Igel an Hase: Du Sau

Streitschrift Bernd Stegemann sieht moralische Kommunikation als ein Übel dieser Zeit
Ausgabe 48/2018
Rot ist er schon einmal. Klüger sollte er allerdings werden
Rot ist er schon einmal. Klüger sollte er allerdings werden

Foto: Pictures Now/Alamy

Niklas Luhmann wußte es: Bei Moral geht es nicht um gute oder schlechte Leistungen, etwa als Astronaut, Musiker, oder Fußballspieler. Wenn wir moralisch urteilen, dann steht die Wertschätzung der ganzen Person auf dem Spiel. Bernd Stegemann, systemtheoretisch geschulter Dramaturg, Hochschuldozent, Autor sowie Gründungsmitglied der linken Sammlungsbewegung „Aufstehen“, sieht das genauso: „Moral kommt immer dann ins Spiel, wenn es um die Zuteilung von Achtung oder Missachtung geht“, schreibt er in seinem neuen Buch Die Moralfalle. Für eine Befreiung linker Politik.

Was moralische Urteile so mächtig mache, sei, dass es bei ihnen darum gehe, ob einer Person Anerkennung und Respekt gezollt werde oder nicht. Also unabhängig davon, was diese Person in einem bestimmten Lebensbereich kann oder nicht kann. Noch mächtiger würden solche Urteile, weil das Gegenteil von Achtung „nicht einfach Abwesenheit von Achtung meint“. Ihr Gegenteil sei „eine verschärfte Form der Ablehnung“.

Das ergibt Sinn: Ein schlechter Läufer ist ein schlechter Läufer, kein böser Mensch, und eine Autorin, die grässliche Sonette schreibt, ist deshalb keine böse Person. Dass ein schlechter Sportler nicht beim Staffellauf aufgestellt wird und der unbegabten Dichterin verwehrt bleibt, im Lyrikjahrbuch zu publizieren, ist auch kein Ausdruck der Miss- oder gar Verachtung dieser Personen. Nicht jede ist eine Rose Chelimo, nicht jeder ein William Shakespeare. Dafür darf man ihnen nicht böse sein. Umgekehrt dürfen sich aber weder die lahme Ente noch die Hobbyautorin diskriminiert fühlen, weil sie außerhalb ihrer Liga nicht mitspielen dürfen.

Absurd wäre es, so Stegemanns Beispiel, einen säumigen Zahler, weil er eine Rechnung nicht begleichen kann, für bösartig zu halten. Vorausgesetzt, so sei ergänzt, ihm mangelt es tatsächlich an dem Vermögen, seine Schulden zu begleichen. Es gibt ja auch noch Uli Hoeneß.

Keinesfalls führt allerdings ein moralisches Urteil jemals unmittelbar dazu, dass Zahlungen getätigt würden. Moral hat im Wirtschaftssystem keine Funktion. Das funktioniert, wenn gezahlt wird. Und wenn nicht, hat es Probleme. Warum gezahlt wird oder nicht, ist da nachrangig. Dass wir täglich Zeuge werden, wie Schulden in Schuld verwandelt werden und Armen Verachtung entgegenschlägt, ist allerdings auch ein Beweis dafür, wie moralische Kommunikation sich in allen Lebensbereichen einnisten kann. Die Systemtheorie spricht davon, dass der Code eines gesellschaftlichen Teilsystems „übercodiert“ wird.

Ick bün all dor

Auch politische Standpunkte können so moralisch „reformuliert“ werden. Stegemanns Beispiel hier ist der Vorschlag des Gesundheitsministers, den Fachkräftemangel in der Altenpflege dadurch abzumildern, dass man Personal aus dem Ausland anwirbt. Wenn seine Prämisse stimmt, dass der Mangel vor allem darauf fußt, dass es in Deutschland wenige gibt, die bereit sind, für ein geringes Gehalt die harten Arbeitsbedingungen in diesem Job zu akzeptieren, dann muss man kein Prophet sein, anzunehmen, dass eine Anwerbung von Fachpersonal, das in seinen Herkunftsländern sehr viel weniger verdient, nichts an Entlohnung und Arbeitsbedingungen in diesem Beruf in Deutschland ändert. Nichts zum Guten jedenfalls. „Eine linke Position“, so Stegemann, „müsste diesen Vorschlag kritisieren, müsste kritisieren, dass die Löhne niedrig bleiben oder sogar noch niedriger werden.“ Nun sei die Haltung der grünen Partei aufschlussreich: „Sie begrüßt diesen Vorschlag als ein fremdenfreundliches Zeichen und unterstellt zugleich der linken Kritik Fremdenfeindlichkeit.“

