Schwarzer Grund, guter Grund

Fotoreportage „Time“ zeigt James Nachtweys Bilder der Opiat-Krise in den USA. Die Präsentation im Netz setzt Maßstäbe
Ausgabe 09/2018
Erstmals in 95 Jahren Bestehen widmet „Time“ ein ganzes Heft den Bildern nur eines Fotografen
Erstmals in 95 Jahren Bestehen widmet „Time“ ein ganzes Heft den Bildern nur eines Fotografen

Foto: der Freitag

Auf den Vordersitzen sind die Eltern weggedämmert. Leben sie noch? Vom Rücksitz blickt ängstlich ein Kleinkind. Kann der Opioid- Antagonist Naloxon, dessen rechtzeitige Darreichung bei einer Überdosis über Leben und Tod entscheidet, verhindern, dass das Kind zur Waise wird? Das Bild wurde tausendfach in sozialen Medien geteilt. Die Bilder James Nachtweys sind anders. Schwarz-weiß und düster, schaffen sie Distanz, fallen auf durch die Nonchalance, mit der Fixer, die sich den Schuss setzen, die nach einer Überdosis von Polizisten geborgen werden oder die im Gefängnis auf Besserung hoffen, gezeigt werden. Die 35-jährige Schwangere, sie sieht aus wie 50, nein 60, weiße Shorts, Tanktop mit Aufdruck: „Love“, das „O“ der Saturn mit seinen Ringen. Die Weinende im Polizeiwagen, der Beamte, der geduldig auf sie einredet. Häftlinge, die Gesichter tief zerfurcht.

Erstmals in 95 Jahren Bestehen widmet das Time Magazin ein ganzes Heft den Bildern nur eines Fotografen. Nachtwey hat die Opiat-Krise, die 2016 mehr US-Opfer als Vietnam-, Irak- und Afghanistankrieg zusammen gefordert hat, monatelang dokumentiert.

Bemerkenswert ist, wie Time die Fotoreportage, die daraus entstanden ist, im Internet präsentiert. Man weiß es: Es reicht nicht, im Netz einfach die Inhalte eines Printmediums zu reproduzieren: Susan Sontag hatte ein Gespür für das Spezifische der Medien, als sie schrieb, die Bedeutung eines Bildes erwachse aus seiner narrativen Rahmung. Sie wusste auch, dass uns Bilder des Leidens anästhesieren, schon durch die Massierung, in der sie uns begegnen. Das hat sich im Digitalen verschärft.

Nachtweys Bilder begegnen uns auf schwarzem Grund: Man denkt an öffentlich angeschlagene Partezettel, die in Österreich und auf dem Balkan an Verstorbene erinnern. Anders aber als bei Wänden oder Zeitschriften müssen wir auf einer Website von oben nach unten scrollen. Nachtweys Fotos werden ergänzt durch Bildlegenden und Zitate: „Ich will mein Kind. Ich hätte nicht fixen sollen, als ich schwanger war.“ Rachel Hoffmann ist auf dem Weg der Genesung. Sagt sie. Sätze leuchten auf, wenn man sich durch die Seite bewegt, schieben sich vor die Fotographien. Das Medium wird Botschaft, es erzählt hier auch davon, zu welch technischer Finesse Time fähig ist. Erst wenn der Text sich in aller Macht aufgebaut hat, geht es weiter. Man muss verharren, innehalten, Text und Bild gemeinsam wahrnehmen. Die Story, die erzählt wird, die Kapitel Abstieg, Konsequenzen, Genesung gewinnen eine fast filmische Linearität, der im Magazin, wo man blättern kann, leichter zu widerstehen ist. Das Wort "Scrollen", es kommt von der Schriftrolle. Und so ist das Älteste hier wieder das Neuste.

Nur für kurze Zeit!

12 Monate lesen, nur 9 bezahlen

Geschrieben von

Mladen Gladić

Redakteur Kultur und Alltag

Mladen Gladić

Freitag-Abo mit dem neuen Roman von Jakob Augstein Jetzt Ihr handsigniertes Exemplar sichern

Print

Erhalten Sie die Printausgabe zum rabattierten Preis inkl. dem Roman „Die Farbe des Feuers“.

Zur Print-Aktion

Digital

Lesen Sie den digitalen Freitag zum Vorteilspreis und entdecken Sie „Die Farbe des Feuers“.

Zur Digital-Aktion

Dieser Artikel ist für Sie kostenlos. Unabhängiger und kritischer Journalismus braucht aber Unterstützung. Wir freuen uns daher, wenn Sie den Freitag abonnieren und dabei mithelfen, eine vielfältige Medienlandschaft zu erhalten. Dafür bedanken wir uns schon jetzt bei Ihnen!

Jetzt kostenlos testen

Was ist Ihre Meinung?
Diskutieren Sie mit.

Kommentare einblenden