Der Verlust

KEHRSEITE Als F. an diesem Nachmittag vor die Wohnung ihres chinesischen Freundes Zhang trat, wurde sie fast ohnmächtig. An der Wand, dicht neben der Tür, wo ...

Als F. an diesem Nachmittag vor die Wohnung ihres chinesischen Freundes Zhang trat, wurde sie fast ohnmächtig. An der Wand, dicht neben der Tür, wo das Namensschild ihres Freundes bis zu ihrem letzten Besuch vor drei Monaten immer gehangen hatte, war nichts mehr zu sehen. Die Tür, auf der eine Kalligrafie auf rotem Papier, angeblich ein glückbringender Spruch, geklebt hatte, war wieder von so sauberem Weiß, als ob niemals etwas darauf geklebt hätte.

Einige Minuten war sie unfähig, sich zu bewegen, sie starrte nur die weiße Fläche der Tür an. Er war weg. Und das hieß, er war nach China zurückgezogen. Da sie ein wenig zu spät gekommen war, hatte sie jemanden, den sie eigentlich nie hatte verlieren wollen, für immer verloren. Sie wusste, dass er sich nie wieder von selbst melden würde, und sie hatte keine Ahnung, wie sie ihn hätte finden können. Sie wusste zwar, dass er aus Shanghai kam, aber er hatte gesagt, dass er irgendwo anders leben werde, wenn er wieder in seinem Land sei.

Die weiße Fläche breitete sich immer weiter, immer größer vor F.'s Augen aus. Sie hatte das Gefühl, ein winziges Reiskorn an einem weißen Sandstrand verloren zu haben. Aber am schlimmsten war, dass dieses Reiskorn absolut einmalig und durch kein anderes Korn zu ersetzen war. Unwillkürlich fiel sie vor der leeren weißen Tür um.

Warum bin ich nicht früher gekommen? - Auch sie stellte sich diese Frage, die unzählige Menschen sich unzählig oft gestellt haben müssen. Sie war zwar in den letzten Wochen stark beschäftigt gewesen wegen tausender Kleinigkeiten, aber nichts davon hätte sie doch daran gehindert, ihren Freund an einem Abend zu besuchen und das Missverständnis aufzuklären. - Vor zwei Monaten hatte F. von ihrem Freund einen Brief bekommen, in dem er schrieb, dass er sie nie wieder sehen wolle. Über konkrete Gründe stand nichts geschrieben. Aber sie konnte ahnen, worum es ging. Sie wollte ihn sofort sehen und erklären, was sie wirklich gemeint hatte. Trotzdem tat sie es nicht, weil sie sich daran erinnerte, dass die Schwierigkeiten in ihrer Beziehung mit ihm immer daran lagen, dass sie viel emotionaler und schneller mit jeder ihrer Reaktionen war als er. Deswegen wollte sie nicht noch einmal so schnell sein und ihr Verhältnis zu ihm endgültig zerstören.

Sie hatten keine gemeinsamen Bekannten. Sie kannte den Namen des Geschäfts, wo er arbeitete, mehr nicht. Sie wusste sehr wenig von seiner Umgebung, da sie dachte, dass ihre Beziehung nur flüchtig sei. Aber erst jetzt, als sie ihn in einem neun Millionen sechshunderttausend Quadratkilometer großen Land unter anderthalb Milliarden gleich schwarzhaariger Menschen aus den Augen verloren hatte, wurde ihr bewusst, dass sie ihn eigentlich nie hatte verlieren wollen. Wenn Zhang nicht aus China, sondern aus Andorra oder aus Liechtenstein oder von einer kleinen Insel in der Karibik käme, oder wenn er nicht gerade Zhang hieße, sondern einen etwas ungewöhnlicheren Namen hätte ...

Sie wusste nicht, wie sie auf diese schwindelerregende Wirklichkeit reagieren sollte. Am besten wäre es, wenn sie ihn einfach sofort vergessen könnte. Doch sie spürte, dass sie sein zierliches Gesicht von nun an viel deutlicher als früher vor ihren Augen sehen würde. Aber wenn sie ihn nicht vergessen konnte, musste sie ihn suchen und finden. Nur wie?

F. wurde übel vor Verzweiflung. Beinahe hätte sie sich übergeben, als ihr etwas in den Sinn kam. Ja, er hatte es ein paar Mal erwähnt. Er hatte gesagt, dass er irgendwann unbedingt am Fluss Jang-tse leben wolle. Der Fluss war zwar sechstausenddreihundert Kilometer lang. Aber verglichen mit der Suche in einem ganzen neun Millionen sechshunderttausend Quadratkilometer großen Land wäre die Suchaktion entlang dem Fluss viel leichter.

In F.'s Herz leuchtete wieder ein Funken Hoffnung. Sie dachte, sie könnte ihn vielleicht sogar noch finden, bevor der riesige Staudamm am Fluss fertiggebaut sein würde. Und sie glaubte, dass sie mit dieser Hoffnung noch einmal dreißig Jahre leben könnte.

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