"Weder Moskau noch Washington". Ist das so?

Eine Replik Nord-Stream2, die Welt und Wir

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Der Autor las den im Titel genannten Artikel von Claudia Kemfert und hat sich dazu seine Gedanken gemacht: Im Moment erleben wir gerade einen einzigartigen Moment in der europäischen Geschichte, der irgendwann einmal Prüfungsstoff für die Schulkinder in Südamerika oder Afrika sein wird. Wieso er nicht Prüfungsstoff für europäische Kinder sein wird, ist leicht erklärt: weil es Europa dann nämlich nicht mehr gibt. Europa ist dann Ackerboden oder so etwas ähnliches. Farmer aus Nordafrika fliegen am Morgen mit Ihren Jets zur Feldarbeit nach Europa…. und sind am Abend wieder zurück bei ihren Liebsten.

So weit so gut. Oder hat jetzt irgendjemand ein Problem mit dieser Zukunftsschau? Wer damit doch ein Problem hat, sollte vielleicht hier weiterlesen:

Der Versuch die Pipeline Nord-Stream2, die wir hier NoS2 abkürzen, aus den Schuhen zu kippen, steht in einem doppelten Zusammenhang. Die Umstände unter denen das erfolgt, wirken wie Teile eines „Kleinen Schritte-Programms“ auf eine militärische Auseinandersetzung hin. Schon im Fall Skripal wurde eine Argumentationsstruktur beobachtet, die man eigentlich nur gebraucht, wenn man einen Krieg auslösen möchte. Das machte die Beobachter damals leicht nervös, aber es stellte sich heraus, dass man nicht so heiß essen will, wie gekocht wird. Es geht eher darum, kleine unmerkliche Schritte auf eine Konfrontation hin zu setzen. Da bei einer solchen Taktik letztendlich die Grenzen verschwimmen, wird man es irgendwann nicht mehr in der Hand haben, ob das dann nicht der letzte kleine Schritt zu viel war oder nicht.

Dass Problem dabei ist aber ein noch vielfältigeres: Was das Land der Deutschen Michels da gerade aufführt, ist, einen Sprengsatz an den gewohnten europäischen Einigungsprozess zu legen. Das alleine ist schon Schaden genug. Wenn es diesen Sprengsatz aber tatsächlich zünden möchte, wird es zwei tragende Säulen in Europa hinweg sprengen: die Säule Vertrauen und die Säule Energiesicherheit. Da ein geeintes Europa auch noch auf anderen Säule ruht, wird das auf den ersten Blick nicht auffallen, aber längerfristig ist hier klar Dämmerung angesagt.

Dazu muss man sich einmal bewusst machen, dass Energiewende zwar ein schönes Projekt, aber derzeit etwas umnebelt ist. Einerseits hängt das damit zusammen, dass viel Öko-Schein in dieser Energiewende drinnen steckt. Nehmen wir zum Beispiel das Windrad: Ein Windrad ist kein nachwachsender Rohstoff, sondern muss aufwendig produziert werden. Das kostet – erraten – Energie. Da die Bodenorganismen danach nicht in der Lage sind, ein Windrad zu Humus zu verarbeiten, muss ein Windrad auch wieder abgebaut werden und das kostet – auch schon wissen – Energie. In der Zeit dazwischen produziert ein Windrad tatsächlich Energie und zwar gerade mal soviel, dass die Energiebilanz positiv ist. Nicht berauschend positiv, aber immerhin. Weil bei den Produktionsprozessen allerdings auch eine Menge CO2 anfällt, schaut die Energiebilanz dann doch nicht mehr ganz so grün aus, wie zunächst vermutet und da zudem ein Windrad für bestimmte Tierarten ein „Sicherheitsproblem“ darstellt, verkehrt sich das Energiewende-Tool „Windrad“ schließlich eher in ein Horrorszenario. Es mag ja tatsächlich Leute geben, die glauben, dass „Erderwärmung“ unser größtes Problem darstellt, aber es gibt einige „Sachen“, die ein viel ernsteres Problem darstellen und das ist neben der derzeit enormen globalen Kriegsgefahr vor allem das Artensterben und damit verbunden ein drohender Ökokollaps. Wenn wir jetzt das Artensterben mit Windrädern sogar noch weiter befördern möchten, ist das schon ein bemerkenswertes Signal: Unseren „Fortschritt“ drücken wir auf Kosten anderer durch, da lassen wir uns sicher nicht davon abbringen. Tolle Energiewende! Da auch andere sog. Grüne Energien unter dem Strich eine eher zweifelhafte Bilanz nach sich ziehen, ist schon so mancher Umweltschützer zur Erkenntnis gekommen, dass schlussendlich doch Atomkraft die grünste aller Energieformen ist…

