Der englische Journalist und Buchautor David Goodhart beklagt einen Riss, der durch unsere Gesellschaften geht. 2017 hat er mit dem Gegensatz von „Somewheres“ und „Anywheres“ eine Unterscheidung vorgeschlagen, die seither, vergleichbar mit Andreas Reckwitz' Befund einer Gesellschaft der Singularitäten oder Oliver Nachtweys Rede von der Abstiegsgesellschaft, in aller Munde ist. Aber worüber sprechen wir eigentlich ganz genau, wenn wir den einen als Anywhere und die andere als Somewhere bezeichnen? Und ist der Gegensatz einer, der überall anzutreffen ist? In Zeiten erschwerten Reisens führen wir unser Gespräch über Skype, Goodhart in Nord-London, ich irgendwo in der südwestdeutschen Provinz. Als höfliche Kosmopoliten und Europäer „switchen“ wir während des Interviews des Öfteren vom Englischen ins Deutsche – Goodhart war in der Wendezeit als Korrespondent der Financial Times in Bonn tätig.
Der Freitag: Herr Goodhart, Ihr Buch ist in Großbritannien im März 2017 erschienen – rechtzeitig zur Brexit-Abstimmung im Sommer 2016 und auch zur Wahl von Donald Trump im Winter des Vorjahres. Haben diese beiden Ereignisse den Erfolg des Buches, und auch den der Unterscheidung von „Somewheres“ und „Anywheres“, begünstigt?
David Goodhart: Ich habe mit dem Schreiben im Frühjahr 2016 angefangen – am Anfang wollte ich ganz allgemein über die „postliberale“ Gesellschaft schreiben, eine Gesellschaft jenseits von links und rechts. Und dann, Anfang Juni 2016, kam, ganz unerwartet, diese Brexit-Entscheidung. Also habe ich versucht, dieses Ereignis einzubinden. Am Anfang war meine Idee vielleicht ein bisschen akademischer, weniger journalistisch – es ist grundsätzlich ein journalistisches, polemisches Buch, aber ich stütze mich auf Daten und Informationen, die insbesondere im jährlichen British Social Attitude Survey erhoben werden. Das Buch ist durch die Brexit-Abstimmung und die Wahl Donald Trumps vielleicht ein bisschen politischer geworden, als ich es am Anfang erwartet habe, teilweise dank dieser Ereignisse: am Anfang der Brexit, und dann am Ende – der Schreibprozess hat ungefähr sechs Monate gedauert – am Ende kommt im November Trump! Es war sehr gut „getimet“. Es war eines der ersten Bücher mit einer allgemeinen Theorie darüber, was passiert ist. Ich hatte Glück.
Der Begriff „Somewhere“ ist ein bisschen schwer ins Deutsche zu übersetzen. Er bezeichnet einen bestimmten Ort, aber mit „Somewheres“ und „Anywheres“ meinen Sie auch zwei gesellschaftliche „Typen“. Sie signalisieren mit ihrer Gegenüberstellung einen Riss, der durch die Gesellschaft geht. Was macht einen „Somewhere“ aus?
Somewheres sind sind Menschen. die stärker verwurzelt sind als Anywheres. Normalerweise sind Somewheres weniger gut ausgebildet, nur selten haben sie akademischen Hintergrund. Somewheres schätzen Sicherheit und Stabilität. Aber sie sind durchaus auch moderne Leute! Wie bei fast allen findet sich bei ihnen eine Mischung aus traditionellen und modernen Ansichten.
Und die Anywheres?
Normalerweise sind die besser ausgebildet, mobiler, finden sich in unserer modernen Welt besser zurecht. Unabhängigkeit und Mobilität sind zwei ihrer Grundwerte. Ihre Identität speist sich nicht so sehr aus einer Gruppenzugehörigkeit oder aus der Verbundenheit mit einem bestimmten Ort, an dem sie leben.
Die Unterscheidung ist breit diskutiert worden, auch in Deutschland, lange vor der Veröffentlichung der deutschen Ausgabe in diesem Monat. Und das, obwohl Sie sich zunächst auf Großbritannien und die britische Gesellschaft bezog.
