„Ich habe für dieses Wort nicht viel übrig, aber es ist mein Job“. Der vielleicht aufschlussreichste Satz, der von Michel Houellebecq zu lesen ist, findet sich in keinem seiner mittlerweile sieben Romane. Auch nicht in seinen zahlreichen Essays, die sich oft so lesen, als böten sie den Schlüssel dazu, was dieser Autor wirklich denkt, geschweige denn in einem seiner vielen Gedichte. Diesen Satz, „es ist mein Job“, diktiert Houellebecq einem – ganz genau wissen wir es nicht, aber wir können es annehmen – verblüfften Silvain Bourmeau auf dessen simple Interviewfrage: „Warum hast Du das gemacht“?
„Das“, damit meinte der Interviewer für die Paris Review Houellebecqs Roman Unterwerfung, in dem der einen gemäßigten Muslim zum französischen Staatspräsidenten werden lässt, nachdem das Land monatelang vom Kampf zwischen radikalen Islamisten und rechten „Identitären“ in Atem gehalten wurde. Der Rest ist bittere Geschichte: Zeitgleich mit Erscheinen des Romans bringt das Satire-Magazin Charlie Hebdo einen Titel, auf dem eine Zeichnung Houellebeqcs, mit Zigarette, wie immer, aber mit spitzem Hut und Zaubergewand zu sehen ist. „Die Vorhersagen des Magiers Houellebecq“ kann man da lesen und zwei Sprechblasen sind zu sehen: „2015 verlier’ ich meine Zähne“ und: „2022 mach’ ich Ramadan“. An jenem 7. Januar, fünf Tage nach dem Paris-Review-Interview, stürmen bewaffnete Islamisten die Redaktion des Magazins. 12 Menschen sterben hier, weitere in den nächsten Tagen.
Die Aura des Prophetischen, des Seherischen, umgab Houellebecq spätestens seit seinem Roman Plattform von 2001. Hier erzählt er vom internationalen Sex-Tourismus, der die Welt zu einem Netzwerk verbundener Stützpunkte macht, die der Befriedigung vornehmlich, aber nicht immer nur männlicher sexuell Frustrierter aus dem globalen Westen dienen. Ein Traum der Erlösung vom körperlichen Verfall und auch ein Geschäftsmodell, das im Roman sein jähes Ende durch einen ebenfalls islamistischen Anschlag auf eine dieser „Plattformen“ im thailändischen Krabi nimmt. Kurze Zeit später sollte ein terroristischer Anschlag auf Bali über 200 Menschen, darunter vielen westlichen Touristen, den Tod bringen.
Ein Seismograf, kein Seher
Dass Houellebecq irgend etwas vorhergesagt hätte, ist natürlich Blödsinn. Dass er ein Sensorium für die großen Themen hat, die den globalen Westen umtreiben, dass er eine Witterung besitzt für die Verwerfungen, die brutalen Schattenseiten der globalisierten Welt, dass er als Medium für die Auswirkungen all dessen die westliche, meist männliche Subjektivität und das westliche, fast ausschließlich männliche Bild der Sexualität wählt, prädestienieren ihn zum Beruf des Schriftstellers.
Das zeigte sich in seinem ersten Roman Ausweitung der Kampfzone, in dem er seinen Protagonisten – Helden sind es nicht bei Houellebecq, und auch zum Antihelden reicht es meist kaum – einen jungen, sexuell erfolglosen Kollegen mit einem Messer an den Strand schicken lässt, um den schwarzen Franzosen, der es hier mit einem französischen, weißen Mädchen treibt, in einem Akt der Selbstverteidigung des ungefickten Abendländers abzustechen. Ein Incel avant la lettre, so nenen sich heute amerikanische Männer, die unfreiwillig zölibatär leben, da sie auf dem durchkapitalisierten Paarungsmarkt – man lese Eva Illouz – keine Schnitte haben und die durch den Fall eines Kanadiers, der in Toronto junge Frauen überfuhr, traurige Bekanntheit gewonnen haben.
Das konnte man auch in Die Möglichkeit einer Insel erkennen, Houellebecqs Roman über die Erfindung der Unsterblichkeit, der just dann erschien, als einige Durchgeknallte unter der Ägide des Sektenführers Rael bekannt gaben, es sei erstmals gelungen, einen Menschen zu klonen. Aber noch einmal: „es ist mein Job“, den macht Houellebecq gut. Houellebecq, der nicht nur weiß, dass Sex sich noch immer verkauft, sondern auch, das moderne Literatur nur dann groß wird, wenn sie absolut modern ist. Den enttäuschten Kunstreligiösen mag das nicht reichen, denen, die den Dichter als Seher feiern wollen auch nicht. Ob es sie tröstet, wenn man Houellebecq dennoch jene seismografische Qualität, die Ernst Jünger für sich in Anspruch nahm, zuspricht? Wahrscheinlich reicht ihnen das nicht.
