Illusionärer Block

Gelbwesten Die Ökonomen Bruno Amable und Stefano Palombarini erklären uns Frankreichs desaströse Lage
Ausgabe 50/2018
Auf den Champs-Élysées gibt es alles, was ihr wollt, sagt ein bekanntes französisches Chanson
Auf den Champs-Élysées gibt es alles, was ihr wollt, sagt ein bekanntes französisches Chanson

Foto: Veronique de Viguerie/Getty Images

Worte des Präsidenten: „Alle Länder befinden sich wohl oder übel in einem lebhaften und heftigen Wirtschaftskampf. Doch Frankreich zögert und zaudert: Es ist nicht bereit, zuzugeben, dass die Welt ihm über die Wirtschaft ihr Gesetz diktiert.“ „Es ist notwendig, mit dem Tabu der absoluten und für alle gleichen sozialen Sicherheit zu brechen.“ „Eine Gesellschaft macht auch durch ihre Ungleichheit Fortschritte.“ „Niemand kann sich den harten Gesetzen des Wettbewerbs entziehen.“ „Alle Franzosen müssen sich dringend zum Geist des Marktes bekehren.“

Wer hier wie die reine Lehre Thatchers oder Reagans klingt, ist niemand, der ‚ni droite ni gauche‘ ist. Auch kein Konservativer. Beim Co-Autor dieser Zeilen handelt es sich um einen sehr erfolgreichen Politiker des Parti socialiste: Jacques Delors, von 1981 bis 1984 Wirtschafts- und Finanzminister unter François Mitterrand. Und von 1985 bis 1995 Präsident, allerdings der Europäischen Kommission.

Dass Delors auch Staatspräsident hätte werden können, ist wahrscheinlich. Dass er 1995 trotz hoher Umfragewerte nicht Nachfolger Mitterrands wurde, liegt daran, dass er gar nicht erst antrat.

Die für Delors entscheidende Frage war, so schreiben die Ökonomen Bruno Amable und Stefano Palombarini in Von Mitterrand zu Macron. Über den Kollaps des französischen Parteiensystems (Suhrkamp 2018), ob nach erfolgreicher Kandidatur „die Möglichkeit und die politischen Mittel zur Durchführung unerlässlicher Reformen“ gegeben sein würden. Die galten zwei Zielen: Einerseits sollten sie einer „Modernisierung“ der französischen Wirtschaft dienen, andererseits der Vertiefung der europäischen Integration.

„Unerlässliche“ Reformen

„Das Fehlen einer Mehrheit für eine solche Politik (...) erlaubte es mir nicht , meine Lösungsvorschläge umzusetzen“, sprach Delors im Dezember 1994 in die Kameras.

Mit dem Verzicht antwortete er auf ein Dilemma. Zwar wäre ein Wahlsieg der Sozialistischen Partei mit Unterstützung linker Verbündeter aussichtsreich gewesen. Nach einem solchen hätte er sich aber für die ihm unerlässlichen Reformen nicht auf eine gesellschaftliche und politische Mehrheit stützen können. Und das hat mit der parteipolitischen Situation in Frankreich zu tun, die sich seit Mitte der 1980er Jahren dramatisch verändert hat.

Anfang der 80er war alles noch einfacher. Amable und Palombarini sprechen von zwei „Blöcken“. Die Parteien links und rechts im politischen Spektrum konnten jeweils auf eine mehr oder minder geschlossene gesellschaftliche Basis bauen. Die votierte relativ schichtenunabhängig: Auf der einen Seite Großbürger, aber auch Kleinunternehmer und Handwerker, auf der anderen gebildete, bessergestellte ‚Kaviarlinke‘ und große Teile der Arbeiterschaft.

Während sich die Parteien rechts der Mitte schon in den 1950ern einem neoliberalen Programm verschrieben, folgte die Linke lange dem modernistischen Paradigma. Beides basierte auf einer liberalen Kritik des Laissez-faire und richtete sich gegen den Gegensatz von Markt und Staat. Doch sie unterscheiden sich bezüglich staatlicher Eingriffe. Strebte der Modernismus nach langfristigen Verbesserungen der Wirtschaftsstrukturen, setzte der Neoliberalismus auf den freien Wettbewerb, nicht zuletzt, weil darin ein Mechanismus liege, der „die auf Privilegien basierende ‚extrinsische Ungleichheit‘ durch die ‚intrinsische Überlegenheit‘ individueller Fähigkeiten“ ersetze.

Man erkennt leicht, dass die Feier der Ungleichheit und des „Geistes des Marktes“ eine Abkehr von der modernistischen Linie signalisiert. Sie markiert eine Entwicklung, die von der Vierten Republik und Pierre Mendès France in die Fünfte verläuft und eine immer größer werdende Entfernung der „nicht-kommunistischen Linken“ von ihren traditionellen, weiter links stehenden Verbündeten beschreibt. Und die Suche nach einer gesellschaftlichen Basis, einem neuen politischen „Block“, der die neue Politik stützt.

Delors sah richtig, dass die Wirtschaftspolitik der „zweiten Linken“ keine Unterstützung bei denen finden würde, die das modernistische Paradigma lange mittrugen. Bis jetzt ist jede Regierung des Parti socialiste abgewählt worden. Mit Macron endete das Hin und Her. Vorläufig.

Wer profitiert?

Das Scheitern des Versuchs, einen herrschenden, bürgerlichen Block zu formen, der die ehemals linken und rechten oberen Schichten eint, wird dieser Tage auf den Straßen sichtbar: Zwar verbindet die Unterstützer Macrons ein Ja (zu Europa und Reformen zugunsten großer Unternehmen, vor allem des Finanzsektors), es umfasst aber, je nach Rechnung, nur zwischen 10 und 25 Prozent der Franzosen.

Anstelle zweier Blöcke, die schichtenübergreifend agierten, besteht nun eine Situation, in der sich eine schwache Basis für Macrons Reformen und seine Europapolitik mit einer großen Mehrheit konfrontiert sieht, die auch als Folge der Bindung der europäischen Integration an den Abbau des Sozialstaats seit Mitterrand tendenziell „souveränistisch“, also europaskeptisch eingestellt ist. „Ich bin hin- und hergerissen zwischen zwei Bestrebungen: dem Aufbau Europas und der sozialen Gerechtigkeit“, sagte Mitterrand als Präsident.

Wie wird sich der gerechte Zorn der „Gilets jaunes“, jahrzehntelang politisch unsichtbar gemacht worden zu sein, kanalisieren? Heißt der Nutznießer der „Illusion eines bürgerlichen Blocks“ (so der französische Originaltitel des Buches von Amable und Palombarini) LePen? Mélenchon? Werden die Gelbwesten eine eigene Kraft?

Fest steht, dass das Land sich ändern muss, und mit ihm Europa, damit es nicht zerbricht. Und wer noch meint, es sei das Wichtigste, zunächst zweifelsfrei zu klären, wo die Protestierenden politisch stehen, wer einen sauberen Protest will oder sonst keinen, der hat die Krise nicht verstanden, in der sich Frankreich befindet.

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Geschrieben von

Mladen Gladić

Redakteur Kultur und Alltag

Mladen Gladić

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