Ja, ich habe gelesen, dass sich in Deutschland zum Beispiel Sigmar Gabriel von der SPD auf meine Unterscheidung von Somewheres und Anywheres bezogen hat. Ich glaube, dass diese Labels in allen entwickelten, wohlhabenden Ländern etwas beschreiben. Der Trend ist überall ähnlich.
Wie ist es bei aufstrebenden Weltmächten wie China oder Indien?
Dazu kann ich nicht sehr viel sagen. Ich denke aber, diese Gesellschaften sind sozial weniger mobil. Die kognitive Meritokratie und ihre Ideologie sind weniger einflussreich. Die Eliten sind nationalistischer, traditioneller und weniger beeindruckt von der Weltsicht westlicher Eliten – Offenheit, Unabhängigkeit, Selbstverwirklichung im Job und so weiter.
Gibt es wissenschaftliche Vorarbeiten, die sie zu ihrer Gegenüberstellung von Somewheres und Anywheres inspiriert haben?
Ich beziehe mich mit meiner Unterscheidung von Somewheres und Anywheres ja auf den amerikanischen Soziologen Talcott Parsons. Parsons sprach von einem Spektrum zwischen „Erworbenem“ und „Zugewiesenem“. Auf der einen Seite gibt es die, die sich als Produkt ihres eigenen Erfolgs, zum Beispiel in der Schule und der Berufswelt verstehen. Die nenne ich Anywheres. Diejenige, die ich Somewheres nenne, haben eher ein Selbstverständnis, dass sich daraus speist, was „objekiv“ gegeben ist: Sie sind zum Beispiel ein Deutscher, Sie sind weiß, Sie stammen zum Beispiel aus Thüringen. Ich muss unterstreichen, dass ich zwar mir zwar die Unterscheidung von "Somewheres" und "Anywheres" ausgedacht habe, aber dass ich diese Gruppen nicht erfunden habe. Sie existieren in der wirklichen Welt.
Welchen Bevölkerungsanteil stellen Somewheres und Anywheres?
Man kann über die genaue Zahl derer diskutieren, die man in den einen oder den anderen Topf steckt. Ich habe den Eindruck, dass die Somewheres ungefähr 50 Prozent ausmachen, und die Anywheres zwischen 25 und 30. Aber es gibt auch viele Untergruppierungen.
Die Gruppen sind also nicht monolithisch?
Nein, es gibt zum Beispiel einige wenige Über-Anywheres, „Bürger des Nirgendwo“, wie sie die ehemalige britische Premierministerin Theresa May genannt hat, die ihr Leben auf Flughäfen verbringen. Und Somewheres, die sozusagen überverwurzelt und fremdenfeindlich sind. Aber das sind letztlich Extreme.
Sie scheinen eher mit den Somewheres zu sympathisieren ...
Beide Werte-Welten sind, zumindest in ihrer Normalform, vollkommen „anständige“ („decent“) Weisen, zu leben, sich ein Bild von der Welt zu machen. Das Problem ist der Konflikt zwischen ihnen.
Apropos Anstand: Ihr Buch ist ein Buch über den Populismus, aber auch ein Plädoyer dafür, nicht auf die Somewheres herabzublicken. Es ist sozusagen ein Gegenentwurf zu einer Hillary Clinton-Welt, in der Trump-Anhänger, also Menschen, die Sie als typische Somewheres bezeichnen würden, ein „basket of deplorables“, Jammergestalten sind. Sie sprechen in ihrem Buch von einem „besonnenen“ Populismus, wobei „besonnen“ die Übersetzung für das englische Wort „decent“ ist. Ich hätte "decent" allerdings eher mit „anständig“ übersetzt.
Ich habe das mit der Übersetzerin über diesen Begriff diskutiert. In die Entscheidung, den Begriff mit "besonnen" zu übersetzen. spielte dann auch ein politisches Problem hinein. In Deutschland gilt Populismus als inakzeptabel. Ich glaube, dass das Konzept eines „anständigen“ Populismus hier als ein bisschen schockierend empfunden Würde.
