Der Schriftsteller und Journalist Simon Strauß steht im Casino des Berliner Abgeordnetenhauses und sagt, das eigentlich alles schon gesagt ist in dieser Debatte um seine Person. Strauß meint damit den Streit darüber, ob er, Sohn der Journalistin Manuela Reichart und des Büchner-Preis-Trägers Botho Strauß „rechts“ sei. Ob er „Pamphlete für die AfD“ schreibe.
So stand es jedenfalls in der taz: Strauß stilisiere sich als Nachfahre des Schriftstellers Ernst Jünger, habe die AfD dafür gelobt, Merkels Flüchtlingspolitik „vernünftig“ zu kritisieren. Die heutigen Künstler habe Strauß dafür gegeißelt, „nur noch jämmerliche Untergebene des Konsums und der Moralpolitik“ zu sein und sich dabei auf die „rechtsradikale“ Zeitschrift Tumult berufen. Er habe den neurechten Verleger Götz Kubitschek in den Jungen Salon, den er mit Freunden in Berlin betrieb, eingeladen. Strauß’ Ästhetik sei „die Verwirklichung der Kubitschek'schen Visionen“, schrieb Alem Grabovac. Seither ist kaum ein Tag ohne Wortmeldung zum Thema vergangen. Strauß sei einer von jenen, „denen die AfD zwar zu vulgär ist, deren Anliegen aber scheinbar doch nicht so fern sind“. Er träume von „Auswegen für den bedrohten Mann“ schrieb Antonia Baum in der Zeit. Strauß instrumentalisiere die „Lust am Fabulieren", wolle der "deutschen Literatur ein romantisches, Heimat-orientiertes, Militarismus-verherrlichendes, maskulines Gedankengut" einpflanzen, schrieben Katharina Holzmann und Sascha Ehlert auf dem Blog des Wetter-Magazins und sahen eine Ähnlichkeit zwischen solcher Instrumentalisierung und jenem Denken, dass schließlich zum Holocaust geführt habe.
Manche stellen sich auch vor Simon Strauß, sprechen von einer „Hexenjagd“ (Nora Bossong) oder „Rufmord“ (Ijoma Mangold). Und noch andere halten das alles für eine „Scheindebatte“ in der genauso wie in Strauß’ Buch vieles „einfach Quatsch“ sei (Paul Jandl in der NZZ), „ eine der bescheuertsten, absurdesten, überflüssigsten Feuilletondebatten der jüngeren Zeit“ (Gerrit Bartels im Tagesspiegel). Die Debatte franst aus, es geht um den Frauenanteil in den Feuilletons und die Frage, welchen Beruf der Vater hat. Über Mütter und ihre Berufe wird noch nicht gestritten.
Strauß schweigt laut
Bis jetzt ist einer recht still geblieben: Simon Strauß selbst. Abgesehen von einem offenen Brief an das Wetter-Magazin auf Facebook, in dem er persönlicher Enttäuschung Ausdruck verlieh (man kennt sich) und die Kritiker etwas paternalistisch dafür tadelte, weder von Ernst Jünger noch von der Romantik einen mehr als nur blassen Schimmer zu haben: nichts. Er wolle kein Interview geben, doch ich könne ihn – die Debatte ist da erst zwei Wochen jung – bei den Jewish History Awards treffen, hatte mir Strauß in einer E-Mail geschrieben. Die Auszeichnung, die eine amerikanische Stiftung an Deutsche vergibt, die sich um die Erinnerung an jüdisches Leben verdient gemacht haben, geht heute auch an die Joseph-Gruppe. Benannt ist sie nach dem Holocaust-Überlebenden Rolf Joseph. Den hatte Strauß noch zu Schulzeiten kennengelernt und zusammen mit Mitschülerinnen und Mitschülern Josephs Leben aufgeschrieben. Seit seinem Tod 2012 gibt es den Rolf-Joseph-Preis, der an Schüler geht, die sich mit jüdischem Leben beschäftigen. Heute hat man zwei Preisträger mitgebracht, die eine Art Trickfilm über eine deutsch-jüdische Familie aus dem Gebiet des jetzigen Polens gemacht haben. In Polen waren sie deutsche, unter der NS-Herrschaft in Berlin verfolgte Juden.
