Angst haben wir eh schon. Vor dem unsichtbaren Virus, dem weltweit bald 700.000 Menschen zum Opfer gefallen sind. Vor einer zweiten Pandemiewelle. Andernorts tobt die erste noch, fordert Opfer, die qualvoll sterben, gerade eben jetzt, befeuert von unfähigen Regierungen, begünstigt, in den ärmsten Ländern, von mangelnder medizinischer Infrastruktur, schlechten hygienischen Verhältnissen. Wem macht das keine Angst?
Die Angst, die uns die eingejagt haben, die am Samstag ein „Ende der Pandemie“ ausriefen, oft ohne Masken und eng an eng durch Berlin zogen, ist nicht das mulmige Gefühl, das viele von uns befiel, als an Pfingsten überwiegend junge Leute ebenfalls in Berlin ausgerechnet dort ausgelassen feierten, wo nur einen Steinwurf weiter schlecht bezahltes medizinisches Personal in einem Krankenhaus schuftete. Als es wieder hieß: „Alle Mann am Ballermann“. Als ob nichts mehr geschehen könnte.
Was uns da am Samstag in die Glieder gefahren ist, ist die Angst vor Ansteckung. In einem doppelten Sinn. Das hat mit Unsicherheit zu tun. Denn eigentlich müsste es sich bei der Demo um ein Superspreader-Event par excellence gehandelt haben. Zwar fand alles unter freiem Himmel statt. Aber wissen wir nicht auch, dass viele in Bussen in die Hauptstadt gereist sind, aus Stuttgart oder Freiburg? Ob die, die sich im Tiergarten ostentativ ohne Maske zeigten, bei der Anreise vorsichtiger waren?
Was aber, wenn in Stuttgart, Dresden oder Berlin die Infektionen nicht massiert auftreten nach diesem Massenauflauf? Angst haben wir auch vor einer zweiten Art der Ansteckung. Werden jetzt die Maskenverweigerer allerorten immer mehr? Wird sich die Idee, Covid-19 sei Vergangenheit, wie ein Lauffeuer verbreiten, oder gar die, es habe das Virus nie gegeben, es sei eine Verschwörung der Reichen und Mächtigen, um uns alle ihrer Kontrolle zu unterwerfen? Schon vor Samstag meldeten ja Verkehrsbetriebe, dass sie immer öfter Verwarnungen und Ordnungsgelder gegen die verhängen, die sich nicht an Hygieneregeln halten. Ob sich aber in Stuttgart oder anderswo demnächst neue Corona-Hotspots entwickeln, wird man sehen müssen. Ob die Zahl der Maskenverweigerer jetzt ins Unermessliche steigt, auch.
Eine letzte Unsicherheit bleibt: Was genau wollen die, die da ihr Recht auf Versammlung wahrgenommen haben? „Die ‚Querdenker‘, ein Netzwerk mit rund 130 bundesweiten lokalen Knotenpunkten, das in der Corona-Krise in Stuttgart zusammengefunden hatte“, Impfgegner, Esoteriker und Verschwörungsideologen, sind auf Reichsbürger, Pegida-Anhänger, radikale AfD-Sympathisanten und andere Rechtsextremisten getroffen, sagt Olaf Sundermeyer im RBB: „Vor allem Männer vom Land ..., verbittert und voller Wut, die oft in Hass umschlägt“, trafen auf „sehr viele Frauen, Familien mit Kindern, friedlich, fröhlich und entrückt.“ Alle übrigens eher weiß.
Als werde man Zeuge des „schillernden Zerfalls des Politischen“ schreibt Gerhard Hanloser: „Hier passt nichts zusammen: Müssten sich die Demonstrierenden auf einen Gesellschaftsentwurf einigen, wäre heilloses Hauen und Stechen angesagt.“ Gemeinsam sei dieser Masse nur eins: „Der Feind ist klar“: die Regierung, Merkel, die „Lügenpresse“, die „Expertokratie“, die Eliten. Der Modus Operandi, die Freund-Feind-Unterscheidung, war es, der am Samstag zusammenführte, was eigentlich nicht zusammengehörte. Nicht Inhalte oder Ziele.
Ob es zusammenwächst, wird auch davon abhängen, wie wir mit unserer Angst vor Ansteckung umgehen. Ob sie in Wut umschlägt, die bekanntlich blind machen kann. Wütend ist Berlins Regierender Bürgermeister. Der sagt, die Demonstranten „kriegen ein Demonstrationsrecht auf der Grundlage von Hygieneregeln, die sie missachten“. Aber das ist falsch. Das Grundgesetz garantiert das Recht auf Versammlung. Beschränkungen, wie sie jetzt diskutiert werden, sind in hohem Maße rechtfertigungsbedürftig. Hat die Wut Michael Müller blind dafür gemacht? Die SPD-Vorsitzende Saskia Esken twitterte über „Covidioten“, die „nicht nur unsere Gesundheit“ gefährdeten, sondern auch „unsere Erfolge gegen die Pandemie und für die Belebung von Wirtschaft, Bildung und Gesellschaft“. „Klassentreffen der Bildungsfernen“ titelte eine Stadtteilzeitung. Unter den vielen Bildern, die sich auf Facebook finden, ist keine Einmaligkeit, dass da Zähne von Demonstrierenden kommentiert werden: „Der sollte lieber zum Zahnarzt als zur Demo“, nach „Amalgan“ (sic!) wird verlangt. „Die riecht man förmlich aus dem Bild raus“, hat da jemand unter das Foto von Hippies geschrieben. Hätte es Facebook schon 1968 gegeben, hätte die Bild wohl ganz ähnlich auf all die „Gammler“ und „langhaarigen Bombenleger“ reagiert.
Angst und auch Wut sind nachvollziehbar. Wut darüber, dass die Demo-Veranstalter nicht nur den Titel eines Nazi-Films wählten, sondern offensichtlich den Schulterschluss mit Rechten suchten. Wie aber kommt es, dass wir vor lauter Angst vor Ansteckung nicht merken, dass wir uns vom Modus Operandi dieser Demo anstecken lassen? Dass wir Feinde identifizieren, „uns“ von „denen“ unterscheiden, statt ein Problem zu sehen, das diese Gesellschaft weiter spalten könnte? Hat die Wut uns alle blind gemacht? Das darf sie nicht.
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