Schmutz im Licht

Kunst Grenfell-Brand oder NSU-Mord – Forensic Architecture rekonstruieren das Band zwischen Verbrechen und Politik
Ausgabe 24/2018

Läuft man auf der netten Portobello Road im Westlondoner Notting Hill Richtung Norden, kommt irgendwann die Lancaster Road. Hier gibt es ein Wandbild, es zitiert das Plakat von Brian Singers The Usual Suspects von 1995. Nur das hier nicht Kevin Spacey und Co abgebildet sind, sondern Picasso, Basquiat und andere Künstler. Touristen lassen sich gern davor fotografieren, weil es aussieht, als befände man sich auf einem Fahndungsfoto mit dem Who’s Who der Kunstwelt. Über die Köpfe hat jemand „Justice 4 Grenfell“ geschrieben, „Gerechtigkeit für Grenfell“, der Spruch ist inzwischen millionenfach in Facebook- und Instagramposts zu lesen.

Weiter die Straße runter, wird es bald weniger pittoresk. Vor einer Kirche aus rotem Backstein liegen verwelkte Blumen und Plüschtiere, die einmal leuchtenden Farben hat der sprichwörtlich englische Regen abgewaschen. Einmal ums Eck, jetzt sieht man den Grenfell-Tower, in dem am 14. Juni 2017 bei einem Brand 72 Menschen starben, die oberen Stockwerke, nur noch ein rußschwarzes Skelett.

Das Goldsmiths College liegt im Südosten Londons. Die Forschergruppe Forensic Architecture hat hier ihren Sitz. Eyal Weizman hat sie 2010 zusammen mit anderen gegründet. Weizman ist in Israel geboren, seit 25 Jahren lebt er in London. Als ich den Raum betrete, ist er, schwarzes T-Shirt, Jeans, Turnschuhe, in seinen Laptop vertieft. Um ihn herum arbeitet etwa ein Dutzend vielleicht 25- bis 35-Jähriger ruhig an Computern. Schwarz als Kleidungsfarbe dominiert. Weizman wirkt überrascht, fragt leise, ob wir einen Termin haben. Haben wir, er hat es wohl vergessen.

CSI Miami in Echtzeit

Forensik – wer dabei an CSI Miami denkt, liegt richtig. Der Begriff hat aber auch eine Bedeutungsebene, die entscheidend ist für das, was Forensic Architecture tun. Er kommt von „Forum“, dem römischen Marktplatz, wie die griechische Agora Ort öffentlicher Diskussion. Forensik bringt etwas ans Licht, in die Öffentlichkeit. Forensic Architecture sind gerade für den Turner-Prize, einen der weltweit wichtigsten Kunstpreise nominiert worden. „Das ist eigenartig“, sagt Weizman, „wir wurden für die Qualität unserer Beweisführung nominiert, hat die Jury betont.“ Es geht um zwei Ausstellungen, eine bei der letzten Documenta in Kassel und eine Londoner Institute for Contemporary Art.

Mancher wird an die Arbeit der Gruppe im Zusammenhang mit den Morden des NSU denken: Ein Verfassungsschützer, der beim Mord an Halit Yozgat am 6. April 2006 in Kassel am Tatort, dem Internetcafé der Familie war, behauptet noch immer, weder mit dem Mord etwas zu tun noch ihn wahrgenommen zu haben. Die Staatsanwaltschaft ordnete eine Rekonstruktion des Tathergangs an und produzierte ein Video. Das wurde einer Kasseler Initiative zugespielt und gelangte so nach London. Hier überprüfte man die Rekonstruktion. War da alles schlüssig? Gab es Widersprüche? Fehler? Computersimulationen wurden erstellt, man baute das gesamte Café eins zu eins nach. Maß die Zeit, die man zum Rausgehen braucht. Überprüfte, ob der Blick des Beamten auf Halit Yozgat hätte fallen müssen, als er bezahlte. Simulierte die Pistolenschüsse. Simulierte auch die Rauchentwicklung, um zu beweisen, dass man die Schüsse hätte riechen müssen. In London ist man überzeugt, dass der Verfassungsschützer lügt.

