Wie wird man der bekannteste Whistleblower der Welt? Edward Snowdens Autobiografie Permanent Record, die dieser Tage in 20 Ländern erscheint, gibt Antworten, die verwundern mögen. Das rebellische Hacker-Image konterkarierend, scheint es nämlich zuträglich, in eine Familie geboren zu werden, die staatlichen Institutionen nicht fernsteht. Dass man selbst nicht zu sehr mit der Staatsmacht fremdelt, scheint ebenfalls von Nutzen bei einem „Inside Job“ wie Snowdens Aufdeckungen der Machenschaften der US-amerikanische Behörde NSA. Kurz: Es schadet wohl nicht, Patriot zu sein und von Patrioten abzustammen.
Snowdens Vater arbeitete bei der Küstenwache, seine Mutter zeitweise selbst bei der NSA. Der Großvater, genannt „Pop“, war Konteradmiral Edward J. Barett. „Mir war nicht klar, in welche hohen Ränge Pop aufgestiegen war, aber ich wusste, dass die Willkommenszeremonien an neuen Einsatzorten im Laufe der Zeit immer aufwendiger wurden, die Reden länger und die Kuchen größer“. Aber Snowden holt weiter aus: Bis zur Mayflower verfolgt Permanent Record die patriotische Ahnenreihe zurück.
Natürlich braucht es auch Know How. Der erste Hack ist noch analog. Es ist die 2193. Nacht in Edwards Leben. Der weiß das so genau, weil er sechs wird und die „direkte Aktion“ für sich entdeckt. Alle Uhren im Haus werden verstellt: „Als meine Aktion der Obrigkeit in ihrer unendlichen Arroganz nicht auffiel, galoppierte ich begeistert von meiner Macht durch das Wohnzimmer. Ich war Herr über die Zeit, und man würde mich nie wieder ins Bett schicken.“
No such agency
Die Initiation in die Technik erfolgt, als der Vater eine eigenartige Kiste nach Hause bringt, um nachts Choplifter auf dem Fernseher zu spielen. Edward kann wieder nicht schlafen, wird beim Zusehen ertappt und kurzerhand mit einem Joystick in der Hand, der gar nicht eingestöpselt ist, zum Co-Piloten beim Helikopterflug auf dem Commodore 64.
Von da an ist er das, was man heute spielsüchtig nennt. Als die Konsole streikt, entscheidet sich Edward für die direkte Aktion mit dem Schraubenzieher. Der Hack geht schief. Spiele sind aber bald sowieso nicht mehr interessant.
Mit 13 kann Snowden einen Sicherheitsfehler auf der Webseite einer Kernforschungseinrichtung aufdecken. Gefragt, ob er einen Job braucht, verweist er auf die Schule. Da ist er, wegen seiner nächtlichen virtuellen Ausflüge, meist unterschlafen – und muss krankheitsbedingt (ein Drüsenfieber, das man eigentlich nur beim „Rummachen“ bekommt) bald fürchten, sitzenzubleiben.
Damit ist man bei den Zufällen, Unfällen, Zwischenfällen im Leben Snowdens. Ein Community College nimmt auch Studenten ohne Schulabschluss und das Studium ist Voraussetzung für den späteren Staatsdienst. Im College verliebt sich Snowden, die Angebetete wird aber nur Arbeitgeberin, er kann seine Computerskills weiterentwickeln. Ein Unfall wird Snowden später ermöglichen, die Truppe zu verlassen und zu dem zu werden, der er war, als er vor knapp sieben Jahren in einem Hotelzimmer in Hong Kong saß und Laura Poitras und Glenn Greenwald die Wahrheit über die NSA erzählte. Dazwischen liegt der größte Zwischenfall, das größte Unglück, für Snowden, für die USA, für das Netz: Ohne 9/11 gäbe es die NSA nicht, wie wir sie kennen. No such Agency. Und ohne dieses Datum gäbe es Snowden nicht, wie wir ihn kennen. Denn im Krieg gegen den Terror, wie er bald heißt, werden die Befugnisse der Geheimdienste ins Unerträgliche erweitert.
Snowden unterstützt diesen Krieg, tritt deshalb in die Armee ein und wieder aus, bekommt die höchste Sicherheitfreigabe, heuert bei Firmen an, die für den Staat Dienste leisten und wird schließlich „Govvy“: Staatsbediensteter, mit deutlich schlechterem Gehalt. Eigentlich will er nach Afghanistan, doch ein „Ed-Snowden-Moment“ kommt dazwischen: Er setzt sich für bezahlte Überstunden ein – und hält den Dienstweg nicht ein. In der Wüste kann man so einen nicht brauchen.
Also Genf, wo alle außer ihm hin wollen. Mary Shelly schrieb hier Frankenstein, schweres Zeichen für Snowden, dass etwas aus dem Ruder gelaufen ist, die Dienste, das Netz. Dann Tokio, und noch ein Zufall, vielleicht der größte in dieser Geschichte. Ein Referent für Chinas Massenüberwachung fällt aus, Snowden springt ein, bekommt Zweifel: Wenn die das machen, was machen dann wir? Er recherchiert und stößt auf eine nicht-öffentliche Version des „Berichts über das Überwachungsprogramm des Präsidenten“. Die in diesem Dokument „beschriebenen Aktivitäten waren so zutiefst kriminell, dass keine Regierung jemals zulassen würde, es ungeschwärzt zu veröffentlichen.“ Die Möglichkeit, durch die NSA gesammelte Daten auf ewig zu speichern, schreibt Snowden, hat zur Konsequenz, dass Technik „nicht mehr eingesetzt wird, um Amerika zu verteidigen, sondern um Amerika zu kontrollieren.“
Der Rest ist Geschichte, die mit einem Flug von Hawaii nach Hongkong beginnt, Snowden zum Helden macht und in Moskau endet, für’s Erste. Viel Privates und Anekdotisches liefert Permanent Record nach, sicherlich subjektiv, sicherlich im Willen geschrieben, aus familiären Umständen, jugendlichen Obsessionen und großen wie kleinen Zufällen eine Story zu formen, die Snowden auf hohem erzählerischen Niveau – der Schriftsteller Joshua Cohen war sein Schreibcoach – vorträgt.
Die vielleicht spannendsten Passagen stammen gar nicht von Snowden. Auf wenigen Seiten werden Tagebucheinträge seiner Ehefrau wiedergegeben. Wie Lindsay Mills die Tage nach Snowdens plötzlichem Verschwinden beschreibt, vermittelt ganz anders und ungefiltert den Einbruch der großen Politik ins Leben.
Permanent Record ist auch Edward Snowdens Abgesang auf ein Internet, das ein Versprechen von Gemeinschaft und Freiheit barg. Ein Raum, in dem Anonymität dafür sorgte, dass nicht zählte, wer man war, sondern was man tat. Dieses Lob mag in Zeiten von 8chan und Dark Web manchen unbehaglich stimmen, an den Preis der Freiheit erinnert es gleichwohl. Snowdens Buch ist schließlich auch ein tiefer und gleichzeitig verständlicher Einblick in den geheimdienstlich-militärischen Komplex und das Frankensteinsche Monster der Massenüberwachung.
Info
Permanent Record: Meine Geschichte Edward Snowden Kay Greiners (Übers.), S. Fischer Verlag 2019, 432 S., 22 €
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