Stegemann beschreibt das als „Hase-und-Igel-Spiel“: Im Märchen ist es so, dass der Igel den Hasen zum Wettlauf herausfordert. Siegessicher willigt der ein. In zwei Ackerfurchen rennen sie um die Wette, aber immer, wenn der Hase in seiner Furche dem Ziel nahe ist, steckt der Igel in seiner den Kopf empor. Natürlich beruht der Sieg des Igels, der den Hasen letztlich das Leben kostet, auf List: Da Igelfrau und Igelmann gleich aussehen, brauchen sie sich nur abwechselnd am jeweiligen Ziel zu zeigen, um den Sieg zu beanspruchen.

Eine solche List, eine „Moralfalle“, stellt auch das gemeinsame Agieren von CDU und Grünen im Beispiel dar: Wo die soziale Linke glaubt, mit dem Festhalten an der Forderung nach gerechtem Lohn und guten Arbeitsbedingungen im Disput mit den Konservativen die Nase vorn zu haben, meldet sich die grüne Moral. „Die parteipolitische Antwort besteht darin, dass CDU und Grüne zusammen regieren wollen.“

Weit davon entfernt, nur parteipolitisch relevant zu sein, lautet die Antwort auf die einwanderungskritische Position im Beispiel letztlich. das es sich bei denen, die aus Gründen sozialer Gerechtigkeit an dieser Position festhalten, um Rassisten handelt. Weil das ein moralisches Urteil ist, bei dem also Sprecher und Gesprochenes nicht unterschieden, kann es eigentlich nur heißen: „If you got a racist friend, now is the time for your friendship to end.“

Stegemann betont, es sei das große Verdienst liberaler Öffentlichkeiten gewesen, Themen wie Glauben, Wirtschaft und Politik verhandelbar zu machen.

Den Strukturwandel aber, den diese Öffentlichkeiten momentan erleben, sieht er düster. Das liegt daran, dass moralische Kommunikation nicht nur die andere Person auf- oder abwertet, sondern ebenso die eigene. In einer meist digitalen Öffentlichkeit, in der die Sanktion für falsche Meinung nicht diskursive Konfrontation, sondern Kommunikationsabbruch bedeutet, kommt es zu einem Wettlauf um moralische Integrität. Blocklisten, mit denen sich Twitter-User schmücken, zeugen davon: Wer rigoroser als andere moralisch tatsächlich oder vermeintlich fragwürdige User aus dem eigenen Diskursraum verbannt, fühlt sich auf der richtigen, also 'guten' Seite. Die Internettheoretikerin Angela Nagle beschreibt das so: "Es geht darum, in einer Umgebung, in der 'Gutsein' die Währung ist, welche die Karriere oder soziale Stellung eines Online-Nutzers befeuern oder besiegeln kann, Knappheit zu erzeugen."

Eine solche Moral-Ökonomie entspricht freilich einer Kultur, in der jeder ein Unternehmer seiner selbst ist. Denn das unternehmerische Subjekt folgt der Devise "Sei ganz Du selbst, aber genauso, wie es der Arbeitsmarkt es von dir verlangt!", wie Stegemann schreibt. Und bei diesem Arbeitsmarkt, so könnte man sagen, handelt es sich um einen Markt, der im Gegenzug auch Scheitern letztlich als persönliches Scheitern ansieht. Scheitern wird zu einer Frage persönlicher Moral. Erst hieraus erklärt sich die fehlende Achtung, ja Verachtung, die denen entgegengebarcht wird, deren Karrieren ungeplant enden, falls sie denn überhaupt begonnen haben.

Wasch mir den Pelz! Aber mach mich nicht nass!

