„Alternativen zu uns“

Interview Deutsche Ethnologen waren im 19. Jahrhundert oft Gegner des Kolonialismus, sagt Horst Bredekamp
Ausgabe 08/2019

Seine Beschreibung des „Schlangenrituals“ ist weltberühmt. Kaum bekannt sind die Berliner Jahre der jüdisch-deutschen Kunst- und Kulturhistorikers Aby Warburg. Nach der Rückkehr von seiner Reise zu den Hopi in Arizona 1895/96 lernte Warburg hier eine „liberale“ Ethnologie kennen und schätzen. Horst Bredekamp hat ein Buch darüber geschrieben, das auch ein Beitrag zu heutigen Debatten ist.

der Freitag: Herr Bredekamp, was ist liberal an einer „liberalen“ Ethnologie?

Horst Bredekamp: Ein universalistischer Anspruch, der menschliche Gemeinschaften nicht in Hierarchien verortet. Kein Oben und Unten, sondern ein Nah und Fern, Jung und Alt. Fremde Gemeinschaften werden nicht nach einer Stufenleiter der Entwicklung eingeordnet, sondern allein aus sich heraus verstanden.

Suchte Aby Warburg bei den Hopi in Arizona nicht eine frühere Entwicklungsstufe der Menschheit?

Das führt zum missverstandenen Begriff des „Primitiven“. Wir verstehen im Alltagsdeutsch unter „primitiv“ etwas Unentwickeltes. Aber das, worauf sich die liberale Ethnologie bezog, war das Ursprüngliche. Damit wurden nicht allein unterentwickelte, sondern auch höhere Werte verbunden als mit dem Eigenen. Dahinter stand, dass die Entwicklung der Menschheit nicht als eine Beglückungsmaschine zu sehen ist und der Weg in die Moderne mit Verlusten erkauft wurde. Die Suche nach dem „Primitiven“ ist eine nach unverstellten Elementen, die Gemeinschaften entstehen und glücken lassen.

Wogegen grenzte sich eine liberale Ethnologie ab?

Die evolutionäre Ethnologie, etwa die amerikanische des 19. und frühen 20. Jahrhunderts. Auch hier gibt es liberale Tendenzen, und auch liberale Ethnologie ist nicht ohne innere Hierarchien. In groben Zügen aber ordnet sie Gemeinschaften nicht in ein hierarchisches Gefüge ein, das in der eigenen Gegenwart endet.

Was sieht ein liberales Sammeln aus?

Eine unhierarchische Zusammenstellung der Gegenstände. Das entwickelt sich im 17. und 18., aber vor allem im frühen 19. Jahrhundert, im Klima des Vormärz, der 1848er Revolution. Um die Orientierung der europäischen Kulturen auf die vor allem römische Antike zu überwinden, wurde eine Umorientierung auf das „Germanische“ vollzogen, das alle deutschsprachigen Bereiche umspannt und nichts mit dem späteren „Völkischen“ zu tun hat. Damit wurden nicht nur die höchsten Gattungen der Kunst zum Anspruch genommen, sondern die gesamte Lebenswelt, vom Schuhschnabel, Gürtel und Messer bis zum Altarbild.

Welche Bedeutung hat Aby Warburg für diese Tradition der liberalen Ethnologie?

Meine Generation hat sich in den 70ern in besonderer Weise den Emigranten gewidmet. Schnell kamen das Warburg Institute in London und die Hamburger „Kulturwissenschaftliche Bibliothek“ ins Spiel. Von dorther wurde ein liberaler Objektbegriff entwickelt. Der Begriff geht auf die gesamte gestaltete Materialwelt. Briefmarke, Flugzeug, Raffael. Man muss erst einmal diesen umfassenden, unhierarchischen Anspruch wiedergewinnen, wie er im Vormärz seine Wurzeln hat, bevor man die Zeigefinger hebt.

Die Zeigefinger? Das müssen Sie erklären.

