass er den in der litauischen Unabhängigkeitsbewegung „Sajudis“ unter ihrem Vorsitzenden Landsbergis wieder erstarkenden Nationalismus klar kritisiert. Im Westen hat man damals gerne über solche Entwicklungen hinweggesehen, doch seine Folgen bereiten heute nicht nur in Berlin und Brüssel Kopfzerbrechen.

Den Sowjetbehörden setzen schließlich dem ungezwungenen Treiben der Gäste im NeringaSchranken. Als Verwaltungschefin wird eine Frau eingesetzt, die bis dahin als Pflegerin in einer Nervenheilanstalt gearbeitet hat. Ein besseres Bild dafür, was die Bürokratie offensichtlich von den Gästen gehalten hat, kann es kaum geben. Die neue Leiterin versucht dem Ganelin Trio die Stimmung zu vermiesen und bringt schließlich das klassische Neringa-Geschehen zum erliegen. Gleichzeitig wendet sich aber auch eine neue Generation von kulturell interessierter Jugend von der mittlerweile etablierten Szene im Neringa ab und sucht sich andere Cafes als Treffpunkte. Nichts desto trotz, der Mythos Cafe Neringa als ein Ort, wo sowjetische Kultur und Gesellschaft aufgebrochen worden ist, ist nicht mehr auszulöschen. Die Sowjetunion ist von der Bildfläche verschwunden, das Cafe aber existiert weiter.

Das Cafe Neringa hat auch in seiner rein physischen Existenz Bedeutung erlangt. 1970 bekommt es den Titel eines „staatlich geschützten Denkmals der litauischen Architektur“. Insbesondere für die beiden jungen Architekten des Cafes, den Brüdern Algimantas und Vytautas Nasvytis (bzw. Plural: Nasvyčiai) wird das Neringa zum Ausgangspunkt einer glänzenden Architektenlaufbahn, die Algimantas nach der Unabhängigkeit sogar bis in ein Ministeramt führt. Die beiden Brüder sind es auch, die damals für ihre Schöpfung den Namen Neringa finden. Das brunnenartige Gebilde im Bar-Raum des Cafes dürfte seine Existenz wohl diesem Umstand verdanken, dass der Name „Neringa“ etwas mit dem Element Wasser zu tun hat. Brodskij spielt in seinem Gedicht mit der Erwähnung des Märchen-Fischleins gleichzeitig auch auf dieses „Gewässer“ und die damit verbundenen Geräusche an. Nicht zu vergessen sind die drei Künstler, die den Brüdern Nasvyčiai bei der Ausstattung des Cafes zur Seite standen: Vladas Jankauskas, der Maler Vytautas Povilaitis und der Bildhauer Juozas Kedainis. Die vollendete künstlerische Ausgestaltung des Cafes rief sogleich Kritiker auf den Plan, die, nicht unlogisch, das Ganze als unsozialistische Geldverschwendung brandmarkten, oder auch die künstlerischen Darstellungen kritiserten.

Das klassische Neringa ist also etwas gewesen, was seine Besucher gleichzeitig auf verschiedenen Ebenen ihrer Wahrnehmung angesprochen und sie damit dem sowjetischen Alltag enthoben hat: der ästhetischen, der musikalischen, der intellektuellen, und nicht zu vergessen, der kulinarischen. Und – wenn Brodskij nicht grob übertrieben hat – gab es für die Beine der Serviererin wohl auch eine Wahrnehmungsebene ....

Nachbemerkungen:

Eigentlich könnte man noch einen dritten Artikel-Teil zum Schlagwort „Neringa“ schreiben. Wie zu Beginn erwähnt, fungiert „Neringa“ in Litauen auch als weiblicher Vorname und die eine oder andere Trägerin dieses Namens wäre es durchaus Wert, öffentlich Erwähnung zu finden.

Eine Neringa, die, sehr wörtlich genommen, für Schlagzeilen gesorgt hat, war die Journalistin Neringa Jonušaitė. Jonušaitė hat das Verdienst, sich der Bedeutung des Cafe Neringa und den damit verbundenen Erinnerungen angenommen zu haben und daraus ein Buch zu verfassen. Es ist 2014 erschienen („Neringos" kavinė: sugrįžimas į legendą / Cafe Neringa: die Rückkehr einer Legende). Aufgrund mangelnder Litauisch-Kenntnisse meinerseits hat dieses Werk allerdings bei der Abfassung dieses Aufsatzes keinerlei Rolle gespielt. Dieser Aufsatz basiert auf schon vor längerer Zeit gesammeltem Material. Soviel ich mitbekommen habe, gab es für das Buch durchaus auch Kritik, weil es über lange Strecken quasi eine Aneinanderreihung letztendlich ähnlicher Erinnerungen darstelle. Insofern bietet es eine Sammlung von zahlreichen Anekdoten über die klassische Neringa-Zeit und ihre geschichtlichen Umstände. Nichts desto trotz hat Neringa Jonušaitė dem Cafe damit ein schon längst überfälliges Denkmal gesetzt. Es war für sie offenbar ein großes Anliegen, dieses Buch zu schreiben. Während sie es verfasste, war sie jedoch schon schwer erkrankt. Als ihr Buch im Cafe Neringa der Öffentlichkeit vorgestellt wurde, lag Jonušaitė Neringa bereits unter der Erde.