Die oftmals identitätspolitisch untermauerte Begründung, man werde diskriminiert und sei verbaler Gewalt ausgesetzt, tut ihr Übriges, um moralische Kommunikation zum Mainstream der neuen, vor allem linken Öffentlichkeiten zu machen. Denn Identitätspolitik funktioniert letztendlich nach dem Prinzip: 'To have the cake and eat it too': Man kann nicht zwei Dinge gleichzeitig haben, die einander ausschließen. Denn das ist paradox. Der "paradoxe Befehl" den die Identitätspolitik ausgibt, lautet dann auch für Stegemann: "Nimm mich in meiner Besonderheit wahr und zeige mir zugleich, dass dieser Unterschied für dich keinen Unterschied bedeutet." Derjenige, der diesen Befehl vernimmt, findet sich in einer Zwickmühle wieder. Die Psychologie beschreiben das als als 'Double Bind': Egal, was derjenige tut, der sich in einer solchen Zwickmühle befindet: es ist falsch. Betont man das Anderssein des Gegenübers, so wird dies als Diskriminierung erfahren. Sieht man darüber hinweg, so wird das als Missachtung der Tatsache interpretiert, dass der oder die andere anders ist, als man selbst.

Das Problem ergibt sich daraus, dass Identitätspolitik maßgeblich davon lebt, dass Diskriminierungserfahrungen positiv gewendet werden. Bekannteste Beispiele hierfür sind sub- und jugendkulturelle Selbsbeschreibungen, die pejorative Bezeichnungen seitens anderer, also Schimpfwörter, benutzen: Man braucht hier nur an an Feridun Zaimoğlus Buch Kanak Sprak von 1995 zu denken. Die ursprünglich rassistische Abwertung ("Kanake" für "Türke", "Kanak Sprak" für die Art und Weise, wie Türken angeblich deutsch sprechen) wird zum positiven Distinktionsmerkmal gegenüber denen, die dieses Merkmal als negatives Merkmal ins Feld geführt haben. Das begründet eine von anderen gesellschaftlichen Gruppen und vor allem gegenüber der sogenannten Mehrheitsgesellschaft abgegrenzte Gruppenidentität.

"Indem sich eine Opferidentität mit den umgedrehten Wertungen ihrer Diskriminierung konstituiert, begibt sie sich in das Feld der doppelbödigen Moral. Sie behauptet eine Gruppenidentität aufgrund von Diskriminierung und verlangt zugleich, dass diese Diskriminierung aufgrund einer Gruppenidentität aufhören soll und dennoch ihr Status als Opfer erhalten bleiben muss", so beschreibt Stegemann das.

Sprachliche Gewalt beginnt in einem solchen Setting denkbar niedrigschwellig. Das hat auch damit zu tun, dass die Provokation eines Gefühls der "Gekränktheit" hier zu einem Ding der Leichtigkeit wird, sei das intendiert oder nicht. Denn in der Double Bind-Situation, in die die Identitätspolitik den Anderen bringt, entscheidet letztendlich nicht dieser, welcher "Befehl" – "erkenne mich als ebenbürtig an" oder "erkenne meine Andersartigkeit an" – gerade gilt.

Kränkungen sind also vorprogrammiert. Die vermeintlichen Urheber dieser Kränkungen moralisch zu verurteilen verkennt zumeist die "Moralfalle", in die Identitätspolitik diese erst gebracht hat. Dass die Urheber so verstandener verbaler Gewalt – und täuschen wir uns nicht, es gibt sie tatsächlich en masse im Netz, es gibt Rassismus, Sexismus, Menschenverachtung! – oft Ähnliches bezwecken wie die, die sich als Opfer empfinden und mit Kommunikationsabbruch reagieren, ist ein weiteres Zeichen, dass etwas schiefläuft. Die neu-rechte Strategie der "Provokation" (so der ein Buchtitel, den Götz Kubitschek den Achtunsechzigern stahl) bringt den politischen Gegner nämlich auch in eine Double Bind-Situation, die letztlich auch auf Identitätspolitik – im neu-rechten Jargon: identitärer Politik – gründet. Auch sie nimmt für sich in Anspruch, aus einer Position zu sprechen, die gleichzeitig gleich und 'anders' (anders etwa als Migrantinnen und Migranten, die als Gefahr und Agenten einer imaginierten 'Umvolkung' gelten) zu sein.