Jeder Versuch eines Anknüpfens an die revolutionäre Vormärztradition und die deutsche Aufklärung des 18. Jahrhunderts wird heute als idealisierender Rückblick, als Romantik disqualifiziert. Das ist seinerseits pseudoaufklärerisch. Es ist ja nicht erfunden, wenn Herder sagt: Koloniale Herrschaft ist eine „Idiotie“, an der auch die Kolonialmächte selbst zugrunde gehen werden. Die Unterstellung, dass es vor unserer Zeit, mit unserer scheinbar so wunderbar entwickelten Sensibilität, die ach so hochstehend ist, nichts gab, das meine ich mit dem erhobenen Zeigefinger. Ich empfinde es als angemessen, diese Form der Selbstbezogenheit durch Verweise auf Entwicklungen, die unseren eigenen Überlegungen nicht nur nahekommen, sondern diese sogar übertroffen haben, zu kritisieren. Wozu studieren wir die Geschichte? Um Alternativen zu uns zu erfahren.

Welche historischen und politischen Voraussetzungen gab es für solche Alternativen?

Man kann nicht sagen, dass hier Personen eine eigene Weltsicht entwickelten. Es ist ein allgemeiner Sonderweg, hier ist der Begriff einmal angebracht, der darin liegt, dass Deutschland keine Nation war wie Frankreich und England.

Das war keine gesamteuropäische Tradition?

Natürlich gibt es in der europäischen Geschichte eine hohe Verehrung für andere Kulturen. Bei Thevet und Montaigne zum Beispiel: „Die Kannibalen sind wir!“ Eine Tradition, die sich auch durch die Aufklärung zieht, in der deutschsprachigen Ethnologie aber eine besonders markante Bündelung erfährt, die Han Vermeulen in seinem Buch von 2015, Before Boas niedergelegt hat.

Worum geht es Vermeulen?

Er beschreibt die transnationale Orientierung der deutschsprachigen Völkerkunde, wie sie etwa in Göttingen entstand. Einer der Gründe lag in der Erfahrung der Kleinstaaten. Sollte Kassel über München stehen? Düsseldorf über Stuttgart? Bis 1871 gab es „Stämme“. Was bedingte, dass zwischen Deutschen und Indianern eine Art Blutsbrüderschaft gesehen wurde. Die Kleinstaaterei bedeutete auch Freiheit: daher die spezifisch deutsche Verehrung der Indianer.

Zur Person

Horst Bredekamp, geb. 1947, ist Kunsthistoriker und Bildwissenschaftler. Bis 2018 gehörte er der Gründungsintendanz des Berliner Humboldt Forums an. Aby Warburg, der Indianer. Berliner Erkundungen einer liberalen Ethnologie ist bei Wagenbach erschienen

Welche Auswirkungen hatte das für die deutsche Ethnologie?

Es hat die Sensibilität für eine relativistische Weltsicht ermöglicht. Die Brüder Humboldt fallen nicht vom Mars auf die Erde. Sie sind eingebettet in eine Kultur, die es hasste, mit der Nation eine Dominanz zu verbinden. Die im Gegenteil von Vermischung sprach, von Verkettung, eher von Moosen als von Gerüsten. Das erlaubte aufgrund historischer Bedingungen eine relativistische Weltsicht, die nach 1880 diskreditiert, verkleinert, zerstört und dann durch die Nazis ausgelöscht wurde.

Wenn es um deutsche Ethnologie geht, geht es immer auch um die Zeit des deutschen Kolonialismus. Warum?

Vermutlich kommt dies aus dem Bewusstsein, dass von Deutschland das größte Verbrechen der Menschheitsgeschichte ausgegangen ist. Ich kann nur immer wieder sagen, dass die Menschheit, solange sie existiert, sich an diese Verbrechen erinnern muss. Wenn die Rekonstruktion von Widerstand aber als Verkleinerung dieses Grauens begriffen wird, schlägt der Sinn dieser Erinnerungspolitik in sein Gegenteil um. Auf den Kolonialismus bezogen: Wenn demjenigen, der an eine antikoloniale Tradition anzuknüpfen versucht, eine Relativierung der Kolonialherrschaft unterstellt wird, dann ist das Irrsinn.