Auch in seinem neuen Roman Serotonin, der am 7. Januar in deutscher Übersetzung bei Dumont erscheint, zeigt Houellebecq ein Gespür für große Themen. Genau genommen für das eine große Thema dieser Tage: den Aufstand jener Verlierer des internationalen Freihandels nämlich, der die Straßen Frankreichs zur Jahreswende zeitweise in ein Meer aus gelben Westen und Rauch verwandelte. Doch obwohl Proteste von normannischen Milchbauern, die sich mit dem Preisverfall des Produkts ihrer harten Arbeit nicht abfinden können und auch damit nicht, dass die heimische Versorgung mit Lebensmittel bald der Vergangenheit angehören wird, in Serotonin einen nicht zu geringen Raum einnehmen, kann man sie kaum als tragendendes Thema des Romans identifizieren. Anders als bei den Gegenständen seiner großen Themenromane jedenfalls spielt das Thema Protest in Serotonin nur die Rolle der Illustration eines Bruches, der sich woanders niederschlägt. Was natürlich die Frage stellt, ob das auch in Houellebeqcs anderen Büchern eigentlich der Fall gewesen ist und man es nur nicht sehen wollte, weil man eben das will: Themen.
Zum Fenstersturz reicht es nicht
Serotonin erzählt die Geschichte von Florent-Claude Labrouste, 46 Jahre ist er alt, studierter Agrarwissenschaftler und am Anfang des Romans ein gutverdienender Freelancer für das französische Landwirtschaftsministerium. Hier ist er wenig erfolgreich darin, Käse aus der Normandie auf dem Weltmarkt attraktiver zu machen. Und auch wenn er den Schutz von Aprikosenerzeugern aus dem Roussilon durch die Herkunftsbezeichnung „Rote Aprikosen aus dem Rousillon“ durchsetzen kann, weiß er, dass seine Arbeit angesichts von Freihandelsabkommen mit dem lateinamerikanischen Mercosur, die dazu führen werden, dass der französische Markt mit billigeren Früchten aus der neuen Welt überschwemmt wird, nicht mehr als eine Farce ist.
Liiert ist er mit einer zwanzig Jahre jüngeren Japanerin, deren sexuelle Reize, der einzige Grund, diese Beziehung eingegangen zu sein, für Florent-Claude inexistent geworden sind. Nachdem er auf Yuzus Laptop inkriminierende Videoaufnahmen der Partnerin nicht nur mit fremden Männern gefunden hat, beschließt er, der Beziehung ein Ende zu bereiten. Die Idee, Yuzu betrunken zu machen, was ein Leichtes wäre – „infolge einer eingeschränkten Funktion der Aldehyd-Dehydrogenase 2, die die Umwandlung von Ethanol in Essigsäure gewährleistet, vertragen die Japaner ... Alkohol sehr schlecht. In weniger als fünf Minuten würde sie im Ethyldusel versinken“ – und sie aus dem 29. Stockwerk des Hochhauses, in dem das gemeinsamen Apartment liegt, zu werfen, wird schnell fallengelassen.
Florent-Claude beschließt zu verschwinden, spurlos und für immer. Was folgt ist eine Mischung einer düsteren Variante jener romantischen Komödien, in denen der Held alle seine Ex-Freundinnen abklappert und einem Aussteiger-Roadmovie. Durch die Einnahme eines neuartigen Antidepressivums – vom Glücksstoff Serotonin hat der Roman seinen Titel – von sämtlichen Begierden (häufigste unerwünschte Nebenwirkungen: Übelkeit, Libidoverlust, Impotenz. „Unter Übelkeit habe ich nie gelitten.“ ) und damit auch von allen Gründen zum Leben befreit, führt die Reise von einer anorektischen Jüngerin der Leinsamenkur zur gescheiterten Schauspielerin, die schon morgens Wodka trinkt und die Wohnung in Paris aufgrund erwarteter Wertsteigerung nicht aufgeben kann (Großstadtprobleme),und schließlich zu Camille, der Frau, die Florent-Claude geliebt hat, die ihn glücklich gemacht hat, die er aber aufgrund eines Abenteuers mit einer Kollegin, einer kleinen englischen Schwarzen „mit einem hübschen, kleinem schwarzen Hintern“ verloren hat.
