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Asche Wolfgang Herrndorf starb vor fünf Jahren, nun erscheinen bislang ungedruckte Texte. Danach soll Schluss sein
Ausgabe 40/2018

Kann es nicht egal sein, wie sich andere an einen erinnern? Klar, aber da normale Leute im Leben nicht wollen, dass man schlecht von ihnen denkt, geschweige denn redet, ist es doch auch verständlich, dass man das auf die Nachwelt ausdehnen will, oder? Für den, der schreibt, ist das aber eine müßige Unterscheidung. Denn „wer schreibt, der bleibt“. Jedenfalls wenn gilt, dass es sich nach einmaligem Lesen nicht in Miss- oder Wohlgefallen auflösen soll. Die Frage lautet also: „Ist das Kunst, ist das Literatur, oder kann das weg?“ Dass die von anderen beantwortet wird, ist die Misere. Im Leben kann man sich gegen missliebige Antworten wehren, danach ist‘s düster. Die Nachwelt vergisst oder rühmt. Wenn sie nicht vergisst, dann schert sie sich wenig drum, wie einer erinnert werden wollte, wie zitiert. Meistens jedenfalls.

Mit dem Internet, vor allem mit den sozialen Medien sind das Fragen geworden, die sich auch die stellen müssen, die nicht im strengen Sinne „schreiben“. Denn abgesehen vom immer länger werdenden Datenschatten, den wir alle werfen, schreibt man sich im Netz ständig selbst, sobald man aktiv wird. Das gilt im Hier und Jetzt, aber auch, weil das Netz nicht vergisst, für später. Das ist die Angst: Egal was und wie viel man löscht, irgendwo könnte noch eine Kopie sein. Für immer wahrscheinlich.

Mitte der 1990er musste man sich noch übers Telefon ins Internet einwählen. Mit einem Modem zum Beispiel, das dann diese komischen Geräusche machte, so wie heute, wenn man aus Versehen ein Fax statt eines Telefons anruft. „1996 hatte ich mein erstes 56k-Modem“, so der Ich-Erzähler einer kleinen Geschichte aus dem gerade erschienenen Band Stimmen, der Nachlass-Texte des 2013 verstorbenen Wolfgang Herrndorf versammelt: „Es dauerte drei Jahre, bis einer aus meinem Abiturjahrgang im Netz auftauchte, und fünf Jahre, bis ich sein Foto entdeckte. Es war das Foto eines alten Mannes.“

Bloß keine Fotos! Und bitte …

Vom Internet erzählt die titellose Geschichte, der erste der Texte, die bleiben sollten, aber nur am Rande. In ihrem Zentrum steht Katharina: „Ich war fünf Jahre alt. Wir wohnten im selben Treppenhaus. Im Flur hingen Briefkästen mit Hammerschlaglack, in denen wir mit Zweigen rumstocherten, bis die Post rausfiel.“ Die Kinder spielen nicht nur dort, sondern auch da, wo Katharina anders als ihr Freund eigentlich nicht hindarf. „Ich bekam auch nie eine Zeit mit, ich durfte alles.“ Im Kornfeld finden sie einen Puppenküchen-Blechherd, machen darin Feuer, „mit Gras und Zweigen und Vogelfedern und Draht und Lehm und Tannenzapfen. Nicht alles brannte“. Aber heiß wird das Ding, so heiß, dass sich die zwei je einen Finger bös‘ verbrennen, „ein furchtbarer Schmerz“. Peinlich: „Zum Abschied nahm ich Katharina in den Arm und versteckte meinen Kopf in ihren braunen Haaren, damit sie nicht sehen konnte, wie ich an meinem Finger lutschte.“ Trotzdem: „Ich war überzeugt, dass wir eines Tages heiraten würden.“ Es kommt natürlich nicht so, kommt ja nie so, auch wenn beide noch mindestens zehn Jahre im selben Treppenhaus wohnen. „Nur einmal wollte jemand wissen, wie Katharina und ich uns früher geküsst hätten. Ich demonstrierte es, alle lachten, und mir machte das nichts aus. Es war die letzte Berührung mit einem Mädchen, bis ich erwachsen war.“ Bis dahin, bis zum 56k-Modem: Verliebt in verschieden Mädchen aus der Schule, die heißen Susanne, Martina (der fehlte ein Finger, Schlittschuhlaufen), Caroline (hatte Busen, weil sitzen geblieben), vielleicht Stephanie Götterbarm (Ferienliebe), ab der Zehnten dann eine Yvonne. Der erste beste Freund tritt auf, und peinliche Fragen des Vaters, immer nur dann wenn Fridtjof zu Besuch ist, ob er denn schon eine Freundin hätte. Die Mädchen, die nie Freundinnen werden, liebt er, „wie ich als Erwachsener geliebt habe ... Es war ein Sechzehn-Tonnen-Gewicht, das herunterfiel“. Katharina sucht er, findet sie nicht, weder im Netz noch in der wirklichen Wirklichkeit, im Telefonbuch. Gut so: „Ich hoffe, dass kein Foto von ihr auftaucht. Der Tag im Kornfeld, bevor wir uns die Hand verbrannten, war in gewisser Weise der perfekte Tag.“