Rechtspopulismus ist etwas, was wir nicht mit dem Wort „anständig“ zusammenbringen, richtig. Nach einem antisemitischen Anschlag auf die Düsseldorfer Synagoge im Oktober 2000 etwa forderte der damalige deutsche Bundeskanzler Gerhard Schröder einen „Aufstand der Anständigen“. Noch Jahre später wiederholte er das, diesmal, als es um Pegida ging.
Wir müssen auch hierzulande diskutieren, wo die Linie zwischen legitimem und illegitimem Populismus verläuft. Wir können doch nicht sagen, dass alle Populisten furchtbar sind. Ein Drittel der Ostdeutschen wählt AfD, fast 40 Prozent der Franzosen Rassemblement National, die Partei von Marine Le Pen. Man muss zwischen Leuten wie Björn Höcke und AfDlern, die anständiger sind als Höcke, unterscheiden.
Wo verläuft diese Linie zwischen anständigen und unanständigen Populisten für Sie?
Akzeptanz von Demokratie, Ablehnung von Gewalt als politischem Mittel und von Rassismus. Solange diese Prinzipien gelten, haben wir es mit einem akzeptablen Populismus zu tun.
„Akzeptabel“ bedeutet, dass man mit diesen Leuten reden kann?
Man muss sie nicht unterstützen. Aber in einer Demokratie müssen politische Positionen erlaubt sein, die diesen Prinzipien folgen.
Zur Person
David Goodhart, 63, lebt als Publizist in London. Sein 2017 erschienenes Buch The Road to Somewhere. Wie wir Arbeit, Familie und Gesellschaft neu denken müssen kann man endlich auf Deutsch lesen (millemari 2020, übersetzt von Ulrike Strerath-Bolz u. a., 348 S., 39,95 €)
Gibt es einen Anywhere-Populismus? Wäre Robert Habeck solch ein Populist?
In gewisser Weise ist es ein historischer Unfall, dass Grüne und Konservative auf verschiedenen Seiten der alten Spaltung zwischen links und rechts stehen – beide haben die Liberalen und deren Wunsch nach ständiger Veränderung zum Gegner.
Einwanderung ist das Kernthema des Rechtspopulismus. Auch für Sie und ihr Buch.
Mein letztes Buch, „The British Dream“, drehte sich nur um Fragen der Immigration. Viele Leute haben gesagt, auch "The Road to Somewhere" sei ein Buch über Einwanderung. Aber das ist es nicht. Es ist ein Buch über unterschiedliche Wertvorstellungen. Allerdings stimmt es, ein entscheidender Unterschied hier hat etwas mit der Einstellung zur Einwanderung zu tun. Der andere ist vielleicht die Frage, ob man die Interessen der eigenen Bürger über die von Bürgern anderer Länder stellen sollte.
Sollte man?
Bis vor sehr kurzem hätte man alles andere bizarr gefunden: Die Interessen der eigenen und die von Bürgern anderer Länder stehen nicht oft im Konflikt. Aber manchmal gibt es welche. Nehmen Sie die Corona-Krise: Sollten deutsche Firmen Materialien für den Gebrauch durch deutsche Bürger herstellen oder sollten diese Materialien in andere Länder exportiert werden?
Sollten sie?
Natürlich nicht! Diese Materialien und Produkte sollten für alle deutschen Bürger hergestellt werden. Und natürlich nicht nur für sogenannte „weiße“ Deutsche, auch etwa für Bürger muslimischen oder jüdischen Glaubens. In den wenigen Fällen, wo Konflikte auftreten, ist es absolut normal, die Interessen der eigenen über die der Bürger anderer Staaten zu stellen.
Das ist durch die Freizügigkeit innerhalb der EU komplizierter geworden.
