Sagt man Buch, ruft einer Krise. Vielleicht lesen wir aber nur anders als früher? Ein Gespräch mit Steffen Martus und Carlos Spoerhase, Herausgebern des Bandes Gelesene Literatur. Populäre Lektüre im Zeichen des Medienwandels, herausgegeben von (edition text + kritik2018, 283 S., 39 €).
Der Freitag: Ist das Lesen passé?
Steffen Martus: Viele Diagnosen laufen darauf hinaus, dass immer weniger, immer schlechter gelesen wird. Unsere Vermutung ist, dass das zum Teil mit einer Blickbeschränkung zusammenhängt. Es gibt Segmente des Buchmarktes, die so nicht gut erfasst werden. Schon der Kollektivsingular „Buchmarkt“ dürfte ein Problem sein. Wir hatten Lust, den kulturpessimistischen Beobachtungen etwas entgegenzusetzen.
Carlos Spoerhase: Von Walter Benjamin gibt es das schöne Hörspiel Was die Deutschen lasen, während ihre Klassiker schrieben. Die Klassiker wurden nicht gelesen, als sie schrieben. Aber es wurde ungeheuer viel anderes gelesen, was später ganz aus dem Blick geriet.
Auch heute sieht man das nicht?
Spoerhase: Wenn in der aktuellen Studie des Börsenvereins über den Leserschwund gesprochen wird, geht es um nicht gekaufte Bücher. Es gibt aber viele Bücher, die gekauft, aber nicht gelesen werden; und viele, die sehr intensiv gelesen und wieder gelesen werden, ohne je gekauft worden zu sein.
Martus: Dass etwa Tauschbörsen nicht berücksichtigt werden, zeigt, dass es da nicht ums Lesen geht. Auch nicht ums Buchkaufen insgesamt. Da wird ja auch verkauft, jenseits der Verlagsökonomien.
Kann man die beobachten?
Martus: Weil es digital abläuft, können Sie die Klicks, Zahlen und Verkäufer schneller rekonstruieren als beim stationären Buchhandel. Nur ist es für den Buchhandel uninteressant.
„Schlachthaus der Literatur“, sagt Franco Moretti: Nur etwa 200, ein halbes Prozent der publizierten britischen Romane aus dem 19. Jahrhundert kennt man noch.
Spoerhase: Das Schlachthaus ist ja nicht nur das 19. Jahrhundert. In Le Monde des Livres stand gerade, dass sich in Frankreich Autoren beschweren, dass neuerdings so viele Romane publiziert werden. Die Midlist-Autoren, die eigentlich immer gut auskamen, verzeichnen stark rückläufige Verkaufszahlen. Auch in der Gegenwartsliteratur fokussiert sich die Wahrnehmung schnell auf wenige Titel.
Ist das Populäre ein literaturwissenschaftliches Problem?
Martus: Seit den 70ern gibt es einen erweiterten Literaturbegriff in der Theorie. In den renommierten Zeitschriften spiegelt sich die theoretische Verbreiterung bei der Wahl der Interpretationsgegenstände aber faktisch kaum wider.
Spoerhase: Man untersucht meist weiterhin ein großes Werk und muss hermeneutisch möglichst viel herausholen. Bei Krimis etwa wird es vielleicht erst da interessant, wo man 20 „Nordic Noir“ untersucht. Muster findet. Das ist dann ein anderer Textumgang.
Zur Person
Steffen Martus ist Professor für Neuere deutsche Literatur an der Humboldt-Universität zu Berlin. 2015 erhielt er den Gottfried-Wilhelm-Leibniz-Preis. Zuletzt erschien Aufklärung. Das deutsche 18. Jahrhundert. Ein Epochenbild (Rowohlt 2015)
Wie reagiert das Feuilleton?
Spoerhase: Die New York Times hat angefangen, in großen Stapeln zu rezensieren: Die wichtigsten zehn Liebesromane der Saison etwa.
Martus: Das gab es jetzt auch bei der Buchpreisliteratur. Da wurden etwa die Generationenromane frühzeitig en bloc besprochen.
Was hat das für Folgen für die Arbeit des Rezensenten?
Martus: Durch die vorgezogene Besprechung wird die Bedeutung der Literaturbeilagen wahnsinnig gemindert. Man will der Erste sein, vielleicht muss man das.