Das Internet vergisst nicht. Darin ist das Netz dem, was wir von Literatur erwarten, sehr ähnlich, obwohl oder gerade weil wir oft das Netz dafür verantwortlich machen, dass wir nicht mehr lesen. Wie im Buch kann man das meiste, was man mal im Netz gefunden hat, wiederfinden. Man muss nur wissen, wie, digitale Eselsohren knicken, Techniken gibt‘s zuhauf.

Die Geschichte von Katharina ist, wie viele Stücke in Stimmen, schon im Netz zu lesen gewesen. Nachlass ist Stimmen nur bedingt. Der „Löwenanteil“ sei es nicht, so Marcus Gärtner und Cornelius Reiber im Nachwort. Herrndorf schrieb im Internetforum Wir höflichen Paparazzi. Seit 1999 schrieben da (letzter Kommentarstrang am 21.07.2018, gestartet von Benutzer Wortbankrott, Thema: Delay, Jan (Whiskey so, Cola so) um 19.24 Uhr) neben Gründer Christian Ankowitsch auch Tex Rubinowitz, Wolfgang Müller, Joachim Lottmann oder Kathrin Passig. Anders als vieles bei den Paparazzi, was „zum großen Teil aus der Situation heraus und für die Situation geschrieben“ wurde, wie die Herausgeber schreiben, handelt es sich bei dem, was nun im Buch zu lesen ist, um Texte, die Herrndorf (hier oft unter dem Pseudonym „Stimmen“ unterwegs) vorgeschrieben hatte, bevor er sie postete. Ein Schreiben, das mehr als einmal gelesen wurde und mehr als einmal gelesen werden soll. Literatur.

Die Stellung dieser Stücke zwischen Netz und Buch passt zu Herrndorf. Dessen schmales Werk umfasst drei Romane, die zu Lebzeiten veröffentlicht wurden, den späten Pop-Roman In Plüschgewittern (2002), der von Fatih Akin verfilmte Welterfolg Tschick (2010) sowie Sand von 2011, dem Thriller um einen, dem der Schädel eingeschlagen wurde, weshalb er kein Gedächtnis hat, der an den Neo-Noir-Krimi Memento (2000) erinnert. Im kleinen Sukultur Verlag erschien 2007 das fiktive Interview Die Rosenbaum-Doktrin (erweitert 2017 bei Rowohlt), im gleichen Jahr die Sammlung Diesseits des Van-Allen-Gürtels. Noch mit Herrndorfs Mitarbeit entstanden die Druckfassung von Arbeit und Struktur, des Internet-Tagebuchs, das maßgeblich die Auseinandersetzung mit seiner Krankheit (2010 wurde ein Hirntumor diagnostiziert) dokumentiert, und der Roman Bilder deiner großen Liebe, der sich zu Tschick etwa so verhält wie Grimmelshausens Seltzamer Springinsfeld zum Simplizissimus oder Better Call Saul zu Breaking Bad.

