Ein Kapitel im Gesprächsband Cypherpunks, den Julian Assange 2012 veröffentlichte, heißt Ratten in der Oper. Einmal, erzählt Assange hier, habe er sich in die Oper von Sydney geschlichen, um eine Faust-Aufführung zu sehen: „Als ich nach der Vorstellung hinausgetreten bin, habe ich die Unterhaltung dreier Frauen mit angehört, die über die Brüstung lehnten und auf die dunkle Bucht hinausschauten. Die ältere Dame hat die Schwierigkeiten in ihrem Job geschildert. Sie war Agentin bei der CIA, hatte sich schon beim Geheimdienstausschuss des Senats beschwert und so weiter. All dies hat sie im Flüsterton ihrer Nichte und der anderen Frau erzählt. Es stimmt also, hab ich gedacht, CIA- Agenten vertreiben sich tatsächlich ihre Zeit in der Sydneyer Oper.“ Kurz darauf, erzählt Assange weiter, sei sein Blick „durch die riesigen Glaspaneele ins Innere des Opernhauses gefallen, und da, inmitten dieser einsamen palastartigen Opulenz, ist eine Wasserratte am Interieur hochgeklettert, hin- und hergewieselt, auf die mit feinem Leinen bedeckten Tische gehüpft und hat sich an den Speisen gütlich getan.“ Der Nager „schien sich bei allem köstlich zu amüsieren.“
Ob Assanges Gesprächspartner von der Montage dieser zwei Bilder erstaunt waren, wissen wir nicht – es handelt sich um einen Monolog – allerdings liefert er die Deutung auch gleich mit: „Tatsächlich halte ich dies für das wahrscheinlichste Zukunftsszenario: eine äußerst einschnürende, homogenisierte, postmoderne, transnationale, totalitäre Struktur von enormer Komplexität, voller Absurditäten und Entwürdigungen, und innerhalb dieser unglaublichen Komplexität ein Raum, der nur den gewitzten Ratten offensteht.“ Ein kleiner Lichtblick, findet Assange, schließlich ist in diesem Szenario er die Ratte. Es gebe aber auch eine negative Zukunftsvision: Eine Welt, in der alle Kommunikation überwacht würde, „dauerhaft gespeichert, unablässig nachverfolgt, von der Wiege bis ins Grab wird jede Person ... beständig als eben diese Person identifiziert“.
Ratten hier, Ratten da
Julian Assanges Lösung für die riskante Lage lautet so: „Wenn all die gesammelte Information über die Welt öffentlich würde, könnte das die Machtdynamik wieder ins Gleichgewicht rücken, es könnte uns, als globaler Zivilisation, die Möglichkeit verschaffen, unser Schicksal in die eigene Hand zu nehmen. Aber ohne einen dramatischen Wandel wird es nicht dazu kommen.“
Von Ratten schreibt auch Donna Brazile, während des Präsidentschaftswahlkampfes in den USA 2015 Interims-Vorsitzende der Democratic National Convention (DNC), jener Partei also, deren Kandidatin Hillary Clinton schließlich gegen den jetzigen, 45. Präsidenten der USA unterlag. In ihrem Bestseller von 2017, Hacks. The Inside Story of the Break-ins and Breakdowns That Put Donald Trump in the White House, rekonstruiert sie die Ereignisse, die dazu geführt hätten, dass nicht Clinton, sondern Donald Trump ins Weiße Haus einzog.
Wenn man Ratten im Keller habe, gerät Brazile ins Nachdenken, werde man alles tun, sie wieder loszuwerden. Aber der Gedanke, dass da Ratten unter den Dielen hin- und hertrippeln, den werde man so schnell nicht wieder los. „Rat“, das englische Wort für Ratte, klingt aber auch wie „RAT“, Abkürzung für Remote Access Technology, jene Technologie, mit der es einem Hacker gelingt, in ein fremdes Netzwerk einzudringen und Daten zu entwenden.
So geschehen im Fall des DNC, weswegen auch aufflog, dass die Wahlkampagne Clintons diejenige von Bernie Sanders von Beginn des Wahlkampfs an übervorteilt hatte. Dass das alles von Wikileaks veröffentlicht wurde, erklärt, warum Brazile auf Assange nicht gut zu sprechen ist. Und dass Trump im Wahlkampf verlauten ließ, er liebe Wikileaks genau dafür, die Machenschaften von „crooked“ Hillary offengelegt zu haben, könnte auch erklären, dass weite Teile des linken bis linksliberalen US-Amerikas bis heute einen Groll auf Assange hegen. Für sie, wie auch für Brazile, sind Assange und „die Russen“ schuld an Donald Trump. 2018 hat der DNC ihn, Seit an Seit mit Russland und der Trump-Kampagne, verklagt.
