Eine Frau erscheint auf einer Polizeiwache, gibt zu Protokoll, sie habe einvernehmlichen, allerdings ungeschützten Geschlechtsverkehr mit einem Mann gehabt. Sie will wissen, ob man den Bettgenossen zu einem HIV-Test verpflichten kann, sie sei in Sorge, sich infiziert zu haben. Noch bevor sie ihre Aussage zu Ende bringt, informiert man die Staatsanwaltschaft. Der Frau wird zu verstehen gegeben, dass man den Mann anklagen werde. Wegen Vergewaltigung. Das will die Frau gar nicht, weshalb sie die Befragung abbricht, die Wache verlässt und einer Freundin eine Textnachricht schickt. Darin steht, dass sie den Mann, mit dem sie Sex hatte, nicht der Vergewaltigung beschuldigen wollte. Zwei Stunden später wird der Mann auf dem Titel einer Zeitung der Vergewaltigung beschuldigt. So fasst der UN-Beauftragte für Folter, Nils Melzer nach eingehender Prüfung aller Dokumente die Geschichte zusammen.
Ob die Vorwürfe an die schwedische Polizei und Staatsanwaltschaft stimmen, ist für einen Laien derzeit nicht überprüfbar. Stimmen sie aber, ist eines klar: Hieße der Beschuldigte nicht Julian Assange, wäre diese Geschichte aus dem Schweden des Jahres 2010 anders zu uns gedrungen. Sie wäre diskutiert worden unter den Aspekten des schwedischen Sexualstrafrechts, das dem Opferschutz besonders verpflichtet gilt. Sie wäre zudem von falschen Propheten des Männerrechts instrumentalisiert worden. Weil dieser Mann aber Julian Assange heißt, ist sie anders gelaufen, die Geschichte. Obwohl er mehrfach anbot, bei der Polizei auszusagen, wurde er nicht gehört. Es ist eben keine normale Geschichte, es ist die Geschichte von einem, dem in den USA wegen der Aufdeckung von Kriegsverbrechen lebenslange Haft droht. Es ist die Geschichte eines Journalisten, der aus Angst, Großbritannien könne ihn nach Schweden und Schweden ihn an die USA ausliefern, über neun Jahre in einer ecuadorianischen Botschaft ausharrte, jetzt in Haft in einem Hochsicherheitsgefängnis sitzt, in desaströsem körperlichen wie seelischen Gesundheitszustand, und aus all diesen Gründen ist die Geschichte, die der UN-Sonderbeauftragte Nils Melzer jetzt den Schweizer Kollegen vom Magazin Republik erzählte, eine, die zu denken gibt.
Nils Melzer erzählt, er habe gezögert, sich des Falls Julian Assange anzunehmen. Denn die Vergewaltigungsvorwürfe, sagt er, hätten ihn derart geblendet, dass er, „trotz meiner Berufserfahrung, die mich zur Vorsicht mahnen sollte“, in Assange zunächst nicht denjenigen gesehen hätte, der in einem dunklen Raum „das Licht auf Kriegsverbrechen, auf Korruption“ gerichtet habe. Man kann sich gut vorstellen, wie die Vorwürfe auf viele wirkten, die über nur einen Bruchteil von Melzers Erfahrung verfügen. Die Perfidie des Vorgangs liegt aber noch woanders. Dass eine Behörde die Aussage einer Frau verfälschte, zeugt von fehlendem Respekt nicht nur dieser Frau, sondern allen Betroffenen sexualisierter Gewalt gegenüber. Nicht nur die Glaubwürdigkeit dieser Betroffenen droht geschwächt zu werden – sondern auch der Mut, sich zur Verteidigung des Rechts auf körperliche Unversehrtheit an eine Behörde zu wenden.
Und schließlich: Selbst einem Vergewaltiger wäre nicht zuzumuten, was man Assange seit über neun Jahren zumutet. Ein gerechter Prozess, ein Urteil, eine Strafe wären zumutbar. Nicht zumutbar aber ist, aufgrund anderer Vergehen, die keine sind, in einem britischen oder US-amerikanischen Gefängnis zugrunde zu gehen.
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