Das hat die Sache verwässert. Freizügigkeit verpflichtet dazu, alle Bürger europäischer Staaten so zu behandeln, als wären sie Bürger des eigenen Staates. Ich glaube, das schafft Probleme. Das war sehr ersichtlich hier in Großbritannien. Zum Teil, weil wir ein so offenes System haben. Ein sehr offenes Sozialsystem, einen sehr offenen Arbeitsmarkt. Es gibt daher wohl mehr offenen Wettbewerb. Das als Problem zu sehen, ist meiner Meinung nach vollkommen legitim.
Das sehen nicht alle so.
Und ich glaube, dass das sehr gefährlich ist, das als als illegitim anzusehen, denn es treibt einen potenziell eher liberalen Populisten in die Arme Ihres Herrn Höcke.
In die Arme eines unanständigen Populisten?
Ja.
Auf das letzte Treffen des „Flügels“ vor seiner Auflösung, Ende letzten Jahres in Binz auf Rügen, haben wir eine Reporterin geschickt. Die berichtete in dieser Zeitung, dass sich Herr Höcke dort in einer Rede auf ihre Unterscheidung von Somewheres und Anywheres bezog: „Wir sind mit und nach David Goodhart die Somewheres“ zitiert sie ihn. Und dann schreibt sie: „Höcke betont ausgiebig, dass Goodhart ja links sei. Der Applaus: höflich“.
Das hat er gesagt? Gut, ich will nicht, dass er sagt: „mein Freund David Goodhart in Großbritannien“. Ich bin froh, dass sich wichtige liberale und sozialdemokratische Politiker, etwa Sigmar Gabriel, auf diese Unterscheidung bezogen haben. Aber bei Konservativen ist sie insgesamt besser aufgenommen worden als bei Linken.
Warum fremdelt die Linke mit Ihrer Sicht auf Somewheres und Anywheres?
Zum Teil, weil ich sage, dass die Leute auf der Linke auch Teil des Problems sind. Leute auf der Linken fühlen sich viel weniger wohl, wenn es um kulturelle und psychologische Fragen geht. Und ich beziehe mich sehr stark auf solche Fragen, sowohl in diesem als auch in dem Buch, das ich gerade abgeschlossen habe. Es wird „Head, Hand, and Heart“ heißen und handelt davon, dass kognitive Fähigkeiten zu viel Prestige genießen in unserer Gesellschaft. Thomas Piketty bezeichnet die Linke, von der ich jetzt spreche, als „Brahmanen-Linke“: Die sozial privilegierten, bestens ausgebildeten Leute auf der Linken oder liberal eingestellte Leute. Anywheres tendieren dazu, liberal zu denken, nicht unbedingt immer links, und mein Buch handelt zum Teil davon, dass sie zu viel Macht und Einfluss in unseren Gesellschaften haben. Ganz klar, dass sie es nicht mögen, wenn ich ihnen sage, dass sie aufmerksamer dafür werden müssen, wie viel Macht sie besitzen und wie sie diese Gesellschaft geformt haben. Nämlich so, dass sie ihren Wertvorstellungen entspricht.
Sie sagen, dass es Ihnen in erster Linie um kulturelle und psychologische Aspekte geht. Eher traditionelle Linke würden sich eher mit wirtschaftlichen Aspekten befassen. Diese fehlen in Ihrer Analyse häufig. Warum ist das so?