Spricht man nun mit rechten Provokateuren – die Provokation besteht zumeist schon einmal darin, dass Rechte für sich in Anspruch nehmen, genauso wie andere identitätspolitische Grupierungen die Deutungsmacht darüber, ob sie als gleich oder nicht-gleich behandelt werden, zu besitzen und in den Augen linker Identitätspolitik eine Täter-Opfer-Verkehrung vorzunehmen – und behandelt sie als ernstzunehmende Diskursteilnehmer, so bietet man ihnen letztlich eine Bühne, "normalisiert" ihre Positionen, wie es im Neusprech gewisser Linker und Nicht-Rechter heißt. Antwortet man auf Provokationen mit dem Abbruch von Kommunikation (und dies geschieht in den meisten Fällen mit Verweis darauf, entweder man persönlich oder andere, die es davor zu schützen gelte, würden durch das, was der Andere sagt, verletzt, diskriminiert oder gekränkt), handelt man letztlich so, wie es das Gegenüber will: Man "entstellt sich zur Kenntlichkeit", outet sich als intolerant, als jemand, der "Sprechverbote" erteilt und den Anderen viktimisiert.

Moralische Positionen, die sich gegenüberstehen, aber nicht mehr miteinander kommunizieren, Opfernarrative zu beiden Seiten, führen aber keineswegs dazu, dass die Welt – oder das Netz – besser wird. Man sollte die Toleranzschwelle für das, was man für moralisch inakzeptabel hält, reflektieren. Das genau ist nämlich die Funktion der Ethik für die Moral. Einer Ethik, die Bernd Stegemann keineswegs abschreibt, genauso wenig wie Moral per se. Was Stegemann kritisiert, ist vielmehr ein Moralismus, die moralische Bewertung von Sachverhalten, in denen Moral eigentlich nichts zu suchen hat, um die eigene Position zu stärken.

Nicht alles ist immer gleich pomo

Er schaue mit dem kühlen Blick der Systemtheorie auf den hitzigen Streit der Moral, schreibt Stegemann. Dass er oft auch überhitzt, verärgert stellenweise. Die Behauptung, Theoretiker der Postmoderne hätten diese nicht nur beschrieben, sondern auch vorangetrieben, bedarf des Belegs abseits reiner Behauptung. Stegemann, dessen Besorgnis um verhärtete Freund-Feind-Konstellationen glaubwürdig ist, sei Jacques Derridas Dekonstruktion genau dieses Schemas ans Herz gelegt. Es sind gerade Denkerinnen und Denker der sogenannten poststrukturalistischen Schule, deren Überlegungen ein äußerst wirksames Rüstzeug gegen ein essentialisierendes Verständnis vermeintlicher Identität bereitstellen, gegen das Stegemann selbst ankämpft.

Stegemanns Buch hat einiges Provokationspotential. Es wird auf kräftigen Widerstand stoßen. Das hat zum Teil mit der Streitlust zu tun, mit der er in der "Morallfalle" zu Werke geht. Stegemann weiß, wie hypersensibel die von ihm kritisierte Linke, die Identitätspolitik zu ihrem Hauptgeschäft gemacht, dabei Fragen gesellschaftlicher Umverteilung hintan gestellt und sich somit oftmals zum Erfüllungsgehilfen einer neoliberalen Ideologie gemacht hat, gerade auf die von ihm im Buch immer wieder bemühten Themen wie Migration und Flucht reagiert. Dass die Tatsache, dass er sie dabei mit der Offenlegung so manches 'Betriebesgeheimnisses' ihrer Argumentationsstrategien konfrontiert, nicht unbemerkt bleibt, wäre allerdings wünschenswert.

Info

Die Moralfalle. Für eine Befreiung linker Politik Bernd Stegemann Matthes & Seitz 2018, 205 S., 18 €. Diese Rezension ist in einer kürzeren Version in der Ausgabe 48/2018 erschienen.

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