Staaten aus Daten

Interview Jürgen Link lehrt uns, wie Gesellschaften Normalität herstellen. Und dass Konflikte heute nicht erwünscht sind
Ausgabe 16/2019

Seit den frühen 1980ern forscht Jürgen Link darüber, was wir normal finden. In seinem neuen Buch widerspricht er der These, dass die großen Konflikte der Vergangenheit angehören, und plädiert dafür, Antagonismen beim Namen zu nennen.

der Freitag: Herr Link, eine österreichische Zeitung lehnte die Rezension Ihres Buches ab, weil es zu anspruchsvoll sei.

Jürgen Link: Ich habe dafür einen neuen Begriff geprägt: Theoriaphobie.

Angst vor der Theorie?

Man sagt: „Man muss die Leute da abholen, wo sie sind.“ Ich auch. Aber man soll sie nicht wieder dahin zurückbringen, wo sie waren.

Praxis ist gefragt?

Die Praxis bringt Herausforderungen, Provokationen. Da wird dann Theorie notwendig, um operativ reagieren zu können. Man muss generalisieren. Am besten lässt es sich an den Begriffen in meinem Titel erklären: Normalismus, Antagonismus und Postmoderne. Es geht um eine Verknüpfung dieser Konzepte. Daran sieht man, was ein theoretisches Herangehen ist.

Was ist für Sie „postmodern“?

Für mich ist wesentlich, dass die Postmoderne eine Epoche ist, die sich auch selbst so bezeichnet und versteht. Als deren Axiom, wie ich das nenne, gilt meines Erachtens: Diese Epoche hält sich für antagonismusfrei.

Sie beziehen sich auf Francis Fukuyamas „Ende der Geschichte“.

Fukuyama meinte, dass das Ende des Antagonismus von Ost und West die großen Konflikte der Moderne beendet hat.

Es gab viel Widerspruch.

Vor allem nach 9/11 . Das war allerdings eine banale Lektüre. So primitiv hat er das Ende der Geschichte nicht verstanden. Sondern in dem Sinne, dass der Antagonismus als Grundstruktur der historischen Entwicklung aufgelöst ist, was nicht bedeutet, dass alle Konflikte aufgelöst sind.

Normalismus, das kommt von „normal“. Kein schwieriges Wort.

Im Handelsblatt stand neulich: „VW-Handelschef: Wir sind nicht im Normalmodus.“ Was aber ist ein wirtschaftlicher Normalmodus? Spiegel-Online schrieb über Mario Draghis Politik: „Weit weg von der Normalität.“ Man glaubt zu wissen, was normal ist.

Wir wissen das nicht?

Weil Normalität keine bloße Alltagsfloskel ist, sondern eine erst zu erschließende Grundkategorie der Moderne. Sie beruht auf einer Dimension moderner Gesellschaften: dass sie verdatet sind. Für mich hängt Normalität in einem theoretisch soliden Sinne zusammen mit der statistischen Selbsttransparenz moderner Gesellschaften.

Seit wann streben Gesellschaften nach dieser Selbsttransparenz?

Man kann zurückgehen ins Römische oder Chinesische Reich. Aber erst seit dem 18. Jahrhundert erhebt man statistisch Daten über Bevölkerungszahlen, über Sterblichkeit et cetera. Statistik ist ursprünglich die Lehre und das Wissen vom Staat. Seit dem 19. Jahrhundert wird der Wille zur Selbsttransparenz schrittweise total – bis zu Big Data.

Was macht der Normalismus mit diesen Daten?

Der Normalismus ist ein besonderer Blick auf diese Datenlandschaften. Er ist interessiert an Normalverteilung. Man hat eine Normaldemokratie, wo die Mitte das Stärkste ist und die Extreme ausgedünnt. Solche Quasinormalverteilungen scheinen Gleichgewicht zu signalisieren und damit dynamische Stabilität. Das ist eine Klaviatur von Möglichkeiten der Intervention, die sich darauf richtet, zu schauen: Wo sind schon quasi spontan normale, also mittige Trends vorhanden? Wenn die da sind, muss man sie nur stützen. Wenn nicht, müssen wir eingreifen, normalisieren. Das findet durch Kompensation statt.

Zur Person

Jürgen Link, geb. 1940, lehrte Literaturwissenschaft und Diskursforschung in Dortmund und Bochum. An Links Buch Normalismus und Antagonismus in der Postmoderne (Vandenhoeck & Ruprecht 2018) wirkte auch David Link mit, der in diesem Jahr unerwartet verstarb

Können Sie ein Beispiel nennen?

Die soziale Normalverteilung sollte so aussehen, dass in der Mitte die meisten sind, sie haben einen mittleren Lebensstandard. Oben muss es einige Supernormale geben, die unvorstellbar reich sind, aber das sollten wenige sein. Dem sollten möglichst wenige Subnormale, also Arme, entsprechen.

Normalität wird oft mit Normativität verwechselt.

Normativität haben alle Gesellschaften gekannt, soziale Regeln, die unter Sanktionsdruck stehen, falls sie gebrochen werden. Der Normalismus bietet eine nicht normative Möglichkeit, Gesellschaften zu regulieren, einfach aufgrund einer guten Verdatung und aufgrund von Interventionen, die in der frühen Phase, ich nenne das protonormalistische Phase, doch auch sehr repressiv und oft mit Normativität gekoppelt waren. Im heutigen flexiblen Normalismus will man auf harte Eingriffe verzichten Man schafft Anreize oder stellt einfach nur die Daten dar.