Ganz unabhängig davon schließen sich aber in den USA die Reihen gegen Assange, wie Kevin Gosztola in einem gerade erschienen, umfassenden Band zum Wikileaks-Gründer, der auch die Ratten in der Oper erneut abdruckt, beobachtet. In Defense of Julian Assange, herausgegeben vom britisch-pakistanischen New Left Review-Mitherausgeber und Filmemacher Tariq Ali und der New Yorker Menschenrechtsanwältin Margaret Kunstler (OR Books 2019) versammelt alles, was Rang und Namen hat und nochhinter Assange steht, der in einem Londoner Hochsicherheitsgefängnis seine Auslieferung an die USA befürchten muss. Und das sind gar nicht so wenige. Von Angela Richter über Slavoj Žižek bis zu Noam Chomsky, Pamela Anderson, Ai Weiwei bis zu Philosophie-Jungstar Geoffroy de Lagasnerie und Whistleblower-Urgestein Daniel Elsberg schreiben hier viele, deren Namen auch in der weiteren Öffentlichkeit einiges Gewicht haben sollten, genauso wie ein Beitrag von Women Against Rape, in dem die Autorinnen argumentieren, die schwedischen Anschuldigungen gegen Assange seien zwar ernstzunehmen, eine Auslieferung an die USA sei jedoch nicht akzeptabel.
Ein solcher Band solltedie linke bis linksliberale Öffentlichkeit auf Assanges Seite ziehen. Doch zumindest für die USA sieht es düster aus, wenn man auf den klugen Beitrag des Journalisten und Filmemachers Gosztola zurückkommt: „Die Verachtung der Demokratischen Partei für Wikileaks verfestigt einen politischen Konsens, der die Verfolgung von Wikileaks und seines Chefredakteurs Julian Assange durch Donald Trumps Justizministerium erst möglich macht“, schreibt er. Die an sich gute Story, dass Assange mit russischer Schützenhilfe nicht nur Clinton ums Weiße Haus betrogen, sondern auch eine Öffentlichkeit, die an transparenten politischen Entscheidungsfindungen interessiert sein müsste, gegen sich aufgebracht habe, ist aber nicht mehr als eine Story. Denn demokratische „Feindseligkeit entwickelte sich schon, als die Medienorganisation über eine halbe Million Dokumente aus dem Pentagon und dem Außenministerium veröffentlichte, die Chelsea Manning im Jahr 2010 offengelegt hatte“. Unter diesen Dokumenten ist auch das Collateral-Murder-Video, das zeigt, wie eine US-Eliteeinheit im Irak Unbewaffnete – unter ihnen zwei Reuters-Journalisten – wie in einem Videospiel abballert und dabei noch Witze reißt. Trotz des legitimen Interesses, Kriegsverbrechen öffentlich zu machen, hätten auch viele Demokraten daran gezweifelt, dass „Wikileaks eine legitime Medienorganisation sein könnte“, schreibt Gosztola.
Ein Versagen der etablierten Medien
Oberflächlich betrachtet liegt das auch daran, dass die meisten US-Medienunternehmen „in der Regel nicht ganze Caches durchgesickerter Dokumente, die von der ganzen Welt gelesen werden können“, veröffentlichten. Liest man den zur Ergänzung unbedingt empfohlenen Beitrag von Naomie Colvin im selben Band, die sich in der Courage Foundation für Whistleblower einsetzt, die ins Fadenkreuz von Staatbehörden geraten sind, so erfährt man auch, dass Manning, bevor sie sich an Wikileaks wandte, Medien wie die Washington Post und die New York Times kontaktierte.
Der vermeintlich nicht-journalistische Weg einer Veröffentlichung auch des Videos ist somit auch als Resultat eines Versagens „alter“, etablierter Medien. Und auch dieser Einwand Colvins ist von Relevanz: Noch heute hilft geleaktes Material den „alten“ Medien bei wichtigen Recherchen. Amnesty International macht es dann noch eine Nummer größer: „Man kann sich gut an das Jahr 2010 als ein Wendejahr erinnern“, ließ die Organisation verlauten, „in dem Aktivisten und Journalisten mit neuer Technologie die Macht mit der Wahrheit konfrontierten und sich dabei für eine stärkere Achtung der Menschenrechte einsetzten“.
Er sei der „meistverfolgte Journalist Europas“, schreibt Assanges Anwältin Renata Avila in einem Beitrag (der eine hinreißende Skizze dieses sonderbaren Mannes bietet), und auch der innovativste. Denn wenige verständen wie er, wie „Recht und Technologie zusammen das ausgeklügeltste System der Kontrolle und Unterdrückung errichten“. Assange hat sich nicht wie die Ratte in der Oper in einer Nische versteckt. Er strebt den dramatischen Wandel an, den auch der heutige Journalismus braucht. Dazu braucht er aber auch Leute wie Assange, die sich auf fremden Tischen bewegen, als sei es ihr eigener. Ihn wie eine Ratte in ein Loch zu sperren, wäre daher auch ein Verrat am Journalismus selbst.
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