Schwulst und Schuld

#MeToo Im Belästigungsverfahren gegen Avital Ronell ist eine Entscheidung gefallen. Was daraus für die Zukunft der Lehre an US-Universitäten folgt, ist schwer abzusehen
Ausgabe 34/2018
Der Kläger sagt, er habe sich an die Universität gewandt. Einmal. Zweimal. Ohne Erfolg
Der Kläger sagt, er habe sich an die Universität gewandt. Einmal. Zweimal. Ohne Erfolg

Foto: Chip Somodevilla/AFP/Getty Images

Eine universitätsinterne Kommission kommt zum Schluss, dass Avital Ronell, Professorin für Deutsche und Vergleichende Literaturwissenschaft an der New York University, gegen Title IX verstoßen hat. Bei Title IX handelt es sich um ein US-Bundesgesetz, wonach keiner Person aufgrund ihres Geschlechts Nachteile in Bildungsprogrammen oder -maßnahmen, die ganz oder teilweise aus Bundesmitteln finanziert werden, erwachsen dürfen. Geklagt hatte ein ehemaliger Doktorand, der der Professorin vorwirft, ihn über Jahre sexuell belästigt, genötigt und ihm nachgestellt zu haben.

Die NYU ist eine private Hochschule, wird aber aus öffentlichen Mitteln gefördert. Deshalb griff hier Title IX. Sexuelle Belästigung, Nötigung oder Nachstellung fallen deshalb unter das Gesetz, weil man davon ausgeht, dass betroffene Studierende nicht wie andere ihr Studium verfolgen können, egal, ob die Belästigung von Mitgliedern des Lehrkörpers, der Verwaltung oder von Mitstudierenden ausgeht.

Aufsehen erregte vor einiger Zeit ein Brief, den Geistesgrößen wie Judith Butler und Slavoj Žižek unterschrieben hatten. Dieser Brief, der Avital Ronell unter anderem wegen Verdiensten um das Fach in Schutz vor den Anschuldigungen nimmt, die Vorwürfe des ehemaligen Doktoranden als „niederträchtigen Feldzug“ bezeichnet und insinuiert, es drohe ein unfaires Verfahren gegen die Professorin, hat in Ton und Argumentation durchaus Nähe zu den Verteidigungsstrategien von Unterstützerinnen und Unterstützern Harvey Weinsteins, wie man in dieser Zeitung lesen konnte.

Zwar hat Adorno-Preisträgerin Butler, die Erstunterzeichnerin des Schreibens, mittlerweile ein Statement veröffentlicht, in dem sie einräumt, dass man dem Kläger im Title IX-Verfahren keine "Motive" hätte unterstellen sollen und auch keine Sprache hätte verwenden sollen, die impliziere, dass Ronell aufgrund ihrer internationalen Reputation eine Sonderbehandlung verdiene. Der Schaden, der durch den Brief für die Glaubwürdigkeit der Unterzeichnenden entstanden ist, ist damit aber sicher genauso wenig behoben wie der, der dem Kläger durch die öffentlich gewordene Unterstellung einer unlauteren Absicht entsteht.

Für Ronell, die der Belästigung, nicht aber der Nötigung oder der Nachstellung für schuldig befunden und von der Universitätsleitung für ein Jahr ohne Gehaltszahlungen suspendiert wurde, ist die Sache aber genauso wenig vorbei wie für ihren Arbeitgeber selbst. Der Klageführer im internen Title IX-Verfahren, der mittlerweile an der Harvard University Postdoktorand ist, verklagt nun sie und die Hochschule zivilrechtlich.

Wie ein Roman

Die Klageschrift, die im Internet kursiert, liest sich über weite Strecken wie ein Roman: der junge Mann, der locker auch an anderen Eliteunis hätte studieren können, aber bei der weltberühmten, älteren Professorin promovieren will, die den Philosophen Jacques Derrida und die Schriftstellerin Kathy Acker persönlich kannte. Sie ist eine der Ersten, die in den Geisteswissenschaften über Aids geschrieben haben. Ihre Analyse des Rodney King-Falls hat Aufmerksamkeit weit über die Grenzen der Akademie hinaus erhalten. Ronell ist eine Linke, eine Feministin. Sie ist in Prag geboren, als Tochter israelischer Diplomaten, er in Israel, als Sohn einer Richterin.

