Ausgekämpft

Kult Heute erscheint der letzte Teil von Knausgårds Romanzyklus. „Mein Kampf“ darf er nicht heißen. Aber sollte er?
Ausgabe 20/2017

Der Roman hat immer vom Kampf gegen die Prosa der Verhältnisse erzählt. Am erbittertsten wird dieser Kampf heute wohl vom Norweger Karl Ove Knausgård geführt. Was aber nicht heißt, dass es nur norwegische Verhältnisse wären, gegen die Knausgård kämpft. Sonst ließe sich der Riesenerfolg der bis jetzt fünf dicken Bände, die von seiner Hexalogie Min Kamp (deutsch: mein Kampf) in Übersetzung vorliegen, kaum erklären. Jetzt erscheint hierzulande der sechste und letzte Band der Serie, deren Originaltitel der Luchterhand-Verlag verschämt – auf Wikipedia heißt es „wohlweislich“ – ausgespart hat. Die Bücher, die auf Norwegisch schlicht Min Kamp 1-6 und in der englischen Version nur im Untertitel My Struggle heißen dürfen, sind auf Deutsch nach ebenso eingängigen wie elementaren Zeitwörtern benannt. Sterben, Lieben, Spielen, Leben und Träumen heißen sie. Sterben, das erste,erschien imMärz 2011. Da war der Romanzyklus in der skandinavischen Heimat schon abgeschlossen, veröffentlicht und ein Bestseller. Angeblich ist jeder zehnte Norweger Knausgård-Leser. Den letzten Band hat man Kämpfen getauft. Das bewahrt etwas vom Namen des Projekts, auch wenn der hier wieder nur als Verb nachlebt.

Deutschsprachige „Knausomanen“ jedenfalls – das ist der Name, den man in seinem Heimatland den Leserinnen und Lesern des Knausgård’schen Œuvres gegeben hat – werden diesen letzten Band mit Spannung, mit Ungeduld erwarten. Titelfragen sind bei der Form der Aufmerksamkeit, die so Veranlagte dem Objekt ihrer Begierde angedeihen lassen, übrigens zweitrangig. Ungeduld ist nicht nur deshalb erwartbar, weil nun schon gute anderthalb Jahre seit der Veröffentlichung von Träumen, der fünften Lieferung, vergangen sind. Und Spannung ist garantiert, weil sie dem Lektüreverhalten, das allseits bei Knausomanen beobachtbar ist, vollkommen entspricht.

500 Seiten über Adolf Hitler

Folgt man Fans und Feuilletons, dann liegt das Erfolgsrezept für die knapp dreieinhalbtausend Seiten, die bis heute erschienen, zigmal gekauft und geradewegs verschlungen worden sind, zum einen darin, dass man nicht mehr aufhören kann zu lesen, hat man einmal angefangen: „Ansteckend“ sei die Lektüre, heißt es, wie ein Virus nähmen die Bände von ihren Lesern und Leserinnen Besitz, wie eine Droge wirkten sie nicht nur auf Fans, sondern auch auf die eigene Zunft – sagen Kritiker. Die attestierten Knausgård auch „brutale Offenheit“: Das Wörtchen „schonungslos“ ist eine Lieblingsvokabel beim Lobpreis der Romane.

Nach Abschluss der Lektüre des fast 1.300 Seiten starken neuesten Bandes wird man enorme 4.624 Seiten über das Leben des 48-jährigen Norwegers gelesen haben, der zuletzt mit seiner schwedischen Frau und vier Kindern im Süden Schwedens wohnte. Das sind dann fast fünftausend Seiten über Knausgårds Verhältnis zu seinem Vater, dessen Alkoholkrankheit und frühen Tod, über die zweite Ehe des Autors und seinen Alltag als Gatte einer manisch-depressiven Frau, über das Leiden am Softie-Image, das die Erziehung dreier kleiner Kinder für ihn mit sich bringt. Lange Passagen über die Kindheit und Jugend auf der Insel Tromøy und im Städtchen Kristiansand; ein Jahr als Aushilfslehrer gleich nach der Schule auf einer Insel im Norden; das Studium der Literatur, das Studentenleben und die erste Ehe in Bergen.

Jetzt kommt noch einmal einiges hinzu: die Probleme zum Beispiel, die man als Autor eines Lebensberichts hat, der Klarnamen für sich und andere nutzt und Details aus dem Leben von schon toten und noch lebenden Mitmenschen nennt. Probleme mit Letzteren, die solche Einzelheiten – Warhols fünf Minuten des Ruhms zum Trotz – nur ungern oder gar nicht gedruckt sehen wollen. Etwa deshalb, weil diese Details wenig schmeichelhaft sind. Oder weil sie das eigene Selbstbild ankratzen.

Es geht um Gewissensbisse, Angst vor denen, über die man geschrieben hat, die die Bücher aber vorab lesen, um ihr Okay zur Veröffentlichung zu geben. Ihre Reaktionen, die im Buch wie in der wirklichen Wirklichkeit im schlechtesten Fall bis zur Anzeige gehen. Man erfährt noch mehr über die Ehe der Knausgårds und die labile psychische Konstitution von Ehefrau Linda, schließlich über ihre Einweisung in eine Klinik, die Vorwürfe der Mutter und, so viel sei verraten: über ein einstweiliges Happy End. Business als usual eigentlich, die Fortführung der Lebensgeschichte mit alten Mitteln – nur dass der Protagonist mittlerweile auch im Text zu dem berühmten Autor geworden ist, dessen Name auf dem Buchdeckel steht. Sonst ist alles wie vorher: Noch immer ist der Vater die beherrschende Figur im Seelenleben Knausgårds, noch immer gibt es keine Tabus, über eigene und fremde Probleme zu sprechen. Das Selbstbild ist und bleibt so zerkratzt wie das Gesicht des Autors.