Ich sage nicht, dass Ökonomie und Einkommensverteilung, ökonomische Ungleichheit und so weiter, für moderne soziale Unterschiede irrelevant sind – das wäre natürlich verrückt. Wenn Sie mein Buch lesen, werden Sie sehen, dass es viel über Ökonomie und Ungleichheit und Chancen sagt. Aber der Punkt ist, dass unsere Gesellschaften schon immer etwas ungleich waren. Die Ungleichheit mag in den letzten Jahren an einigen Orten zugenommen haben, aber wenn das die Haupterklärung für politische Entfremdung und Populismus wäre, dann würden Sie viel mehr Linkspopulismus erwarten. Den hat es in Spanien auch gegeben, bei Corbyn und so weiter. Doch meistens war der Populismus ein national-konservativer. Wenn es nur um Ungleichheit ginge, warum gibt es dann so viel Populismus in den gleichberechtigtsten Ländern der Welt, zum Beispiel in Skandinavien? Die Ungleichheit ist also nicht irrelevant, und die Finanzkrise von 2008 hat eine gewisse Rolle bei der gegenwärtigen Unzufriedenheit gespielt, aber die schlagenste Erklärung ist eine kulturelle und psychologische. Statusverluste genauso wie Bildungs- undWertunterschiede sind die Hauptursachen für politische Konflikte. Obwohl sich auch hier wirtschaftliche und kulturelle Faktoren oft überschneiden. Daher ist der Statusverlust den Leute erfahren, die in sich Beschäftigungverhältnissen befinden, für die es keinen akademischen Hintergrund braucht, ein Faktor, auf den ich mich oft beziehe. Sie können sich das sowohl als wirtschaftlichen als auch als kulturellen Faktor vorstellen
Formulieren Sie eine konservative Kritik an den Anywheres?
Ich versuche, nicht parteiisch zu sein. Aber es gibt Dinge, die ich akzeptabel finde, die Linksliberale und Liberale im Allgemeinen nicht akzeptabel finden.
Und die wären?
Ich finde es in Ordnung, mit Unbehagen auf einen schnellen Wandel zu reagieren. Zum Beispiel auf Masseneinwanderung. Was nicht akzeptabel ist, ist, wenn Leute sich einzelnen Migranten gegenüber feindlich verhalten. Was nun Leute auf der Linken sagen, ist: „Der ist gegen Migranten.“ Aber wogegen sich der-und-der tatsächlich wendet, ist Immigration im großen Maßstab. Natürlich gibt es genuin Xenophobe, zwei, drei, fünf Prozent unser Gesellschaften werden so sein. Aber die breite Mehrheit, auch der Populisten, ist nicht fremdenfeindlich. Sie sehen Masseneinwanderung als Problem an. Das ist nicht das Gleiche.
Sie sprechen gerade mit einem von über 20 Millionen, die in Deutschland einen Migrationshintergrund haben. Aber nehmen wir einmal die 2,8 Millionen Deutschtürken: Evidenterweise sind kaum Anywheres darunter. Oder?
Leute mit Migrationshintergrund haben häufig ein starkes Gefühl der Gruppenzugehörigkeit. Stärker als Menschen, die der ethnischen Mehrheit zuzurechnen sind, die das auch nicht so sehr brauchen, da die Gesellschaft bereits ihre Prioritäten und Bedürfnisse reflektiert. Und man kann oft eine starke Somewhere-Beziehung zu einem bestimmten Ort beobachten: Menschen aus der Karibik leben oft in Brixton, Menschen mit türkischem Migrationshintergrund in Berlin-Kreuzberg und bilden da eine neue Identität aus. Das ist sehr „somewhere“.
Aber nicht gänzlich?
Diese Leute haben oft starke internationale Verbindungen mit Menschen und Ländern, deren Religion sie etwa teilen.
Hand aufs Herz: Wie lange wird es dauern, bis aus einem Einwanderer ein Somewhere wird?
Jetzt sehen Sie Somewheres zu sehr in ethnischen Kategorien – echte Somewheres müssen nicht Angehörige der ethnischen Mehrheit mit niedrigerem Status sein. Wahrscheinlich machen sie die Mehrheit aus, aber es gibt Somewheres mit höherem Status und auch ethnische „Minderheiten-Somewheres“. Viele Minderheiten sind sehr stark in ihren Gemeinschaften verwurzelt und oft sehr sozialkonservativ. So sind sie Somewheres – oft etwas ungewöhnliche Somewheres, weil sie internationale Bindungen haben. Ich würde sagen, die meisten Deutschtürken sind Somewheres.
Der Konservatismus mancher solcher ungewöhnlicher Somewheres bietet einige Reibungsflächen mit linken und liberalen Anywhere-Ansichten, oder?
