Dass wir alles, „was wir über unsere Gesellschaft, ja über die Welt, in der wir leben, (...) durch die Medien wissen“, war die feste Überzeugung Niklas Luhmanns. Dem kann man die Einsicht Benedict Andersons in seinem Buch Imagined Communities von 1983 zur Seite stellen, dass es selbst in den kleinsten Gemeinschaften praktisch unmöglich sei, jedes einzelne Mitglied persönlich zu kennen. Gemeinschaften, das war die Schlussfolgerung, sind immer imaginiert, eingebildet in dem Sinne, dass Medien dafür sorgen müssen, eine Verbindung herzustellen zwischen den Menschen, die sich dieser Gemeinschaft zugehörig fühlen.
Die Zeitung, aber auch Romane etwa, sorgten nach Benedict Anderson dafür, dass wir uns alle als Zeugen eines sich gleichzeitig abspielenden Weltgeschehens verstehen, obwohl wir nur mittelbar seine Zeugen sind. „Connecting People“ (Nokia): In heutigen Zeiten ist es wohl das verbindende Internet, das uns glauben lässt, einer großen Gemeinschaft anzugehören.
Rings um dich ist alles pseudo
Schon 1922 hatte Walter Lippmann eine ganz ähnliche Idee. In seinem Buch Die öffentliche Meinung vertrat er die Auffassung, dass die soziale Umwelt für uns zu komplex sei, als dass wir sie mit eigenen Sinnen wahrnehmen könnten. Wir leben in einer „Pseudoumwelt“: Die „reale Umwelt ist insgesamt zu groß, zu komplex und auch zu fließend, um direkt erfasst zu werden“, schrieb Lippmann. „Obgleich wir in dieser Umwelt handeln müssen, müssen wir sie erst in einem einfacheren Modell rekonstruieren, ehe wir damit umgehen können.“ Woher aber kommen diese Bilder, dieses „einfachere Modell“? Lippmann nennt sie Stereotypen, anhand derer wir das schematisieren, was uns begegnet. Für ihn gleichen sie „dem Türhüter bei einem Maskenball, der beurteilt, ob der Gast eine angemessene Verkleidung trägt. Nichts verhält sich der Erziehung und der Kritik gegenüber so unnachgiebig wie die Stereotype. Sie bestimmt die Wertung eines Gegenstandes bereits im Moment seiner Wahrnehmung.“ Lippmann war selbst Zeuge, wie die amerikanische Regierung 1917 erfolgreich versuchte, eine eigentlich gegen die Beteiligung des Landes am Ersten Weltkrieg eingestellte Bevölkerung auf Kriegskurs zu bringen. „Viele Immigranten haben deutsche Wurzeln (...) und auch die Gewerkschaften sind gegen einen ,Krieg der Reichen‘“, betonen Walter Otto Ötsch und Silja Graupe, die Herausgeber der Neuausgabe von Die öffentliche Meinung. Daher wird das Committee on Public Information (CPI) unter Leitung des prominenten Journalisten George Creel gegründet, eine „Agentur für die Verteilung von Informationen“. Dieser Gatekeeper führt einen „Kampf um die Köpfe der Menschen“. Man erkennt, dass die „Frontlinie“ durch „jedes Haus“ verläuft, erklärtes Ziel ist „ein leidenschaftlicher Glaube an die Gerechtigkeit der amerikanischen Sache, der die Menschen der Vereinigten Staaten zusammenschweißen würde in einem einzigen weißglühenden Masseninstinkt“. Das CPI wird zum „Sprachpolizisten“, der 20.000 Zeitungen die Wortwahl auferlegt, man fertigt Cartoons für 750 Zeitungen an, Plakate tragen die Aufschrift „Beat back the Hun“, König Etzel ist der hässliche Deutsche. Am Kuriosesten sind die Four Minute Men, eine Art menschliches Megafon: 75.000 Prominente werden rekrutiert, allerorts „spontan“ das Wort zu ergreifen für die Sache des Krieges.
Wenn die Köpfe der Menschen, ihre „Pseudoumwelt“ und damit das einzige, worauf sich ihr Urteil letztendlich stützt, dermaßen manipuliert werden kann, glaubt Lippmann, hilft nur eine Kontrolle der Informationen, die in die „Pseudoumwelt“ einfließen. Die Presse könne das kaum allein leisten: Sie „ist kein Ersatz für öffentliche Institutionen. Sie gleicht dem Strahl eines Suchscheinwerfers, der (...) bald die eine, bald die andere Episode ans Licht bringt“. Für Lippmann sind es Bildungsinstitutionen, die die Menschen dazu anhalten können, „ständig mit eigenen Scheinwerfern“ zu arbeiten. Der Schlüssel liegt in der Bildung der Bürger und darin, ein Nachrichtensystem zu etablieren, das „auch eine Kontrolle der Presse darstellt“. Lippmann träumt von Institutionen, die sich auf die Expertise exakter Wissenschaften stützen.
Ein merkwürdiges Buch
1938 bereiste Lippmann Europa. Er ist ein Star. In den USA schreibt er eine Kolumne, die in 200 Zeitungen erscheint, er hat enge Kontakte zur Roosevelt-Regierung, deren New-Deal-Politik er anfangs unterstützt. Doch nun hat er sich von ihr abgewandt, denn er sieht darin nun einen illiberalen „Kollektivismus“, der „den Markt als wichtigsten Regler der Arbeitsteilung“ ausschalten will. Entwickelt hat er diese Haltung in The Good Society von 1937, einem „merkwürdigen Buch“, wie es Michel Foucault genannt hat, das einerseits Themen des klassischen Liberalismus wiederbelebe, aber auch Elemente enthalte, die klar dem zuzuordnen sind, was wir heute Neoliberalismus nennen.
In Paris wird Lippmann zu Ehren ein Kolloquium abgehalten. Anwesend ist die Crème de la Crème des Wirtschaftsliberalismus, unter anderem der Ökonom und Sozialphilosoph Friedrich von Hayek. Der wird der Pionier einer ökonomischen Schule werden, die der Politik die Aufgabe gibt, nicht viel mehr als ein Beschützer des freien Marktes zu sein. Der Begriff „Neoliberalismus“ fällt 1938 in Paris zum ersten Mal. Ob seine Verfechter von Lippmann auch gelernt haben, wie die Stereotypen zu verwalten und manipulieren sind, die die öffentliche Meinung bestimmen? Das vermuten Ötsch und Graupe. Ob das so genau zutrifft, kann man diskutieren. Walter Lippmanns Klassiker sollte man so oder so gelesen haben.
Info
Die öffentliche Meinung. Wie sie entsteht und manipuliert wird Walter Lippmann Walter Otto Ötsch, Silja Graupe (Hsrg.), Christian Deppe, Simone Lübeck (Übers.), Westend Verlag 2018, 416 S., 26 €
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