„Counter-Forensics“ nennt Weizman das, was hier im Verbund von Wissenschaft und Kunst zustande gekommen ist. Um zu verstehen, was das ist, muss man wissen, wie „normale“ Forensik arbeitet, betont er. „Gegen-Forensik ist nicht einfach das gleiche wie Forensik in der Hand der Öffentlichkeit. Es gibt eine andere Epistemologie, eine andere Ästhetik, ein anderes Protokoll.“ Doch was genau ist hier anders? „Prinzip Nummer eins der herkömmlichen Forensik ist die Absperrung, die den Tatort umgibt“, antwortet Weizman. „Ein Raum, den nur der Staat betreten kann, wo man seine Polizeimarke zeigen muss. Am Tatort“, sagt Weizman. „herrscht ein Ausnahmezustand“. Forensic Architecture wird tätig, wenn der Staat selbst in die Verbrechen verwickelt ist, deren Aufklärung er vor der Öffentlichkeit abschirmt denn „auch dann, wenn der Staat selbst Täter ist, wird diese Absperrung erscheinen. Manchmal ist sie immatriell, manchmal ist sie eine Mauer, manchmal geht es nur um eine abgelegene Gegend, wie die Wüste. Da braucht es keine Absperrungen.“

In den Ausstellungen der Gruppe, aber auch auf ihrer Webseite kann man die Fälle begutachten, die Forensic Architecture ans Licht gebracht hat: Der Fall eines Beduinen-Dorfes in der Wüste etwa, von dem die Israelische Regierung fälschlich behauptet, es habe vor der Staatsgründung Israels nicht existiert, ertrunkene Flüchtlinge im Mittelmeer, ermordete mexikanische Studierende, zivile Opfer amerikanischer Drohnenangriffe in Pakistan gehören dazu.

„Um anzufangen, muss etwas nach außen dringen, es muss ein Leak geben,“ sagt Weizman, wie beim NSU-Mord. Wird etwas geleakt, „wird ein quasi sakraler Raum profan. Ein Raum, wo priesterliche Rituale herrschen.“

Heute fungieren auch die sozialen Medien als Mittel solcher Profanierung. So war es während des Gaza-Krieges 2014 für Beobachter fast unmöglich, ins Kriegsgebiet zu gelangen. Aber abertausende Bilder kamen über Facebook und Twitter. „Ziel ist es, die quasi religiöse Forensik auf den Kopf zu stellen“, sagt Weizman. „Du schaust dir die geleakten Beweise aus anderer Perspektive an, interessierst dich für den Schmutz. Du nimmst Dir ein Ereignis, das politisch ist, das viele Dimensionen hat, die jenseits des eigentlichen Verbrechens liegen. Alles, was Rechtsanwälte und Wissenschaftler tun, ist Ereignisse auf eine simple, einfache Intention herunterzubrechen: Wessen Hand befand sich am Abzug?“ Was aber interessiere, sagt Weizman, ist genau der Schmutz, den der Staat von den Beweisen entfernen will. Nur aus ihm lasse sich die Politik, dessen Teil das Verbrechen ist, rekonstruieren.

Kurz nach dem Grenfell-Brand bot man seine Hilfe per Twitter an. „Es ist die Tragödie unserer Generation“ sagt Weizmann ernst: „72 Menschen verbrennen vor den Augen einer ganzen Stadt. Die Ärmsten. Das waren Menschen, die von politischen Prozessen ausgeschlossen waren, im Stich gelassen wurden.“ Es sei ein Spektakel gewesen, sagt er. Viele seien in die Stadt gefahren an jenem 14 Juni, um die Katastrophe mit eigenen Augen zu sehen: „Jeder nahm ein paar Sekunden mit dem Handy auf.“ Weizman ist überzeugt, dass das Knipsen kompensatorisch wirkte: „Auf eine Art distanzierte es sie davon, dass da Menschen vor ihren Augen verbrannten. Man sieht durch einen Schirm, wird abgeschirmt.“