Das macht die Geschichte auf eine interessante Weise komplizierter. Denn dann stellen sich Linke auf ihre Seite, weiße, liberale Deutsche. die die Wertvorstellungen vieler Minderheiten ganz gewaltig ablehnen. Patriarchat, Religion, solche Sachen, die, wenn sie von weißen Deutschen vertreten würden, inakzeptabel wären.
Die meisten Menschen, die Sie als Somewheres beschreiben, haben einen ziemlich ähnlichen Kleidergeschmack, sie hören ähnliche Popmusik, sehen ähnliche Filme. All diese Dinge sind ziemlich standardisierte Produkte einer globalen Kulturindustrie. Gefährdet diese Tatsache nicht Ihre Unterscheidung zwischen Somewhere und Anywheres?
Ich denke, dass das bis zu einem gewissen Grad zutrifft – zumindest was die Mode und den Musikgeschmack betrifft, leben wir in recht homogenen Gesellschaften. Das gilt auch für die verschiedenen sozialen Schichten – reiche und arme Kinder und Jugendliche ziehen sich gleich an und hören die gleiche Musik. Aber das bedeutet nicht, dass sie die gleichen Interessen oder politischen Prioritäten haben. Das Gleiche gilt für meine „anywhere/somewhere“-Wertunterschiede
Sie haben erwähnt, dass sie finden, dass Kopfarbeiter im Gegensatz zu Handarbeitern in unserer westlichen Welt zu viel Prestige genießen. Jetzt in der Corona-Krise, wo neben Star-Virologen auch Menschen ohne Hochschulbildung, Krankenschwestern- und Pfleger einiges mehr an Aufmerksamkeit erfahren als üblich. Ist das gut?
Es gibt fast eine Umkehrung der Hierarchie, was den Status der Jobs angeht. Und das ist gut, aus der Somewhere-Perspektive. Ich glaube, das wird zumindest zum Teil so bleiben.
Aber bereits jetzt sagen viele, dass man sich von Applaus und Anerkennung nichts kaufen kann. Die Einkommensverhältnisse ändern sich ja nicht dadurch, dass jemand mit bunter Kreide ein großes „Dankeschön“ auf den Bürgersteig vor einem Schwesternwohnheim schreibt. Anders formuliert: Sind Somewheres nicht nur Somewheres, weil ihnen finanziell keine andere Wahl bleibt? Und wäre die meisten Somewheres nicht lieber superreiche „Bürger des Nirgendwos“ wie der Virgin-Chef Richard Branson, den sie in Ihrem Buch als Beispiel eines Über-Anywhere nennen?
Joan C. Williams, die ein gutes Buch über Klassenbewußtsein in den USA (Overcoming Class Cluelessness in America) geschieben hat, hat das sehr gut formuliert: Leute aus der Arbeiterklasse, sagt sie, wollen zwar mehr Geld haben, aber sie wollen nicht zur Mittelklasse werden. Was Sie jetzt sagen, entspricht eher einer narzisstischen Anywhere-Haltung: "Oh, liebe Somewheres, eigentlich wollt Ihr doch sein wie ich." Aber das stimmt nicht.
Kommentare 3
Äußerst klarsichtige Gedanken. Vielen Dank für dieses Interview.
Tolles Interview, interessante Gedanken und auch anschlussfähig an Ken Wilbers theoretische Welt. Danke.
Ich hatte erst überlegt, ob man die 'Somewheres' und 'Anywheres' nicht einfach als 'verwurzelt' und 'entwurzelt' bezeichnen könnte, aber das trifft es nicht. Laut Wilber können all diese Positionen einen gesunden/normalen Grad an Identifikation besitzen, aber auch eine obsessiven/überbetonten oder eine dissoziierten/unintegrierten Grad.
Jede Erweiterung des Blicks auf Faktoren die jenseits des rein Ökonomischen liegen ist gut. Die alten (Kampf-)Begriffe der Klassen und auch von links und rechts geben das einfach nicht mehr her, so gerne man daran auch alles durchdeklinieren möchte.
