Ganz schön unkreativ würden Sie, liebe Leserin und lieber Leser, es aller Vermutung nach finden, wenn wir Ihnen hier anstelle einer Buchbesprechung lediglich den zu rezensierenden Text abdruckten, oder? „Da macht’s sich jemand leicht“, würden Sie denken. Und vielleicht: „Dafür kaufe ich den Freitag doch nicht, dass dieser Redakteur überhaupt nichts Eigenes zu Uncreative Writing sagt, und einfach nur abschreibt.“ – „Moment!“, würde ich antworten, „Langsam: Erstens handelt es sich bei Kenneth Goldsmiths Buch, der Titel spricht ja schon Bände, um ein Plädoyer für Literatur, die sich den Zwängen, Neues zu schaffen, vulgo: der eigenen Kreativität freien Lauf zu lassen (oder besser, sie zu bemühen), verweigert. Eine Streitschrift für das Unoriginelle. Hier, in dieser Zeitung, genau das zu machen, was der Text predigt, das wäre ja gerade ein Beweis dafür, dass der Rezensent verstanden hat, worum es geht.“
Zweitens könnten Sie ganz beruhigt sein: Mit Faulheit hätte das alles nichts zu tun. Auch Abschreiben ist Arbeit. Hier zum Beispiel, die passenden Passagen auszuwählen. Auf den knapp unter 7.000 Zeichen, die Sie gerade lesen – als Autor dieser Zeitung schreibe ich nicht nur für die geschätzten Leserinnen und Leser, sondern auch für Art Direction und Layouter, die bestimmen, wie lang ein Text, ein Zwischentitel, eine Überschrift sein darf –, lässt sich so ein 351-Seiten-Essay nicht unterbringen. Keine Gedanken müsste ich mir immerhin um die Schrift machen, in der wir den Text abdrucken würden: Der Freitag ist in TheAntiquaF von Lucas de Groot gesetzt. Hiervon abzuweichen, zum Beispiel Arial oder Helvetica verwenden zu wollen, hätte etwa so viel Erfolg wie bei Marco, unserem Chef vom Dienst, der mit eiserner Hand für die Einhaltung von Deadlines sorgt, darum zu betteln, diese Buchbesprechung erst morgen abliefern zu dürfen. In spätestens einer Stunde wird er anfangen, vor meinem Büro vorbeizutigern, mir gelegentlich einen vielsagenden Blick zuzuwerfen, und dann, nachdem die Frequenz dieser Blicke sich gesteigert und die eine oder andere Nachfrage mein Ohr erreicht hat, muss ich liefern.
Mit dem Plan, unkreatives Schreiben getreu umzusetzen, hätte ich es, dank der sanften Zwänge, die mir die Zeitung auferlegt, daher vielleicht leichter als Goldsmith, als er 2003 bei seinem Buch Day gewissermaßen in umgekehrter Richtung vorging.
Studierte Unoriginalgenies
„Am Freitag, dem 1. September 2000, begann ich mit dem Abschreiben der New York Times desselben Tages, Wort für Wort, Buchstabe für Buchstabe, von der oberen linken Ecke bis zur unteren rechten Ecke, Seite für Seite.“ Kinderspiel, meinen Sie jetzt? Klingt so, zumal der Künstler, der schon im Weißen Haus gelesen hat, anders als ich alle Zeit und fast alles Papier der Welt hatte. Mag es auch schwergefallen sein, so unkreativ zu sein, mag mit jedem Tastenschlag die Versuchung zu schummeln aufgetaucht sein, dem Text eine originelle Idee unterzujubeln. Selbst bei 200 Seiten Wirtschaftsteil ging es schlicht darum, Kopierarbeit zu verrichten, machbar für alle, die lesen können und eine Tastatur bedienen.