Mir kommt Ernst Kantorowicz, in Polen geboren als deutscher Jude, in den Sinn. Der Historiker kämpfte nach dem Ersten Weltkrieg in rechtsnationalen Freikorps, war wahrscheinlich an der Niederschlagung der Münchener Räterepublik beteiligt. Dass Strauß das in seiner Besprechung von Robert R. Lerners Kantorowicz-Biographie nur als Station auf dem Weg in den George-Kreis, in dem sich esoterische Kunstreligion mit dem Kult des Dichterfürsten verband, abhandele, das „lässige Nebeneinander“ protofaschistischer Gewalt und intellektueller Biographie, ist Volker Weidermann im Spiegel aufgestoßen. Als Professor im kalifornischen Berkeley – Kantorowicz musste 1938 Deutschland verlassen – verweigerte Kantorowicz sich dem Loyality Oath, der von öffentlich Angestellten im Zeichen der damaligen Hexenjagd auf Kommunisten verlangt wurde. Simon Strauß' Rezension, die merklich stärker am Kantorowicz der Vorkriegsjahre interessiert ist als am Historiker, der am Institute for Advanced Studies in Princeton die epochale Studie Die zwei Körper des Königs schrieb, erwähnt diese Episode, die Kantorowicz den Job kostete. Weidermann nicht. Er hatte Strauß' literarischen Erstling, den Romanessay Sieben Nächte euphorisch gefeiert. Ein Zitat von Weidermann schmückt den Schutzumschlag des Buches.
Am Rednerpult des Abgeordnetenhauses spricht Strauß souverän, wie einer, der Öffentlichkeit gewöhnt ist. Er spricht von Lethe, dem Fluss des Vergessens in der griechischen Mythologie. „Alte Sprachen sind doch genau dein Ding, Simon!“ haben Ehlert und Holzman geschrieben und den Römer Ovid zitiert: „Principiis obsta!“. Wehre den Anfängen. Strauß ist promovierter Althistoriker. Er nennt Rolf Joseph Großvater, sich und seine Mitstreiter dessen Enkel. Keine Hollywoodproduktion, keine Seminarstunde wird einem den Holocaust vergegenwärtigen, sagt er, aber wer in der Erinnerung lebe, sei niemals tot. Der Preis wird von nun an zusammen mit der Seite Jugend schreibt der FAZ ausgelobt, die besten Beiträge veröffentlicht.
Die falschen Bezüge?
Er glaube, es sei falsch, die Rechten zu isolieren, nicht mit ihnen zu sprechen, denn das würde sie nur stärken, sagt Strauß später zu mir. Der Name Kubitschek fällt nicht. Das Treffen zwischen den Gästen des Jungen Salons und dem Verleger war für diesen enttäuschend verlaufen, wie Kubitschek in seiner Zeitschrift Sezession schrieb: "Man stand dort ein wenig ratlos und ein wenig lächelnd vor unserem Furor, unserer Sehnsucht nach einer fundamentalen Freiheit." Ich erwähne die Diskussionen um das Buch Mit Rechten reden von Per Leo, Maximilian Steinbeis und Daniel Pascal Zorn, die Krawalle auf der Frankfurter Buchmesse, mein Befremden über die aggressive Ablehnung, die das Buch von selbsterklärten Linken erfahren hat. Auf der Messe habe ich Strauß zuletzt getroffen, beim Empfang des Rowohlt-Verlags. Wir kennen uns, Strauß und ich: Im Frühjahr 2017 haben wir über Europa als Heimat diskutiert, irgendwo auf einer Burg in Südthüringen, bei einem Treffen der Gruppe Arbeit an Europa, die Strauß mit einigen anderen jüngeren Intellektuellen gegründet hat.