Die Darstellung von Daten hat normalisierende Effekte?

Die Kinsey-Reports, die die sexuelle Revolution auslösten, sind ein gutes Beispiel. Da hat man erst einmal gesagt: „Wir haben einfach die Daten erhoben, Befragungen durchgeführt und festgestellt, das wirkliche Verhalten stimmt überhaupt nicht mit dem Normativen überein. Aber es hat sein Recht, weil es massenweise Realität ist.“

Verschwinden so Normen?

Gesetze werden ständig weitergeschrieben und neue gemacht. Aber seit es Normalismus gibt, gibt es ein Spiel zwischen den beiden. Das kann man an sexuellen Minderheiten sehen. Zunächst wird das sexuelle Verhalten durch Verdatung legitimiert. Das übt sofort Druck auf die Normativität aus. Man fordert neue Gesetze oder Gesetzesänderung. Das führt etwa zur Ehe für alle.

Man spricht auch von der normativen Kraft des Faktischen.

Es ist eigentlich die normative Kraft des Normalen.

Sie sprechen von Krisen, die darauf hindeuten, dass es ein Irrtum ist, von einer Postmoderne ohne Antagonismen auszugehen.

Ich rede von Denormalisierung. Wenn eine Normalverteilung wie die von Reichtum und Armut „ausbüxt“ und der sogenannte Armutssockel breiter wird und das Ganze eine Quasipyramide wird, heißt das, Normalität ist verloren gegangen. Im medialen und politischen Diskurs muss man natürlich Bezeichnungen haben. Zum Beispiel „Krise“. Die sogenannte Flüchtlingskrise wird oft als großer Kontrollverlust beschrieben.

Wir wissen nicht, wer kommt, wie viele und woher, also?

Während das Rätseln in Talkshows hin und her läuft zwischen dem Aufspießen bestimmter Fälle – „einer hatte zwölf Identitäten“ – und dieser Forderung: „Wir müssen die Kontrolle wiedergewinnen“, kann man das in normalistischen Termini konzise fassen: Die Bedingung für Normalismus ist Verdatung. Der nächste Schritt ist Normalisierung durch Umsteuern in Richtung von Quasinormalverteilung. Bei der sogenannten Flüchtlingskrise haben wir eine erste Phase, die hundertprozentig der Theorie entspricht: ein Kollaps der Verdatung im Jahre 2015/16.

Was macht man dagegen?

Das Problem ist, wie man eine Verdatungsbasis herstellt, sodass man weiß, „okay, das waren gar nicht zwölf Leute“. Die Daten müssen Schengen-weit ausgetauscht werden, ohne durch den Austausch noch die Verwirrung zu erhöhen.

Ist Widerstand gegen Verdatung Widerstand gegen Normalismus?

Ich würde sagen, dass diese Bewegung sich dagegen wehrt, dass man immer mehr mit protonormalistischen Instrumenten arbeitet. Ein krasses Beispiel ist das Sozialpunktesystem in China. Eine Tendenz, die auch hier besteht.

Verdatung allein wird die Konflikte, die die globale Migration mit sich bringt, aber nicht lösen.

Der sicherlich stärkste Antagonismus ist der sogenannte Nord-Süd-Antagonismus. Das Mittelmeer ist eine Zäsur, auch die mexikanisch-amerikanische Grenze. Die Zäsuren haben antagonistischen Charakter. Den zu normalisieren, wie das der UNO-Migrationspakt durch bessere Verdatung explizit will, scheint aussichtslos.

Man versucht das über das, was Sie „Normalitätsklassen“ nennen.

Da kommt ein Kollektivsymbol ins Spiel. Das Bild der Sportligen, wo man kontinuierlich auf- und absteigen kann, ist der Traum der Normalisierer in der UNO und den internationalen Gremien. Sie meinen, sie könnten aus der Welt eine Quasinormalverteilung machen.

Absolute Verlierer werden in diesem Modell immer akzeptiert?

Ja, es gibt immer die Subnormale.

Was funktioniert, sind Deals.

Ja.

Führen Deals nicht dazu, Antagonismen unsichtbar zu machen?

Gerade bei dem Türkei-Deal haben wir ja schreckliche Ausbrüche eines Antagonismus. Nicht nur, dass Leute ertrunken sind, die von der Türkei auf die griechischen Inseln gelangen wollten. Sondern auch das, was auf diesen Inseln geschieht. Auf Samos sitzen die Flüchtlinge im Schlamm. Und es gibt Aufstände der einheimischen Bevölkerung, die sagt: „Das macht uns hier den Tourismus kaputt. Das ist schon das vierte Jahr. Wir fordern, dass diese Flüchtlinge aufs Festland gebracht werden.“ Aber das widerspricht dem Deal. Erdoğan wäre das egal, aber Deutschland nicht. Denn wenn sie erst auf dem Festland sind ...

... kommen sie nach Deutschland.

Genau.

Sie sagen, es gebe ein Diskussionsverbot von Antagonismen.

Das ist Normalismus. Eine politische Strategie. Antagonismen zu „entnennen“, ist bereits normalistische Intervention.

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