Jury gesucht

Nelly-Sachs-Preis Dormund ehrt Kamila Shamsie doch nicht. Und Hunderte Intellektuelle kritisieren das scharf. Man sollte das ernstnehmen
Ausgabe 39/2019
Es ist kaum nachzuvollziehen, dass die Jury des Preises nichts von Kamila Shamsies BDS-Sympathien wusste
Es ist kaum nachzuvollziehen, dass die Jury des Preises nichts von Kamila Shamsies BDS-Sympathien wusste

Foto: imago images/Sven Simon

Jurys haben’s schwer. Was sie auch tun, es ist falsch. Shortlist, Longlist, Preis: Andere hätten mehr Berechtigung, draufzustehen, die Ehrung eher verdient. Öffentliches Stänkern, Kritisieren, Besserwissen auszuhalten, ist business as usual für Preisrichter. Meist bleibt’s aber dabei.

Anders jetzt in Dortmund: Der mit 15.000 Euro dotierte Nelly-Sachs-Preis sollte an die britisch-pakistanische Autorin Kamila Shamsie gehen. Dann wurden Stimmen laut, die deren Nähe zur Bewegung Boycott, Divestment and Sanctions (BDS) als Hinderungsgrund sahen, ihr eine Ehrung zuteil werden zu lassen, die nach einer jüdisch-deutschen Holocaust-Überlebenden benannt ist. So etwa Carsten Hueck im Deutschlandfunk, der meint, Shamsie habe den Preis nicht verdient, so Alan Posener in der Welt, der meinte, Shamsie hätte zwar einen Preis verdient, aber nicht diesen.

Hans Magnus Enzensberger nannte Nelly Sachs die „letzte Dichterin des Judentums in deutscher Sprache“. 1966 erhielt sie zusammen mit dem Israeli Samuel Joseph Agnon den Literaturnobelpreis, sie Emigrantin mit schwedischem Pass, er bekennender Zionist. Posener zitiert die Begründung der Jury, wonach beide, „obwohl sie in verschiedenen Sprachen schreiben, geistig verwandt“ seien. Und er folgert: „Kamila Shamsie soll trotz ihrer antiisraelischen Meinungen und Handlungen selbstverständlich für ihr literarisches Werk geehrt werden. Nur nicht mit dem Nelly-Sachs-Preis.“

Der BDS setzt sich unter anderem dafür ein, mit Mitteln des Boykotts den Staat Israel zu zwingen, die Besetzung des Westjordanlandes aufzugeben. Er fordert auch ein Rückkehrrecht der bei Staatsgründung 1948 Vertriebenen und Geflohenen. Der Deutsche Bundestag beschloss im Mai, dass Befürworter eines Israel-Boykotts keine öffentliche Förderung genießen sollen. Manche BDS-Gegner gehen so weit, aus der Forderung nach einem Rückkehrrecht die Intention bzuleiten, den jüdischen Staat zu zerstören. Posener bemühte in diesem Zusammenhang mehr als einmal den ursprünglich rechtsradikalen Mythos vom „großen Bevölkerungsaustausch“. Der Ton ist also rau. Der Vorwurf des Antisemitismus steht auch im Falle Shamsies im Raum. Die nämlich möchte zum Beispiel nicht, dass israelische Verlage ihre Bücher vertreiben, etwa den Roman Hausbrand (2018), der vom Zerbrechen einer pakistanischen Familie zwischen Terror und Rassismus in Großbritannien nach Nine Eleven handelt.

Es ist eigentlich kaum nachvollziehbar, dass die Jury des Nelly Sachs-Preises nichts von Shamsies BDS-Sympathien wusste. Dass sie jetzt auch mit dieser Begründung den Preis für Persönlichkeiten zurückzog, die laut Satzung „herausragende schöpferische Leistungen auf dem Gebiet des literarischen und geistigen Lebens hervorbringen, die in ihrem Leben und Wirken geistige Toleranz, gegenseitigen Respekt und Versöhnung unter den Völkern und Kulturen verkünden und vorleben“, ist schon daher eine Farce. Und auch dass Shamsies Statement zum Vorgang nicht auf der offiziellen Dortmunder Nelly-Sachs-Website erscheint, ist mehr als befremdlich.

Schlimmer als das empfinden es Hunderte Intellektuelle in einem offenen Brief, unter ihnen John M. Coetzee, Nelly Sachs-Preisträger Michael Ondaatje, Alexander Kluge, Sally Rooney und Naomi Klein. Sie fürchten, dass der Dortmunder Fall Schule machen könnte: Die strategische Identifizierung von Kritik an israelischer Politik mit Antisemitismus könnte gang und gäbe werden. Schon weil es sich bei diesen Intellektuellen nicht um irgendwen handelt, sollte man solche Befürchtungen ernst nehmen. Sonst wird man die Angst schüren, in Deutschland müsse man sich einer Gesinnungsprüfung unterziehen, um als Kulturschaffender gewürdigt zu werden. Vielleicht sollte man, als eine Art Schadensbegrenzung, Alan Poseners Vorschlag befolgen: Ein Preis wird also gesucht für Kamila Shamsie, der sie für ihr literarisches Werk ehrt. Das wäre ein Zeichen.

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Geschrieben von

Mladen Gladić

Redakteur Kultur und Alltag

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