Strauß sagt, er müsse sich die Aufmerksamkeit, die ihm jetzt gezollt werde, erst verdienen. Erst einmal mehr schreiben. Die "Denunziationen", wie er sie heute Abend noch zweimal nennen wird, dienten nur dazu, der Debatte einen extra Dreh zu geben. Ich verstehe nicht gleich, frage nach. Die sechs Millionen, der Faschismusvorwurf, das sei einfach nur eine weitere Drehung in dieser Debatte, sagt Strauß und meint Holzmann und Ehlert. Dafür sei das hier aber zu wichtig. "Das": das meint die Erinnerungsarbeit, für die er gerade ausgezeichnet wurde. Was allein ihn an der Debatte interessiere sei, ob, frei nach Brecht, in finsteren Zeiten ein Gespräch über die blaue Blume tatsächlich ein Verbrechen ist– das hatte man im Wetter behauptet. Ob Kunst eine Eigenlogik jenseits des Tagespolitischen habe und ob es falsch sei, diese zu betonen. Er erwähnt einen Artikel von 2014: Ich sehne mich nach Streit heißt er, das gelte immer noch. 2014 war Simon Strauß 26 Jahre alt, noch nicht Redakteur und Autor. Jetzt ist Simon Strauß in seinem dreißigsten Jahr, Romancier, Theaterkritiker. Die rechte Publizistin Ellen Kositza hat den Bogen von Strauß' Sieben Nächten zu Bachmanns Erzählung von 1961 gespannt, eine Coming-of-age-Geschichte wie die Sieben Nächte und dabei so anders.
Strauß sagt, er wolle ernstzunehmende Auseinandersetzungen. „Auch über Männlichkeit?“, frage ich ihn, denke an Antonia Baum, die in der Zeit an zwei Stellen schreibt, Strauß’ Alter Ego in Sieben Nächte esse Fleisch. Der Karnivore: kein Mann von heute. „Auch über Männlichkeit“, bejaht Simon Strauß meine Frage. Aber er sei vor allem Theaterkritiker. Im Theater sei ihm aufgefallen, wie oft Kunst für moralische und politische Ziele verwertet werde. Antoni Liberas kleiner Aufsatz Was ist der Künstler in der Welt von heute in Tumult, auf den sich er sich bezogen hat, stellt eine Typologie heutiger Künstler auf. Da gibt es die, die sich der Unterhaltung verschrieben haben, die, die gemerkt haben, dass Kunst höchste Suggestivkraft besitze und daher zu politischen Agitatoren werden und schließlich jene, die sich sowohl Kulturindustrie als auch politischer Kunst verweigern. Nachfahren der Propheten, schreibt Libera. Strauß hätte nicht unbedingt Tumult zitieren müssen, hat Nora Bossong geschrieben, jene tatsächlich immer rechter werdende Zeitschrift, die bis vor kurzem noch ein Flagschift der Theorie-Generation war, die Philipp Felsch in seinem Buch Der lange Sommer der Theorie beschreibt. In den Neunzigern gab es ein Sonderheft zu Kantorowicz. Vielleicht war es ein Fehler, aus Tumult zu zitieren, Adorno wäre besser gewesen, sagt Strauß jetzt. Er plane eine Podiumsveranstaltung mit einem Ästhetikphilosophen. Und vielleicht einem Verfechter politischer Literatur. Ende Februar, dass hat Strauß’ Lektor bei Blumenbar, Tom Müller gerade bei der Programmvorstellung des Aufbau Verlags in Berlin angekündigt, werde es einen Abend zum Thema, wie politisch Literatur sein müsse, geben.
Deutschlandfahnen, Jutebeutel und Schulz
Ein junger Mann kommt auf uns zu, Strauß wird gebraucht, es wird gefilmt. Kurz scheint er zu überlegen, ob unser Gespräch hier schon beendet ist. Während er weg ist, sehe ich mich um. An der Wand: ein großes Tryptychon. Auf dem linken Flügel die Grenzöffnung an der Invalidenstraße, auf dem rechten der Potsdamer Platz. November 1989. In der Mitte das Brandenburger Tor, Menschen, die auf der Mauer stehen. Über ihnen flattert die schwarz-rot-gelbe Flagge im Wind. Unter dem linken Flügel: die Tür zu den Toiletten. Irgendwo in Sieben Nächte wandert der Blick des Ich-Erzählers zum Himmel: „Oben auf dem alten Backsteingebäude weht die Deutschlandfahne im Wind und fragt sich, wofür. Warum sich jeden Tag aufs Neue hochziehen lassen, wenn doch keiner zu ihr aufschaut.“ In der taz stand, Strauß beschwöre “Schicksalsgemeinschaften, Geheimbünde, mythologische Verzauberungen, utopische Glutkerne, tiefe Wunden, Schmerz, Hass, Wut, wehende Deutschlandfahnen, erhobene Arme und die Sehnsucht nach dem großen Neuanfang“.
