Das Photo

Kehrseite II Als sie im Supermarkt bezahlen wollte, fiel ihr ein kleines Zettelchen in ihrem Portemonnaie auf. Es war der Abholschein für ein Photo, das sie vor ...

Als sie im Supermarkt bezahlen wollte, fiel ihr ein kleines Zettelchen in ihrem Portemonnaie auf. Es war der Abholschein für ein Photo, das sie vor ein paar Wochen bestellt hatte. "Ach ja, das hätte ich beinah vergessen. Ich muss es endlich abholen." So steckte sie das Zettelchen in ihre Jackentasche und machte sich auf den Weg zum Photoladen.

Es ging um ein Photo, das ihren Vater zeigte. Als sie vor ein paar Monaten bei ihrer Mutter gewesen war, hatte diese sich daran erinnert: "Du hast doch im letzten Sommer deinen Vater vor unserem alten Haus fotografiert, nicht wahr? Das war das letzte Photo von ihm. Kann ich es haben?" "Natürlich. Aber Vater ist da nur sehr klein drauf. Ich habe ja vor allem das Haus aufgenommen."

Ein Jahr zuvor hatte sie ein paar Tage bei ihren Eltern verbracht und Bilder des alten Hauses gemacht, das bald abgerissen werden sollte. Mit der Eingangstür angefangen, hatte sie Bilder gemacht von jedem einzelnen Raum, jedem einzelnen Bestandteil der Räume und vom ganzen Haus aus verschiedenen Richtungen. Anschließend war sie auf die Gasse vor dem Haus gegangen, um die ganze Hausfront zu fotografieren.

In diesem Moment sah sie, wie die schwere Haustür sich knirschend öffnete und ihr Vater langsam herauskam. "Kannst du einen Moment beiseite gehen?", hätte sie beinahe gesagt. Aber sie überlegte es sich sofort anders, denn sie wusste, dass diese Worte ihren Vater verstimmt hätten und die Spannung zwischen ihnen wieder gewachsen wäre. Also wollte sie lieber abwarten, bis er von selbst ging. Aber dann rief ihre Mutter, die gerade vom Einkaufen nach Hause kam: "Mach doch ein Photo mit Vater! Er gehört ja zu dem Haus!" Sie wollte nicht streiten. "Na gut, von mir aus!", sie drückte auf den Auslöser.

"Du kannst das Bild doch vergrößern lassen, oder?", fragte ihre Mutter in der neuen Wohnung, wo sie seit einem halben Jahr allein wohnte, nachdem ihr Mann gestorben und das uralte Haus seiner Familie abgerissen worden war.

"Es ist aber kein besonders schönes Photo. Vater war doch wieder mürrisch wie immer." Sie steckte die Hand in die Jackentasche und berührte mit den Fingerspitzen den Abholzettel. "Er hat mich wie immer mit seinem muffeligen, unzufriedenen Blick angeschaut. Kein Lächeln. Ja, er hat mir nie zugelächelt. Er war nie mit mir zufrieden!" Sie zerknüllte den Zettel. "Egal wie ich mich anstrengte, nie war er zufrieden mit mir. Auch als ich die beste Note in der Klasse bekam, auch als ich im Laufwettbewerb den ersten Platz gewann, auch als mich alle im Klavierkonzert lobten, hat er mich nicht gelobt. Als ich die Aufnahmeprüfung der Universität bestanden hatte und alle auf mich stolz waren, hat er mich bloß belehrt: ‚Eine Prüfung zu bestehen ist größtenteils Glücksache.´ Als ich den Job gekriegt habe, von dem man nur träumen konnte, hat er mir gepredigt: ‚Achte bloß gut darauf, was in deiner Firma alles gut läuft.´ Als ich in der Firma endlich eine bedeutende Stellung bekam, hast er gesagt: ‚Sei nicht zu hochnäsig!´ Er wollte meine Leistung nie anerkennen. Alles, was ich machte, war für ihn falsch. Nichts, was ich machte, gefiel ihn. Er war nie, nie mit mir zufrieden! Warum? Gegenüber meiner Schwester war er nett. Warum war nur mit mir so streng?" Sie zerknüllte den Abholzettel vollständig und so lange, bis sie vor der Tür des Photoladens stand.

Der Mann an der Kasse strich ihn glatt und ließ den Blick einmal über die Regale hinter ihm schweifen. Nach wenigen Sekunden hielt er einen großen Umschlag in den Händen. "Sie wollten von einer Aufnahme einen Abzug im Großformat haben, stimmt´s?" "Ja, meine Mutter wollte das", erwiderte sie barsch. "Überprüfen Sie bitte, ob alles in Ordnung ist." Sie öffnete den Umschlag und zog den Abzug heraus. Zuerst fiel ihr Blick auf das vertraute Ziegeldach. Auf dem vergrößerten Bild konnte sie sogar das in manche Ziegel eingeprägte Muster erkennen. Auf der hellen Wand zeichneten sich die Holzleisten mit ihrer schönen Maserung ab. Darunter hing die alte Neonlampe mit Milchglas, dessen eine Ecke zersprungen war. Und darunter - sie hielt den Atem an. Unter der Lampe vor der ausgeblichenen hölzernen Haustür lächelte ihr Vater. Mit ruhigen, zufriedenen, anerkennenden Augen schaute er auf seine Tochter.

Miyuki Tsuji wurde 1968 in Osaka geboren. Nach einem Slavistik-Studium in Tokio reiste sie die Seidenstraße entlang bis nach Europa und ließ sich schließlich in Hamburg nieder.


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