Doch das ist nicht die ganze Miete. Goldsmith hatte es tatsächlich schwerer als ich: Entscheidungen über Entscheidungen! Was macht man mit der Schriftart, der Schriftgröße und der Formatierung? Wenn er die Bilder entfernte (während er den Text, der in Bildern auftaucht, beibehielt, wie Autokennzeichen in der Werbeanzeige), musste er immer noch die Bildunterschrift verwenden. Bliebe er den schlanken Spalten treu oder schriebe er jeden Artikel umbruchlos in eine lange Zeile? Was machte er mit den Textzitaten, die als Blickfang dienen? Und welchen Weg würde er auf der Seite zurücklegen? Goldsmith hatte zwar die Absicht, sich von der oberen linken Ecke der Seite zur unteren rechten zu bewegen, aber was sollte er machen, wenn er das Ende der Spalte erreicht hatte und es dort hieß: „Fortsetzung auf Seite 26“? Blätterte er zur Seite 26 und beendete den Artikel oder würde er zur nächsten angrenzenden Spalte springen und dort mit einem neuen Beitrag beginnen? Und wenn er diese Sprünge machte, würde er einen neuen Zeilenumbruch einfügen oder flösse der Text einfach weiter? Wie sollte er Werbeanzeigen behandeln, die häufig spielerische Textelemente enthalten und mit verschiedenen Schriftarten und Stilen arbeiten? Wo sind die Zeilenumbrüche in einer Werbeanzeige, in der die Worte regellos über die Seite treiben? Und wie sieht es mit den Sportstatistiken aus, den Kleinanzeigen?
Jetzt habe ich es doch getan. Vom Wörtchen „was“ an, das Sie im vorherigen Absatz gelesen haben bis zum Begriff „Kleinanzeigen“, mit dem er schließt, habe ich fast nichts selber geschrieben. Ich habe abgeschrieben. Goldsmiths Worte. Zu finden auf den Seiten 159 und 160 von Uncreative Writing.
Meine Arbeit dabei:Ich habe die Personalpronomen von der ersten in die dritte Person geändert, bei den Verben die Zeit angepasst, ein paar Wörter und Satzteile gelöscht. Nicht sehr schweißtreibend, denken Sie jetzt? Stimmt. Vor allem, weil ich einfach mit copy & paste arbeiten konnte – ich habe ein PDF des Textes. Aber beim Kopieren ergaben sich Veränderungen: Trennungsstriche, wo sie nicht sein sollten, eine Seitenzahl hatte sich in den Text geschlichen. Kopierfehler. Mehr Arbeit, aber nur ein bisschen. Was ich hier mit Goldsmiths Text angestellt habe, ist gang und gäbe im Digitalen: Text wird als Material gesehen, kopiert, modifiziert, geteilt. „Man parst, sortiert, leitet weiter, kanalisiert, tweetet und retweetet“, schreibt Goldsmith, der seit Jahren als Professor an den Ivy-League-Universitäten der US-Ostküste Studierende zu „Unoriginalgenies“, wie sie die Literaturtheoretikerin Marjorie Perloff nennt, ausbildet. In der Kunst nämlich, „Informationen zu managen und sie als Literatur darzustellen“. Vorbilder für eine solche Navigation im Digitalen, die überraschenderweise den passiven Akt des Lesens in einen aktiven, man möchte fast sagen, kreativen des Schreibens verwandelt, findet Goldsmith vor allem in der bildenden Kunst, in den Avantgarden des letzten Jahrhunderts. Ganz folgerichtig betreibt er mit Ubu Web schon seit1996 eine Plattform. Er nennt sie eine Art Robin Hood der Avantgarde. Denn sie nimmt von den vielen und gibt den vielen: Musik von Kippenberger (Punkrock) oder Beuys (Sonne statt Reagan), Lennons Tagebücher, Videos von Richard Serra oder Dalís Hommage an Raymond Roussel aus den 1970ern. Das Gegenteil der momentanen Kunstwelt, die auf Verknappung setze, nicht auf Fülle: Es geht um radikale Verteilung und Gabenökonomie im Netz. Wo man so unkreativ sein kann, wie man will. Also ran an die Arbeit!
Info
Uncreative Writing Kenneth Goldsmith Swantje Lichtenstein, Hannes Bajohr (Übers.), Matthes & Seitz Berlin 2017, 351 S., 30 €
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