Strauß kommt wieder, wir spazieren durch die Gänge des Abgeordnetenhauses, an Gemälden, die Hans-Dietrich Genscher oder Herbert von Karajan zeigen, vorbei, sprechen, worüber Simon Strauß sprechen möchte. Über den alten Konflikt zwischen engagierter Literatur und autonomer Ästhetik. Sartre gegen Adorno sage ich. Bohrer gegen Habermas sagt Strauß. Was denn an Mallarmé rechts sei, will er wissen und ich spekuliere, ob der Vorwurf des politischen Konservatismus, der Vertretern einer weltabgewandten Ästhetik gemacht werde, etwas mit Sippenhaft zu tun habe. Kurzes Aufflackern in Strauß Augen: wahrscheinlich denkt er, dass ich jetzt über seinen Vater sprechen will. Will ich nicht – ich überlasse das Maxim Biller – und sage Stefan George. Was denn mit Becket sei, fragt Strauß, den könne man doch nicht rechts nennen. Dass er nicht verstehen könne, dass es manchen reiche, Kunst in Kategorien des Politischen zu fassen. Wie man das intellektuell befriedigend finden könne. In seiner Redaktion sei Dietmar Dath derjenige gewesen, der sein ästhetisches Anliegen am besten verstanden habe.
Wir sprechen über Ernst Jünger- und Carl Schmitt-Zitate in seinem Buch. Die seien doch ironisch gebrochen, sagt er, obwohl er ein schwieriges Verhältnis zur Ironie habe. Irgendjemand hat Strauß in die Tradition der deutschen Popliteratur gestellt, Kracht, Illies. Auch die glaubten an Jarvis Cockers „Irony is over“. Am Stand des Antaios Verlags auf der Frankfurter Buchmesse gab es Jutebeutel als Werbegeschenke, die mit einem Zitat aus Jüngers Roman Auf den Marmorklippen von 1939, den Wohlwollende als Parabel auf den Nationalsozialismus lesen wollen, bedruckt waren: "meyn geduld hat ursach". In einem seiner Artikel hat sich Strauß gegen die Vereinnahmung des Autors der Stahlgewitter durch den damaligen Kanzlerkandidaten Martin Schulz verwehrt. Der hatte sich in einem Gespräch als Jünger-Leser geoutet und gesagt, dieser sei im Alter immer linker geworden. Wenn Schulz versuche, Jünger "zum verkappten Genossen zu machen, dann tut er das womöglich auch weniger als Kenner seines Werks" mutmaßte Strauß. Wahrscheinlich hat er den Buchhändler Schulz da unterschätzt. Das sage ich ihm jetzt nicht, aber dass es nicht Strauß’ stärkster Artikel gewesen sei, das sage ich. Er ist kurz irritiert. Gekränkte Eitelkeit? Wenn, dann ist sie nach einer Sekunde verflogen: Das sei witzig gemeint gewesen, sagt er.
Es wird Zeit zu gehen. In der Tasche meines Jackets steckt Arthur Millers Theaterstück Hexenjagd von 1953, in dem eine historische Begebenheit zur Allegorie der Kommunistenjagd unter McCarthy wird. Ich halte Strauß das Buch vor die Nase, vielleicht kann ich ihm ja noch etwas zum aktuellen Streit entlocken. Kein Erfolg. Ich sage, er hätte das sicher gelesen. Seine Augen glänzen: Nicht nur gelesen , sondern auch oft auf der Bühne gesehen. Als wir zum Casino zurückgehen, versuche ich es direkter: Beleidigt es Strauß, „rechts“ genannt zu werden? Kurzes Nachdenken. Wenn rechts sei, zu sagen, dass Kunst einen Wert habe, eine Eigenlogik, jenseits der Tagespolitik, dann sei er ein Rechter. Aber nur dann, sagt Strauß.
Bei diesem Text handelt es sich um die leicht veränderte und erweiterte Fassung eines Artikels, der im Freitag 05/2018 erschienen ist.
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