Zwischenstation auf dieser Reise in die Vergangenheit macht Houellebecqs Protagonist beim einzigen Studienfreund, einer, der sich mit langen Haaren und Karohemden damals wie ein Grunger gab und nun wieder genauso aussieht, die Karohemden jetzt jedoch als Arbeitskluft trägt. Was auch von früher blieb, ist die Plattensammlung, Deep Purpel, Pink Floyd, die Musik, man muss es sagen, einer aussterbenden Spezies. Aus einer adligen Familie stammend versucht sich Aymeric als Bauer und ein wenig im Agrartourismus. Das läuft schlecht, Aymeric säuft, auch weil ihn seine Frau, "die Schlampe" ausgerechnet für einen Weichling von Konzertpianisten verlassen hat. Und immer öfter muss er Parzellen seines Landes, das eigentlich dem Vater gehört, verkaufen. An Ausländer, immer öfter an Chinesen. Der Vater leidet darunter wie ein Hund, denn das ist nicht, was der Adel mit seinen Ländereien macht. Aymeric ist ein Waffennarr, und da eine Waffe, zumal eine ganze Waffenkammer, die etwa auf Seite 130 in einem Roman auftaucht spätestens hundert Seiten später jemanden umnieten muss, nimmt das Schicksal seinen Lauf. Der führt zu besagten Protesten der Milchbauern, bei denen sich der Adelsspross schließlich selbst die Kugel gibt. Unser Held, der keiner ist, zieht weiter. Im Gepäck eine Knarre, die ausgerechnet den Namen "Mannlicher" trägt, nach dem österreichischen Waffendesigner Ferdinand Mannlicher allerdings. Sie wird niemanden mehr umnieten.
Florent-Claude, der seinen Namen hasst, beide Teile seines Namens, ob ihres weiblichen Klangs, Florent, der lieber Pierre hieße, weil das männlicher ist und zu seinen markanten Zügen passt, kriegt nämlich nicht nur keinen hoch, er kann noch nicht einmal einen hässlichen Stelzenvogel am Strand abknallen. Und so kann er auch Camille, die einzige Hoffnung auf Versöhnung von Porno und Liebe, die fast mit Schillerschem Pathos als zwei auseinandergebrochene Teile einer modernen Welt beschrieben sind, nicht wiederbekommen.
Männer, wie sie sich eine kesse Twitteratin ausdenkt
Was ist das für eine Geschichte? Florent ist wie jeder andere Protagonist in den Romanen Houellebecqs. Finanzielle Nöte sind ihm fremd. Houellebecqs Männer sind obere Mittelklasse, sie haben geerbt oder einen guten Job, von den unteren Schichten weiß der Autor nichts zu erzählen. Oder nur an einer Stelle, als Florent ein Gespräch von Landbewohnern über den Märtyrer der Milchbauernproteste belauscht. Aber auch da scheint es, als sprächen sie im nächsten Moment nur von ihrem Herrn, der ihnen einen Platz anweisen müsste, an dem sie sicherer wären als hier und jetzt.
Der Verlust der alten Ordnung, das Konservative, das Panajotis Kondylis zufolge immer schon ein Aufstand gegen die Gleichheit aller als Gefahr für den gottgegebenen festen Platz war, den der Mensch in der Gesellschaft einnehmen soll, ist stärker konturiert in diesem Roman als in früheren. Die Sehnsucht Florents nach einer festen Ordnung, einer, in der Aprikosen aus dem Rousillon noch Aprikosen aus dem Roussilon sind, der Ekel an der Dekadenz, auch seiner (ist es ein Zufall, das Yuzu, die sich von Hunden bespringen lässt und sechs Stunden am Tag Körperpflege betreibt, Japanerin ist, also aus dem Land stammt, in dem der große Hegelianer Alexandre Kojève, ein Architekt der Europäischen Union, einst das Ende der Geschichte fand?) ist hier noch fassbarer. So bleibt auch der Beweggrund, die 'männliche' Tat, die Bestrafung der untreuen Partnerin nicht anzugehen, letztlich nicht die Angst vor dem Gefängnis, sondern die Angst, im Gefängnis von der mannigfaltigen Hummus-Auswahl aus aller Herren Länder im Supermarkt abgeschnitten zu sein. Es ist ein Dilemma!
Gleichzeitig ist Florent-Claude, ist auch Aymeric genau jener weiße, fast schon alte Mann, den eine kesse Twitteratin hätte erfinden können. Selbst das Wort "toxisch" beherrscht Florent-Claude schon. Frauen sind meist "Schlampen" und vor allem, wenn sie mit anderen vögeln. Es ist nur das selbstverschuldete Scheitern, nicht einmal die, die "fraulich im vor-feministischen" Sinne sind, halten zu können, das all den Verdruss mit sich bringt, den Sexismus, die gar nicht so globalisierungsfeindliche Idee, man könne seinen Lebensabend mit thailändischen Nutten oder "einer Moldawierin", die hart arbeitet und den Mann noch achtet, verbringen. Und so zumindest den eigenen Untergang aufhalten. Dass Houellebecqs Romanen das durchgehen gelassen wird, wundert in diesen Zeiten.
Vielleicht sind sie doch zu ambivalent und zeigen zuviel, seine Figuren, zu kaputt auch, vielleicht lassen sie erkennen, dass hier keine ernsthafte Gefahr lauert, dass sie ein Auslaufmodell sind, this time for real, sodass man, es ist ja immer noch Literatur, auch einmal Fünfe gerade sein lassen kann. Vielleicht nicht mehr lang? Warum soll man das lesen? Und vielmehr noch, warum soll man das schreiben? Wenigstens das ist klar: Weil es ein Job ist.
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