Wogegen leistete die liberale Ethnologie Widerstand?

Sie war ein Widerstand gegen die Normierung der Kultur durch die griechisch-römische Antike und zugleich, dafür steht Warburg, die Würdigung des „wilden Denkens“ der Antike selbst, als ein Hauptelement europäischen Denkens. Sie stand im Widerspruch zur Suprematie europäischen Denkens. Darin war sie zutiefst europäisch. Seit der Antike gehören Kritik und Subversion zu den markantesten Bestandteilen unseres Kontinents.

Problematisiert wird heute vor allem der Erwerb ethnologischer Objekte. Was wissen wir darüber?

Es gibt Reiseberichte, etwa die von Georg Forster. Ein Jakobiner, dem es keinesfalls um die Dominanz einer Kultur geht. Anders als Rousseau beschreibt er menschliche Schwächen sowohl der britischen Matrosen als auch der Indigenen. (Siehe auch Franz Vorpahls Beitrag in Der Freitag 2/2019, Anmerkung der Red.) Sie sammeln, tauschen, übervorteilen sich von Beginn an wechselseitig und erzeugen dadurch ein Gleichgewicht, das den Kontakt ermöglicht. Das Gegenmodell zum edlen Wilden, der die Umkehrung rassischer Abqualifizierung ist.

Auch Aby Warburg kaufte in den USA.

Bei den Hopi gab es eine problematische Figur, Henry Richert Voth, der versuchte, als Missionar die einheimischen Riten zu überformen. Aber er war für Warburg der Cicerone, der es ihm ermöglichte, an Ritualen teilzunehmen, die eigentlich abgeschirmt waren. Warburg nennt ihn einen „miesen Charakter“. Andererseits korrespondiert er mit ihm und vermittelt ihn auch an die Berliner Kollegen Ehrenreich und von den Steinen, die seiner Informationen wegen nicht zum Pazifik fahren, sondern sich auf den Weg zu den Hopi machen. So konnte der größte Bestand an Pueblo-indianischen Kunstwerken erworben werden.

Der Brite Northcote W. Thomas klagt um 1900, dass die Berliner Sammlungen das Zehnfache derjenigen in London ausmachen.

Ja. Und Thomas schreibt, dass englische Ethnologen, wenn die moderne Zivilisation alle sogenannten wilden Kulturen zerstört hat, nach Berlin reisen müssen, um zu erkennen, was verloren ist.

Warum nach Berlin?

Weil, argumentiert Thomas, in Berlin allein nach wissenschaftlichen, nicht nach politischen Kategorien gesammelt wird. Das Königliche Museum für Völkerkunde suchte Schäden, die durch modernen Kapitalismus angerichtet wurden, durch Bewahren zu kompensieren. Weil das Museum Kolonialinteressen nicht dienen konnte und wollte, wurde Ende des 19. Jahrhunderts in Berlin-Treptow ein Gegenmuseum gegründet, das der kolonialen Propaganda diente.

Welche Schäden meinen Sie?

Die Zerstörung all dessen, was die genuinen Kulturformen der „Primitiven“ ausmacht, und damit alles, was zur Erkenntnis des eigenen Selbst führt. Etwa der Tausch. Malinowski erkannte, dass die Kula sich als Menschen definieren, weil sie tauschen. Europäer haben den Tausch keinesfalls oktroiert; vielmehr testeten die Indigenen, ob diese zum Tausch fähig waren.

Das Tauschen hatte also eine soziale Funktion?

Er war keine Zutat, die man durch Reichtum erreichen konnte, sondern Bedingung alles Sozialen. Die Zerstörung dieser Austauschformen haben Ethnologen zu kompensieren versucht. Sie sammelten, was der Zerstörung anheimfiel, und suchten zu retten, was Kapitalismus und Kolonialismus zerstörten. Sie waren keine Heiligen; sie haben ihren Vorteil gesucht, teils unlauter. Sie aber unter „Kolonialismus“ zu subsumieren, ist das Produkt kolonialer Jetztzeithistoriografie.

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