Noch bevor er in New York anfängt, veranstaltet er in Tel Aviv ein Symposium zu ihren Ehren. An der NYU angekommen, ist das Verhältnis zur Betreuerin von Beginn an eng. Zu eng, findet er. Aus schwülstigen E-Mails Ronells geht hervor, dass es körperlichen Kontakt gibt, der ehemalige Doktorand sagt jetzt, das sei ungewollt gewesen. Sie beschwert sich über seinen distanzierten Ton und schreibt per E-Mail rhetorische Weichspülung der Kommunikation vor. Ein wichtiger Faktor, denn das sieht die rechtliche Vertretung des Klägers als Beweis dafür an, dass die oftmals zärtlich und liebevoll klingenden Nachrichten des Schülers an seine akademische Lehrerin nicht als Beweis dafür gelten könnten, es habe sich tatsächlich um eine Liebesbeziehung gehandelt. Damit nicht genug: Sie ruft ihn Tag und Nacht an, wie es ihr gerade behagt, beschwert sich, wenn er nicht erreichbar ist, so der Vorwurf.

Er ist schwul, sie lesbisch. Intimbeziehungen, die er während seiner New Yorker Zeit zu anderen eingeht, lehnt die Professorin ab, wirft ihm vor, sich nicht auf seine Arbeit zu konzentrieren, so steht es in der Klageschrift. Es sind Passagen, bei denen man sich an den George-Kreis erinnert fühlt und das skeptische Wachen des "Meisters" über seine "Jünger", vor allem, wenn diese heiraten wollten.

Ronells Doktorand offenbart sich früh der Mutter und Freunden, wechselt aber Betreuerin oder Universität nicht. Zwar überlegt er, an die Yale University zu wechseln, deren Angebot er zugunsten der NYU in den Wind geschlagen hatte. Vielleicht kann man das aber rückgängig machen und doch in New Haven promovieren, wo wie an anderen Top-Unis in den USA oft kreativ reagiert wird, wenn man einen hochbegabten Doktoranden für sich gewinnen will. Weil der Vorsitzende der Zulassungskomission an der Ivy League-Hochschule jedoch ein enger Freund Ronells sei, hat der Doktorand Bedenken: Was, wenn Ronell erfährt, dass er die Hochschule wechseln will?

Die nämlich sagt, dass sie Leute zu etwas machen oder sie zerbrechen kann. Ihre Kontakte, das beweist dann auch der erwähnte Brief, der von der Crème de la Crème der Theoriewelt unterzeichnet ist, sind weitreichend. Also bleibt der Doktorand in New York. Zu groß ist seine Angst, später keine Stelle zu bekommen, wenn er der Professorin jetzt den Rücken kehrt. Eine Stelle an einer der amerikanischen Eliteuniversitäten nach seiner Promotion hat Ronell ihm in einer E-Mail als möglich und gar wahrscheinlich in Aussicht gestellt. Bis heute hat er keine. Er führt das auch darauf zurück, dass ihre Empfehlungsschreiben für ihn oberflächlich und formal ausfallen. Dem Empfehlungsschreiben kommt im Bewerbungsprozess an amerikanischen Hochschulen eine besondere Bedeutung zu, schon weil es keine Zensuren für die Abschlüsse gibt. Dass auch andere, die einen Abschluß aus Harvard oder Chicago in der Tasche haben, aufgrund der immer rarer werden Stellen in den amerikanischen Geisteswissenschaft oft jahrelang ins Rennen um einen der begehrten Tenure-Track-Posten gehen, der den Weg zur entfristeten Professur darstellt, sollte hier allerdings nicht unerwähnt bleiben.

Wußte die Uni Bescheid?

Der ehemalige Doktorand sagt, er habe sich an die Universität gewandt und Schutz gesucht vor der verbal und körperlich übergriffigen akademischen Lehrerin. Zweimal während seines Studiums, ohne Erfolg, bevor er, erst nach der Promotion, das Title-IX-Verfahren angestrebt habe. Wenn das zu beweisen ist, hat die Uni Probleme, da sie dann ihre Aufsichtspflicht verletzt hat. Der Verdacht der Kläger, der zu beweisen sein wird: weil er ein Mann ist, wurden seine Beschwerden nicht ernst genommen, was dann sexueller Diskriminierung gleichkäme, diesmal auch von Seiten der Universität. Und auch im Title IX-Verfahren habe die NYU den männlichen Kläger anders behandelt, als weibliche Klägerinnen vor ihm.