So gibt es 'Somewheres' im besten gesunden/normalen Sinne, die keinerlei Probleme damit haben, zu sagen wer sie sind. Ich sehe mich z.B. als deutschen Mann, aber nicht in der Pflicht mich 2 Stunden dafür entschuldigen zu müssen, dass mein Stammbaum nicht bunter ist. Im Femininsprech würde das vermutlich als cis-gegendert bezeichnet und mit, sagen wir mal freundlich, etwas spitzen Fingern angefasst und es besteht die Tendenz das 'Normale' zu pathologisieren, sicher auch als Gegenreaktion darauf, dass die 'normale' Mehrheit Minderheiten und Ausreißer manchmal ein wenig pathologisiert. „Das ist doch nicht (mehr) normal“, hat ja auch eine deutlich entwertende Note.
Dahinter steht ja die Frage im Raum, ob wir den Begriff des Normalen überhaupt noch brauchen und ebensolche Praktiken oder Sichtweisen oder ob es nicht ein viel größerer Gewinn wäre, wenn wir alle innerlich und äußerlich bunt und irgendwie alles gleich normal wäre. Dass es davon auch Ausnahmen geben sollte, ist selbst glühenden Pluralisten klar und im Interview wird die Diskrepanz (mit einer implizit ausgrenzenden Note) ja angesprochen: Man muss bei 'den Anderen' ja die Eigenschaften feiern und verteidigen, die man sich selbst mühsam abtrainiert hat. Der südländische Chauvinist hat diesen exotischen Charme, der inländische ist einfach nur ein erbärmlicher Höhlenmensch, der doch bitte endlich mal die Fresse halten soll, wenn er sich schon nicht schämt.
Diese Einstellung wäre bei Wilber dann eine Dissoziation des 'Somewhere'. Man liebt alles, nur die eigenen Wurzeln nicht. Kenne ich noch bestens aus der Esoterik-Zeit. Man liebt alle Religionen (und noch besser: kleinen Stämme von Urweinwohnern, am besten im Urwald oder Hochgebierge), aber das Christentum verachtet man. Man liebt die kulturelle Offenheit, aber nicht die Aufklärung als eine ihrer Wurzeln. Man liebt das Bunte, Fremde, will jeden kennen lernen und alles probieren, aber die eigene Geschichte lässt einen kalt und man findet die uninteressant. Man will alles integrieren, nur die eigene Herkunft am liebsten abstreifen und verleugnen. Ein deutscher Mann zu sein, oder gar die hasserfüllte Projektionsfläche des 'alten, weißen Mannes' zu bedienen, ist daher der Gipfel des Widerlichen und zugleich der Gipfel des Ausdrucks einer Desintegration eigener Wurzeln.
Die obsessive 'Somewhere' ist der Nationalist oder Sexist. Ein deutscher Mann zu sein ist dann nicht die eher belanglose Ouvertüre zu dem, worum es eigentlich geht, wenn von der eigenen Identität die Rede its, sondern ist das Identitätskrititerium schlechthin: ein deutscher!!! Mann!!! Damit ist schon alles gesagt und das Optimum erreicht, jede Abweichung davon charakterisiert schon einen Mangel.
Die normale Variante des Somewhere würde sich nicht schämen und 1000x dafür entschuldigen ein deutscher Mann zu sein, aber dies auch nicht feiern, es sind einfach besimmte Attribute, unter weiteren, dass man Linkshänder, Geigenspieler, Gewerkschaftsmitglied, Ehemann, Biertrinker und Minigolfer ist und noch so vieles mehr.
Ich glaube 'Anywheres' exisitieren auch in diesen drei Varianten.