Ganz London ist Zeuge

Forensic Architecture haben einen Aufruf gestartet. Über ihre Webseite kann man anonym Aufnahmen des brennenden Turmes hochladen. „Wir haben etwa 48 Stunden, die in Abschnitte zwischen drei und 17 Sekunden Länge aufgeteilt sind. Von vielen verschiedenen Menschen. Das also ist das Zeugnis, das die Stadt London ablegt, das ist, was sie gesehen hat.“ Jeder einzelne Blick, für sich allein genommen, sei bedeutungslos, sagt Weizman, aber wenn man sie sammele, lokalisiere und auf einer Zeitleiste anordne, dann könne man die Geschehnisse von außen rekonstruieren.

„Was innerhalb des Turmes geschah, ist wie ein schwarzes Loch“, sagt Weizmann. Das stehe einer Rekonstruktion der Brandkatastrophe im Wege. „Aber es gab Überlebende, viele sind rausgekommen, nicht alle verloren ihr Leben. Doch selbst die, die überlebten, haben kaum eine Erinnerung daran, wo sie waren, in welchem Stockwerk, in welcher Wohnung. Sie bewegten sich durch dichten Rauch, man kann das nicht dokumentieren. Die Zeugenaussagen sind sehr unpräzise.“ Selbst die Feuerwehrleute hätten oftmals ihre Orientierung verloren: „Manche meldeten per Funk, dass sie sich im 17. Stock befunden hätten, dabei waren sie im zwölften.“ Was macht man mit all den Aufnahmen, Fotos, Aussagen, Anrufen und Funksprüchen aus dieser Flut von Daten? „Was wir anstreben, ist eine Darstellung der Ereignisse in Echtzeit“ umreißt Weizman das Projekt: „Die Internet-Plattform erlaubt, die Bewegung jedes Zeugen von innen nach außen zu zeigen. Zwölf Stunden, 500 Zeugnisse, alle Begegnungen.“ Würde man das aufschreiben, lägen diese Überschneidungen der Wege der Zeugen hunderte von Seiten voneinander entfernt. Man muss, da ist sich Weizmann sicher, dieses Ereignis als Architektur nachbilden, als Geschichte, in der man sich bewegen kann: „dreidimensional und navigierbar: Das erlaubt dir, alles mit reinzunehmen, die Notrufe, all die Textnachrichten, all die Facebook-Accounts, alles, was öffentlich ist, all das wird da sein.“

Wenn er gefragt würde, sagt er, würde er die Arbeit von Forensic Architecture auch einer offiziellen Untersuchung zur Verfügung stellen: „Ich glaube, dass diese Menschen eine Antwort benötigen auf der behördlichen Ebene. Eine Antwort darauf, was geschehen ist, von jedem einzelnen in London. Wir alle haben sie im Stich gelassen“. Ob das nicht weiter zurückreiche, als ein knappes Jahr, möchte ich am Ende noch wissen: „Ja,“ sagt Weizmann, „ das ist die Geschichte des sozialen Wohnungsbaus von 1972 bis heute.“ Deshalb will man nun auch alle Veränderungen des Gebäudes kartographieren, die schließlich dazu geführt haben, dass sich seine Substanz in Energie verwandelt habe. „Aber das Feuer ist nicht die eigentliche Geschichte.“

Am Bretterzaun um das ausgebrannte Gerippe des Grenfell-Towers ist irgendwo ein Board angebracht, auf dem Filzstifte liegen. „I will not faget you“ steht da in inkorrektem Englisch in krakeliger Schrift, „Ich werde Euch nicht vergessen“. Geht man um das Gebäude herum zur Tube-Station Latimer Road, gibt es noch mehr Blumen, Teddybären und T-Shirts von Feuerwehrleuten. Und da hängen Zettel, auf denen eine Bitte steht: Man solle hier nicht fotografieren. Dies sei ein Ort großer Trauer.

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