Herrndorf war ein Autor, der sich um ein bleibendes Werk bemühte, was zu der Poetik, die Arbeit und Struktur auch ist, passt. Er zeigt sich als einer, der schreibt, um zu bleiben, selbst da, wo er über die Welt der Perversionen schreibt, ein höchst amüsanter Text übrigens, der heute da, wo er vor fast 20 Jahren gedruckt wurde, vielleicht nicht mehr erscheinen würde. Aber wer weiß? Einer, der, anders als es manches in Stimmen suggeriert, etwa der längere Text darüber, wie sich ein Typ den Lottmanns gelben Wartburg „ausleiht“ und ans Meer fährt, oder ein Stück, in dem ein erster Bordellbesuch geschildert wird, weniger spontan und fürs Hier und Jetzt, sondern gezielt und auf Dauer bedacht, fürs Buch eben, schreibt. Selbst dann, wenn manches Weniges jargonhaft nach „Die Members sind eben die Members“ klingt.

… kein Germanistenscheiß!

Im Tagebuch steht, wie man einen verdammt guten Jugendroman schreibt: Vorarbeiten sind wichtig, das Wiederlesen früherer Lieblingsbücher: Pik reist nach Amerika, Herr der Fliegen, Twain. Lektüre der Gewinner des Jugendbuchpreises. Das kommt mit Verachtung für den Betrieb („wollen wir doch erst mal sehen, ob sie beim Deutschen Jugendbuchpreis ein rasend schnell zusammengeschissenes Manuskript von einem durchredigierten unterscheiden können“), die ähnlich stark ist wie für den „Germanistenscheiß“, gegen den sich Herrndorf schon todkrank anlässlich des Isa-Fragments verwehrt. In Fragmenten, tatsächlich aus dem Nachlass – sie befanden sich in Dateien mit dem Titel „on writing“ –, verstärkt sich das: „Man muss nur einen Blick auf Goethes Romane tun, um zu wissen, dass die Literaturwissenschaft komplett spinnt.“ Abgelehnt werden literarische Programme: „Wer in der Literatur Bestimmtes verlangt, soll es sich selber schreiben oder sich ins Knie ficken.“

Ist das Kunst? Ja, Mist ist es jedenfalls nicht, „es gibt nur die Kunst und den Mist“.

„Dieser Band wird der letzte mit neuen Texten (...) sein, schreiben Gärtner und Reiber. Es sind Texte, die bleiben sollten. Herrndorf hat viel dafür getan. Man sollte es ihnen auch wünschen. Wer mehr lesen will: Doch noch mal im Netz gucken!

Info

Stimmen. Texte, die bleiben sollten Wolfgang Herrndorf Marcus Gärtner, Cornelius Reiber (Hg.), Rowohlt 2018, 192 S., 18 €

Cut, Land und paste

Die Bilder dieser Ausgabe stammen von Künstlerinnenkollektiv Live Wild.

Ein Mix aus Collagen, GIFs, Video und Fotografie ist das, ein wildes Manifest: Das Kollektiv Live Wild will das Erbe der Dadaisten und der Fluxus-Bewegung antreten. Sieben junge Künstlerinnen bilden das Kollektiv, die Gründerin Camille Lévêque sieht Künstlerinnen zu sehr auf feministische Aspekte reduziert. Als hätte Kunst von Frauen keine andere Dimension. Das Kollektiv will mehr, „we are DADA-mad“. Mit dabei: Lila Khosrovian, Anna Hahoutoff, Marguerite Horay und Charlotte Fos, die Armenierin Lucie Khahoutian, die Ukrainerin Ina Lounguine. Sie leben und arbeiten verstreut in Europa, Russland, den USA und Kanada. Sie treffen sich jeden Tag online und auf Instagram. Mehr zur Philosophie auf: www.thelivewildcollective.com

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Geschrieben von

Mladen Gladić

Redakteur Kultur und Alltag

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