Normale 'Anywheres' haben vielleicht nicht diese Selbstsicherheit zur Verfügung, bezogen auf ihre Herkunft und Rollen, d.h. sie müssen sich im Normalfall tatsächlich mit der Frage auseinandersetzen, wer sie nun eigentlich sind, weil sie vielleicht mit türkischen Wurzeln in Deutschland leben. Ich will es jetzt nicht zu sehr vereinfachen, aber das schlussendliche 'irgendwie beides' ist ja kein Makel (der wäre es nur für obsessive 'Somewheres'), sondern kann genauso gut als Bereicherung ge- und erlebt werden. Man schöpft eben aus vielen Quellen, das tut ein normaler 'Somewhere' aber auch, lediglich in einigen Bereichen ist es bei ihm eindeutiger, dafür vielleicht in anderen nicht. Man spricht vielleicht von Beginn an zwei Sprachen, kann diverse Sichtarten integrieren und ist vielleicht ein wenig variabler.
Obessive 'Anywheres' findet man, wenn man aus Vielfalt eine Religion macht und jeden damit bedrängt, doch die Buntheit unbedingt erfahren zu müssen und wenn man schon 'nur deutsch' ist, dann doch wenigstens bisexuell sein sollte und natürlich gegen absolut jede Art der Schubladiersierung, die immer schon Stigmatisierung und Diskriminierung ist und sein will (nur die Diskriminierer sind eben zu doof und unempathisch das zu merken). Wenn man bereits das Wort „Identität“ verachtet, dann ist das einfach eine etwas unreflektierte Verherrlichung einer Borderline-Welt die sich nicht festlegen will, weil sie sich nicht festlegen kann. Im besten Fall ein diffuses, polyamores und irgendwie liebenswert-naives Hippieweltbild oder eine unbeschwerter Pluralismus, dem man irgendwie nicht böse sein kann. In einer finsteren Variante ein uneingestandener Zwang, den der obsessive 'Somewhere' als 'linksgrünversifft' bezeichnet, ein Zwang die Buntheit zu verherrlichen, Einwände wegzulächeln, Bedenken zu politisieren und konträr zur eigenen Forderung, Nichtpluralisten ganz einfach aus dem Diskurs auszugrenzen. Im Interview heißt es: „Natürlich gibt es genuin Xenophobe, zwei, drei, fünf Prozent unser Gesellschaften werden so sein. Aber die breite Mehrheit, auch der Populisten, ist nicht fremdenfeindlich. Sie sehen Masseneinwanderung als Problem an. Das ist nicht das Gleiche.“ Das ist glaube ich vielen einfach nicht klar.
Dissoziierte 'Anywheres' sind vermutlich wirklich Menschen, die ihre eigene Vielfalt nicht integriert bekommen. Man weiß einfach nicht, wer man ist und wo man hingehört, der gelebte Selbstwiderspruch auf allen Ebenen: „Ich hasse dich, verlass' mich nicht.“ Der eher weltanschaulich eingefärbte obessive 'Anywhere' wird in der Dissoziation tendenziell zur manifesten Borderline-Störung, die aber andere Ursachen hat. Hier ist dann eine Identität wirklich kaum noch zu greifen und auf derartige Versuche wird hoch allergisch reagiert, so dass die Verabredung zu einer bestimmten Uhrzeit schon als ein brutaler Übergriff empfunden wird. Aber das ist kein paradiesischer Zustand sondern er ist mit Leid im höchsten Maße verbunden, der in dem Begriff der 'frei flottierenden Angst' oft völlig untergeht.
Ich denke aber, dass der normale Somewhere und der normale Anywhere einander als Bereicherung erleben können und ein normales Leben ohnehin immer beide Komponenten enthält, so dass der Grad an wechselseitig aufzubringender Empathie keine Überforderung darstellt.
Eigentlich sind Anywheres das, was früher als Kosmopoliten bezeichnet wurde, nur dass man Kosmopolit auch rein gesinnungsmäßig sein konnte. Anywheres sind sozusagen praktische Kosmopoliten. Somewheres sind im Grunde einfach nur Bürger eines Nationalstaates, die keine großartigen Ambitionen auf Internationalität gleich welcher Art pflegen. Aufschlüsse über irgendwelche charakterlichen Eigenarten erlaubt keiner der beiden Begriffe, genauwenig wie diese älteren Begriffe, aber sie eigenen sich natürlich für Projektionen.