Die Kamelie

Kehrseite II Die Kamelie stand in einem viereckigen Topf aus Porzellan. Ihr zierliches Stämmchen wuchs aufrecht aus der bemoosten Erde empor und stützte drei ...

Die Kamelie stand in einem viereckigen Topf aus Porzellan. Ihr zierliches Stämmchen wuchs aufrecht aus der bemoosten Erde empor und stützte drei Zweige mit einer Vielzahl gerundeter, dunkler Blätter. Zwischen ihnen sahen zwei, drei Knospen hervor, die noch grün und hart schienen. Nur eine einzelne Knospe zeigte an der Spitze das Rot einer Blüte, die sich in wenigen Tagen öffnen würde. Mit der Kamelie in ihrer Mitte saßen sich die Beiden gegenüber, in einem schattigen Zimmer, in dem es nur einen kleinen Ölofen gab.

Draußen vor der Glastür schneite es. Auf die Steinlaterne, auf die Eisscheibe im kleinen Teich, auf die entblätterten, dürren Büsche, auf die Steine und die Kiesel, die die Erde bedeckten, fiel lautlos der Schnee. Es war nichts zu hören außer dem Knistern des Ölofens, bis der Mann schließlich die Stille unterbrach: "Und wann - reisen Sie ab?"

Die Frau ihm gegenüber hob rasch ihren Blick, der bis dahin zwischen ihnen auf der Pflanze geruht hatte.

"Übermorgen" - ihre Augen hatten einen fiebrigen Glanz - "wenn nichts geschieht."

"Es kann doch nichts geschehen."

"Ja" - dann schwieg sie einen Augenblick - "eigentlich nicht."

"Oder stimmt etwas nicht?"

"Nein. Alles in Ordnung. Deshalb habe ich Ihnen meine Kamelie mitgebracht. Jemand hat mir erzählt, eine Kamelie vertrage keine weiten Reisen. Können Sie sie behalten?"

"Selbstverständlich. Immer wenn Sie in der Stadt sind, können Sie hier vorbeikommen, um sie zu sehen."

"Danke." Sie senkte wieder ihren Blick.

"Wann kommen Sie denn einmal wieder?"

Die Frau antwortete darauf nicht. Das Knistern des Ofens war wieder das einzige Geräusch, das im Zimmer zu hören war. Aber auch das erstarb nach einer Weile.

"Das Öl ist wohl aus" - er wollte gerade aufstehen, um Öl zum Nachfüllen zu holen, als er etwas Kleines lautlos zu Boden fallen sah.

Es lag an einer Kante des Topfs, in dem die Kamelie stand. Es war kegelförmig wie ein kleiner Vogel, mit hellgrünem Gefieder und einem tiefroten Köpfchen. Es war die Knospe. Die Knospe, die schon ihre Blüte zeigte, die sich bald geöffnet hätte.

"Wieso" - er hörte die leicht zitternde Stimme der Frau - "Wieso musste sie abfallen? Sie hat doch keine weite Reise hinter sich..." Die Frau bedeckte plötzlich ihren Mund mit einer Hand und wandte ihr Gesicht von ihm ab.

Er nahm vorsichtig die Knospe in seine Hand. Sie hatte winzige Flaumen, die sich warm und weich anfühlten. Er hielt sie und sah zu der Frau hinüber. Er sah ihr schwer wirkendes hochgestecktes Haar, das vom Schneewasser schwarz glänzte. Er sah ihren Nacken darunter, der in diesem halb dunklen Zimmer fast unnatürlich hell schien. Er sah ihre schmale Schulter, er sah ihren schmerzlich gebeugten Rücken, er sah ihren Schoß, auf dem die zierliche Hand so fest geballt war, daß die Adern sich kräftig abzeichneten.

Er drückte die Knospe fest - bis sie zerquetscht wurde. Und mit der anderen Hand griff er nach einer Kante des Kamelientopfs, der zwischen ihm und der Frau stand, als ob er ihn beiseite schieben wollte.

Die Hand bewegte sich aber nicht weiter. Sie blieb still und kraftlos am Porzellan hängen, als ob sie im Nu versteinert wäre. Und erst nach einer Weile wurde sie auf den Schoß des Mannes zurückgezogen. Er stand auf, öffnete die Glasschiebtür und schüttelte aus seiner Hand den roten Rest der zerquetschten Knospe auf den Schnee.

Er hörte nichts mehr von ihr, seitdem sie sich an diesem Nachmittag von ihm verabschiedet hatte. Die Kamelie, die sie bei ihm zurückgelassen hatte, trug jedes Jahr Knospen. Aber sie blühten nicht. Sie fielen alle ab, gerade bevor sie blühen wollten.

Miyuki Tsuji wurde 1968 in Osaka geboren. Nach einem Slawistik-Studium in Tokio reiste sie die Seidenstraße entlang bis nach Europa und ließ sich schließlich in Hamburg nieder. Außer Kurzgeschichten schreibt sie Texte für Comics und Reiseessays. Im März erscheint ihr Buch Wiedersehen mit Osaka im Wiesenburg Verlag.


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