Um mit dem Stichwort „Neringa“ nicht ganz so traurig zu enden: Eine „Neringa-Favoritin“ ist z. B. die junge Fotografin Neringa Rekašiutė, die auch schon international Aufmerksamkeit gefunden hat. Für sie ist Fotografie ein Medium, das auch gesellschaftliche Relevanz besitzt. Insbesondere möchte sie mit ihren Bildern den Blick der Gesellschaft auf die Frau verändern. Ihre Fotos finden sich zum Beispiel auf Instagram

Das Gedicht, das Jossif Brodskij (bzw. später: Joseph Brodsky) über das Cafe Neringa verfasst hat, gehört zu einem Gedichte-Zyklus über Litauen, das „Litauische Divertimento“. Die hier dargebotene Interpretation stellt meine Sicht auf den Text dar und erhebt keinen Anspruch auf Absolutheit. Leider war es aus prinzipiellen Gründen nicht möglich, vom Verlag das Recht für eine Wiedergabe des Gedichts auf dieser Seite zu bekommen. Die offizielle Übersetzung aus dem Russischen stammt von Birgit Veit und ist 1994 im Hanser Verlag („An Urania“) erschienen. Wie es das Netz aber so will, lässt sich dieses Gedicht dort aber sehr wohl finden.

In Vilnius wohnte Brodskij privat. Seine Aufenthaltsadressen sind bei Literatur affinen Litauen-Touristen Teil des Besucherprogramms: eine entsprechende Gedenktafel trägt das Wohnhaus in der Liejyklos Straße in der Innenstadt. Dieser Straße, bzw. ihrem historischen Umfeld, hat er auch ein Gedicht gewidmet. Der Straftatbestand des „Parasitentums“, der auf Brodskij angewendet wurde, wurde in der ersten Hälfte der 60er Jahre in der Sowjetunion eingeführt, um insbesondere unliebsame Künstler in den Griff zu bekommen. Diese gingen oft keiner typischen „werktätigen“ Arbeit nach, sondern machten, wie Brodskij, so „nutzlose“ Sachen wie Dichten oder Übersetzen.

Tomas Venclova gilt, zumindest im Westen, als der wichtigste Zeitzeuge, der jüngeren litauischen Geschichte und des litauischen Wiedererstehens, das ganz unscheinbar schon lange vor der eigentlichen Loslösung von der Sowjetunion begonnen hat – z. B. im Hotspot Cafe Neringa. Venclova beeindruckt damit, die großen Linien der litauischen und mittel-osteuropäischen Geschichte herausschälen zu können. Doch auch seine Geschichtswahrnehmung ist nicht über jeden Zweifel erhaben. Venclova, der seinen Hauptwohnsitz weiterhin in den USA hat, ist in Litauen durchaus geachtet und geehrt, hat sich aber mit seinem Standpunkt, zuerst vor der eigenen Türe zu kehren, in seiner Heimat nicht nur Freunde gemacht. Venclova brachte früher einmal, noch unter anderen Bedingungen, die Hoffnung zum Ausdruck, dass Vilnius zu einem Zentrum einer neuen osteuropäischen Formation werde. Tatsächlich hätte (Konjunktiv!) Vilnius eine wichtige Scharnierfunktion im mittel-osteuropäischen Gefüge. Das in der Einleitung zu diesem Blog https://mittelundosteuropa.wordpress.com/ genannte Beispiel, dass an einer Stadtachse die Ostkirche im Westen und die Westkirche im Osten der Achse stehen, bezieht sich auf Vilnius. Das Cafe/Restaurant Neringa liegt an dieser Achse fast schon in der Mitte zwischen beiden Kirchen (Gedimino Prospekt Nr. 23). Mit dem Beharren auf den aktuellen EU Anti-Russland-Sanktionen, das vor allem von Litauen, den anderen beiden baltischen Staaten und Polen ausgeht, amputiert man sich selbst seiner eigenen Möglichkeiten.

Das Cafe Neringa war und ist gleichzeitig auch Restaurant für das dazugehörige Hotel, bzw. vorbeikommende Gäste. Mit der Generalsanierung des Cafe-Restaurants Anfang des neuen Jahrtausends wurde eine neue Kellerbar installiert, die heutzutage die Rolle des eigentlichen Cafes spielt und insbesondere jüngere Leute ansprechen soll. Die neue Cafe-Bar wurde mit Interieur aus den 60er und 70er Jahren eingerichtet. Man kann dort bei gepflegter Discomusik auch von der Restaurantkarte speisen, von Donnerstags bis Samstags gibt es am Abend Livemusik und anschließend heißt es bis in die frühen Morgenstunden abtanzen.

Teil 1 dieses Beitrages findet sich auf dem Blog: https://mittelundosteuropa.wordpress.com/

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Michael Schütz

Unabhängiger Historiker

Michael Schütz

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