All dies wird vor Gericht verhandelt werden, sollte es nicht zu außergerichtlichen Vereinbarungen kommen. Was von all dem, was die 56seitige Klageschrift beinhaltet, letztlich zu beweisen ist, ist schwierig zu sagen. Die Auszüge aus den E-Mails beider haben einen überspannten, schwülstig-kitschigen Ton und Untertöne dessen, was man heute wohl "toxische Beziehung" nennen würde. Dass Ronell, die von einer Beziehung spricht, während der Kläger dies bestreitet, aus einer Position institutioneller Macht die Bindung eines jungen Mannes an sich erzwingen wollte, der sie bewunderte und sich von ihr abhängig sah, steht für den außer Frage, der diese Klageschrift liest.

Wer sie liest, wird allerdings auch darüber stutzig werden , wie beiläufig, fast lässig hier von Traumata gesprochen wird, die den Kläger noch auf Jahre hinweg beschäftigen würden oder darüber, wie die Professorin den Studenten zum Objekt degradiert habe. Und allgemeiner auch darüber, wie starr Machtverhältnisse hier verstanden werden.

Fight the Power!

Natürlich muss man das Genre des Textes in Betracht ziehen: Hier wird geklagt, Ziel ist neben Gerechtigkeit auch die finanzielle Kompensation für erlittenes Übel. Aber vielleicht gibt es auch eine andere Seite der Medaille: Laura Kipnis, Film-Professorin an der Northwestern University und eine der exponiertesten Kritikerinnen der Title IX-Verfahren an amerikanischen Universitäten, sieht in einer Auffassung von Macht, wie sie sich auch in der Anklage wiederfindet, einer Macht also, die als mehr oder weniger absolute Asymmetrie zwischen Lehrpersonal (denen, die Macht haben) und Studierenden (denen, die machtlos sind) verstanden wird, eine Infantilisierung von Studierenden und die Tendenz, Konfliktlösungen an eine übergeordnete Administration zu deligieren. Man muss sich dem nicht anschließen, kann Kipnis aber darin folgen, dass ein solches Verständnis dazu tendiert, Macht als repressiv zu verstehen. Es ist somit weit entfernt davon, auch produktiven Aspekte von Macht in Betracht zu ziehen, wie das mindestens eine Generation von Geisteswissenschaftlerinnen und Geisteswissenschaftlern im Anschluß an Michel Foucaults Analysen getan hat: Die Generation Ronells und ihrer Unterstützerinnen und Unterstützer.

Man kann das delikat finden, oder ironisch, wird doch gerade den "Justice Warriors", so nennen meist rechte oder konservative Kritiker jene, die die Universitäten zu "Safe Spaces"erklären wollen, "Trigger Warnings" für Lektüre fordern, die Traumata bei Studierenden wachrufen könnten und einer grundsätzlichen Verrechtlichung des Umgangs auf dem Universitätscampus freundlich gesonnen sind, immer wieder unterstellt, dass ihr Denken maßgeblich von der "Postmoderne" oder sogenannter französischer Theorie informiert ist.

Man kann sich auch, wie der am Brooklyn College in New York lehrende Politologe Corey Robin anlässlich von Avital Ronells Verteidigung, der Ton der inkriminierenden E-Mails und Nachrichten sei der einer schwul-lesbisch-queeren Gemeinschaft, in der eigene Kommunikationsformen gelten würden, an Diskussionen zwischen Kommunitaristen und Liberalen erinnert fühlen. Dabei geht es vor allem um die Frage, ob in bestimmten Gemeinschaften andere Regeln gelten dürfen als in der Gesamtgesellschaft.

Was man in jedem Fall sehen sollte, ist, dass der Fall Ronell der Anfang vom Ende einer Beziehung zwischen Lehrenden und Lernenden gerade an US-Eliteuniversitäten sein könnte, die hier, schon weil man erbittert um jeden der wenigen Doktoranden kämpft, immer besonders eng war – eine Intimität zwischen Erwachsenen, die Effekte hat, die Gefahren birgt, die missbraucht werden kann. Einer Intimität, die in Zeiten von Title IX-Verfahren, wie sie heute vermehrt zur Anwendung kommen, gelinde gesagt riskant wird. Wer sich über teilweise absurde Verfahren dieser Art informieren möchte, die sich nicht nur auf Intimbeziehungen zwischen Lehrenden und Lernenden, sondern auch auf solche zwischen Studierenden beziehen, der lese Kipnis Buch Unwanted Advances. Sexual Paranoia comes to Campus. Es könnte also das Ende einer Beziehung zwischen Lehrenden und Lehrenden nahe sein, von der manche glauben, dass sie zentral für die universitäre Lehre sein soll und die andere aus Gründen kritisieren, die nicht nur mit der Frage zu tun haben, ob sexuelle Beziehungen zwischen Lehrenden und Lernenden statthaft sind oder nicht.