Neu ist, dass Kämpfen einen Text im Text enthält, etwa 500 Seiten umfasst er. Knausgård nennt ihn „Essay“. Dessen Thema ist das Böse, genauer der Nationalsozialismus, und Hauptthema, man errät es schnell, ist Adolf Hitlers autobiografisches Machwerk von 1925, Mein Kampf. Ob tatsächlich alle Knausomanen bei der Stange bleiben, während Hunderte von Seiten lang allerlei Spekulationen über den „Führer“, dessen Kindheit und schließlich das Wesen des Nationalsozialismus zusammengetragen werden, wobei ausführlich zitiert und interpretiert wird – Gewährsleute sind unter anderen Hannah Arendt und Victor Klemperer, Emmanuel Levinas, Martin Heidegger und Giorgio Agamben –, darf bezweifelt werden. Manch einer wird schnell zu Teil 2 vorblättern, wo es im altbekannten Sound weitergeht. Und dieser Sound besteht vor allem in endlosen Aufzählungen ganz alltäglicher Dinge und Handlungen. Wiederholungen banaler, eben prosaischer Tätigkeiten, Kaffeekochen etwa, den Kaffee in die Thermoskanne füllen, auf den Balkon gehen, Rauchen. Fast obsessiv berichtet Knausgård, wie er seinen Kindern morgens Frühstück macht, Entscheidungen zwischen Cornflakes oder Müsli, Milch oder Joghurt trifft. Wie er dem Jüngsten die Windeln wechselt. Wie er die Kinder zum Kindergarten bringt. Wie er sie nachmittags wieder abholt. Das Wort „Windel“: Es findet sich über dreißigmal in diesem Roman.

Vielleicht kein Zufall: Viel von der Offenheit, der Schonungslosigkeit in Knausgårds Schreiben ist der fehlenden Scheu vor dem, was Georges Bataille den „niederen Materialismus“ genannt hat, geschuldet. Der meint damit das, was wir normalerweise nicht thematisieren wollen – Dreck, Abfall, Körperflüssigkeiten –, weil wir uns davor ekeln, höchstens verschämt darüber lachen. Bei Knausgård, der seltsamerweise über Sex so gut wie nie schreibt, kommen die niederen Materialien alle paar Seiten vor, in den detaillierten Schilderungen der fäkalienverschmierten Möbel und Kleider im Sterbezimmer des Vaters, der Erinnerung an Spiele mit den eigenen Exkrementen als Kind, bei der Beschreibung des dunkelgelben väterlichen Urins, dann eben doch auch beim Sex, mit Übelkeit, Erbrechen.

Prosa welcher Verhältnisse?

Knausgårds Weigerung, zwischen dem, was man erzählen kann, und dem, was keiner zu erzählen wagt, zu unterscheiden, dieses vermeintliche Alles ist einer seiner unique selling points. Gerade weil das manche Verklemmtere oder Zartbesaitete abschrecken mag. Es verheißt Distinktionsgewinne für Autor und Leser gleichermaßen. Auch aufmerksamkeitsökonomisch wirkt es: „Mein Scheisse“,titelte die Paris Review über den Norweger. Alles: Nicht nur die Seelenqualen des Erzählers, Selbstzweifel und Selbstbezichtigungen gehören dazu, sondern auch all das, was im Sozialen sonst nicht vorkommt oder nicht vorkommen soll. Alles Individuelle. Das jedenfalls will Knausgård uns glauben machen. Als abschreckendes Beispiel dient gerade das Buch, von dem er den Titel geklaut hat. Hitlers Mein Kampf.

Hitler habe, so wie er, schreibt Knausgård, unter einem übermächtigen Vater gelitten. Der entscheidende Unterschied aber: Das Buch von 1925, es verleugne die „materielle Realität unter Menschen“: Menschen, die „nicht nur ein Geschlecht haben, sondern auch rülpsen und scheißen und grölen und schlagen und brüllen und sich regelmäßig betrinken, die schlürfen und spucken und nach Pisse und Schweiß stinken, die ihre Söhne an den Haaren oder Ohren packen und sie umherschleifen“. Hitler steht für Knausgård für ein „Wir“, das gereinigt ist von allem Individuellen. Ein „Wir“, das das Individuelle unsichtbar macht und letztendlich immer droht, es zu vernichten.

Die Prosa der Verhältnisse: Hegel sprach davon, dass sich das Individuum im Roman an ihr abkämpft, um sie letzthin aber zu akzeptieren. Ob Knausgårdscher Hyperindividualismus in Zeiten von Self Awareness und therapeutischer Kultur nicht längst die dominante Prosa unserer Verhältnisse darstellt, bleibt allerdings eine offene Frage. Knausgård lesen kann hier weiterhelfen. Man muss seinen Interpretationen ja nicht blind folgen.

Info

Kämpfen Karl Ove Knausgård Paul Berf, Ulrich Sonnenberg (Übers.), Luchterhand 2017, 1.280 S., 29 €, erscheint am 22. Mai 2017

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