Die Energiewende wird sich also nicht so sehr auf der Basis der Erzeugung abspielen können, sondern – und das ist die andere Seite – auf der Basis des Verhaltens. Energieeinsparung ist ein Teil der notwendigen Verhaltensänderung und der andere wird eine Änderung unseres allgemeinen Alltagsverhaltens sein. Und da muss ganz klar gesagt werden: eine Energiewende ohne einen Ausstieg aus der Autokultur wird es nicht geben. Ein solcher Ausstieg ist auch deswegen so notwendig, weil die Autokultur unser Denken massiv in die falsche Richtung geprägt hat und wir, wenn wir tatsächlich etwas für den Fortbestand des menschlichen Lebens am Globus tun wollen, wieder lernen müssen, ein verbindendes Denken zu entwickeln. Offen gesagt, es macht jetzt nicht den Eindruck, dass die Leute ihr eigenes Verhalten mit dem Begriff „Energiewende“ irgendwie in Zusammenhang bringen möchten.

Wir werden also noch auf eine absehbare Zeit mit einer Energieform Erdgas leben müssen und da kommt NoS2 eigentlich gerade recht. Dazu muss man wissen, dass die Energiepipelines zunehmend von Europa weg zeigen und gewisse starke Kräfte gerade dabei sind, auf Erdgasfelder zuzugreifen, die bisher nur von Europa genutzt worden sind. Das heißt, die Energiesicherheit in Europa wird sich mit großer Wahrscheinlichkeit so oder so verschlechtern und für Europa ist es daher wichtig, eine starke, aktive Marktpräsenz zu zeigen, um am Ball zu bleiben. Je mehr sich Europa aus dem russischen Energiemarkt zurückzieht, um so prekärer wird seine Marktlage werden. Das wird sich durch eine Abhängigkeit von anderem Gas, das unter fragwürdigen Bedingungen gewonnen wird, nicht verbessern, eher umgekehrt, weil die damit verbundenen Umweltschäden so groß werden, dass diese Quelle früher oder später versiegen wird. Auf diese Art und Weise hat sich Europa dann zu einem Spielball des Marktes gemacht, den man bedenkenlos hin und her treten kann. In der Folge wird sich daher für so Manche in Europa die Versuchung steigern, die verlorene Marktteilnahme mit militärischen Mitteln zurückzugewinnen.

Allerdings kann man auch davon ausgehen, dass sich, bevor es so weit kommt, einige Europäer bereits Gedanken gemacht haben, über die Deutschen Michels und deren Verhalten und Schlüsse daraus ziehen werden. Da man mit einem – gegebenenfalls – Rückzug aus NoS2 dem Europäischen Vertrauen und der Energiesicherheit gekündigt hat, ist es eine realistische Option, dass sich dadurch eben ein neues „Europa“ entwickelt, so wie ein gutes Foto als Papierabzug im Dunkelbad, bei dem die Konturen langsam immer sichtbarer werden, während die Farben am alten Foto immer mehr verblassen. Dieses Neue Europa wird sich besonders entlang von sicheren Energielinien entwickeln und dann ein ganz anderes, vielleicht sogar überraschendes Aussehen haben, als das bisher Gewohnte. Das wäre tatsächlich eine spannende Entwicklung und dass Deutschland dabei dann keine Rolle mehr spielen wird, versteht sich von selbst.

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Michael Schütz

Unabhängiger Historiker

Michael Schütz

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