Wo pro Jahr nur eine Handvoll Studierende zur Promotion zugelassen werden, die oft mit Zulassungsschreiben direkter Konkurrenz-Institutionen in der Tasche anreisen, um die richtige Universität auszuwählen, an der sie ihre Doktorarbeit schreiben werden, ist die enge Bindung an die Betreuerin oder den Betreuer in spe schon von Anfang an Versprechen und Werbemittel zugleich. Ein Star-System tut das übrige: welches Maß an Ehrerbbietung den Größen des jeweiligen Fachs entgegengebracht wird, weiß der, der einmal auf akademischen Konferenzen in den USA den oft elend langen Lobgesängen bei der Vorstellung von eingeladenen Vortragenden beiwohnen konnte. Und wenn die Handvoll Auserwählten nach abgeschlossener Promotion dann ihres Weges zieht, um an anderen, ähnlich renommierten Institutionen zu lehren, so wird man kaum verwundert sein, dass die Beziehungen eng bleiben. Enge Beziehungen zwischen Universitätslehrerinnen und -lehrern an ausgewählten Institutionen also, die Ängste, keine Anstellung zu finden, sollte man es sich mit dem Betreuer oder der Betreuerin verdorben haben, zumindest mit einiger Wahrscheinlichkeit unterfüttern. Ängste wie sie auch derjenige verspürt haben wird, der nun gegen Ronell einen Teilsieg errungen hat.

Ein Elite-Problem?

Vielleicht ist es so, wie Corey Robin schon im Mai dieses Jahres mutmaßte, lange also bevor Avital Ronell der Gemüter der akademischen Gemeinschaft und der breiteren Öffentlichkeit erhitzte, in einem Artikel, dem er den Titel "The Erotic Professor" gab: An der Beobachtung, dass Apologien einer "Erotik" der Lehre, die immer irgendwann bei Platon landen, eigentlich nur von Professorinnen und Professoren stammen, die an kleinen, elitären Colleges und Universitäten lehren, könnte etwas dran sein. Dass damit keineswegs gesagt sein muss, dass es an solchen Instutitionen zu sexuellen Übergriffen auf Studierende seitens des Lehrkörpers kommt, ist eine banale Feststellung. Dass ein enges Verhältnis zwischen Lehrenden und Lernenden, das trotz unterschiedlichem Wissensstand, unterschiedlicher institutioneller Stellung und unterschiedlichem Alter ein enges Verhältnis zwischen Erwachsenen bleibt, andere Formen des Miteinander ermöglicht, ist eine ebenso banale Tatsache. Inwiefern dieses Verhältnis nicht Regeln ausbildet, die sich von den Regeln an anderen Institutionen, an denen ein weniger enges Verhältnis zwischen Lehrkörper und Studierendenschaft existiert, deutlich unterscheiden, bliebe zu prüfen. Und auch, welche Berechtigung auch diese Regeln haben könnten, trotz erhöhter Gefahr, dass Macht in engen Schüler-Lehrer-Verhältnissen dieser Art missbraucht werden kann.

Robin selbst lehrt an einem College mit hoher Studentenzahl und man kann ihm glauben, dass Erotik welcher Art auch immer dort eine eher untergeornete Rolle spielt, wo der Kontakt zu Studierenden außerhalb des Seminarraums sporadisch und der Lehrkörper überarbeitet ist. Obwohl auch hier weder Erotik noch Machtmissbrauch ausgeschlossen sind. Dass Robins Argumentation von Neid auf die besserverdienden Kollegen mit viel Zeit für Forschung und Lehre in Harvard, Princeton oder Stanford geleitet ist, will man ihm nicht unterstellen. Sein Impuls ist ein genuin egalitärer. Ein Impuls, der auf eine Veränderung der Art und Weise, wie an amerikanischen Universitäten gelehrt wird, zielt.

Der Fall Ronell könnte somit Fragen aufwerfen, die weit entfernt davon sind, mit der Beantwortung der Frage, ob hier eine Professorin ihren Doktoranden sexuell genötigt hat, vom Tisch zu sein. Fragen, deren Beantwortung die amerikanische Universität, wie man sie kennt, verändern könnten.

Wie man sie beantworten wird? Wer weiß.

Beim vorliegenden Text handelt es sich um die erheblich erweiterte Version eines Kommentars, der in Ausgabe 34/2018 erschienen ist.

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Geschrieben von

Mladen Gladić

Redakteur Kultur und Alltag

Mladen Gladić

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