Zur Person
Carlos Spoerhase ist Professor für Germanistik an der Universität Bielefeld. 2018 veröffentlichte er Das Format der Literatur. Materielle Textualität zwischen 1740 und 1830 im Wallstein Verlag
Das war früher anders?
Spoerhase: Andreas Platthaus hat mal erzählt, bei der FAZ wäre man früher der Auffassung gewesen, dass ein Buch erst dann wirklich publiziert sei, wenn es in der FAZ besprochen wurde. Dass man sich selbst als Taktgeber sieht, kann man sich heute kaum vorstellen.
Martus: Als ich in den 90ern anfing, für die Berliner Zeitung zu rezensieren, habe ich mich mit den Redakteuren vor ein Regal gestellt, die Bücher waren da, man wählte aus. Jetzt kommen Ankündigungen, und man sagt, was einen interessiert. Dann wird es knapp. Der Rhythmus ist verschoben.
Woran liegt das?
Martus: Man könnte vielleicht wirklich sagen, das Feuilleton hat das Selbstbewusstsein verloren, Taktgeber zu sein. Aber warum denkt man, Leser würden etwas verpassen, wenn wir nicht so und so schnell sind? Das setzt voraus, dass Leser stark vergleichen.
Beim „Perlentaucher“ geht das.
Martus: Der Perlentaucher ist für eine vergleichende Aufmerksamkeit wahrscheinlich unglaublich bedeutsam. Man müsste sehen, ob Besprechungszeiträume knapper geworden sind.
Spoerhase: Betrachtet man diese Taktung aus Sicht derer, die taktbedürftig sind, hat man den Eindruck relativ großer Unsicherheit. Muss man etwas Bestimmtes gelesen haben, wenn man auf eine Abendgesellschaft geht, weil dort darüber gesprochen wird?
Das war einmal so?
Martus: Da bin ich vorsichtig. Eine gewisse Plausibilität bekommt das dadurch, dass es bei Serien so ist. Wenn man bei einem Essen die Serien nicht kennt, über die alle sprechen, ist es ungünstig. Vergleichbares gibt es bei Büchern nicht.
Spoerhase: Es scheint aber verstärkt das Bedürfnis zu geben, das Buch als soziales Medium zu nutzen, durch das man letztlich auch eigene Positionen zur Welt, zur Gesellschaft, zu sich selbst artikuliert.
Es gibt zum Beispiel ein neues Interesse am gemeinsamen Lesen in Lesezirkeln. Verlage fangen an, eigens Broschüren dafür zu drucken.
Martus: Die Intention der Buchpreise war, das sozial breitenwirksame Gespräch zu initiieren. Ich glaube, das hat nicht funktioniert. Ich wüsste nicht, wann es über einen Preisträger eine Art Diskussionsbedarf gegeben hätte. Bei Frank Witzel vielleicht.
Selbst beim Büchner-Preis nicht?
Martus: Man hat nicht den Eindruck, über Terézia Mora gäbe es im kulturellen Stimmungsklima gewisse Meinungswerte. Das war bei Rainald Goetz so, in Kombination mit der Laudatio von Jürgen Kaube. Ein Feuilletonereignis.
Da hat ja quasi auch das Feuilleton den Preis bekommen.
Martus: Genau.
Ist doch alles schlechter heute?
Spoerhase: Dass Literatur keine Aufmerksamkeit findet und sich Lektürefaulheit ausbreitet, stimmt einfach nicht. Die Formen des Buchgebrauchs ändern sich.
Martus: Das lässt sich nicht rekonstruieren, wenn man wie das Kaninchen vor der Schlange auf Neuerscheinungen schaut. Das intensive Leseverhalten ist erstaunlich. Generationenübergreifend. Die Motivation hat sich geändert.
Was ist jetzt die Motivation?
Martus: Es ist nicht der Kanon, der eine objektive Motivation abgibt, der man sich hingeben muss, auch wenn es wehtut. Es scheint sich zu verlagern in die eigenen Bedürfnis-Sphären, in den Bedarf an Erlebnissen, die von Literatur geweckt oder gestillt werden. Das führt dazu, dass man, wenn man diese Erlebnisse bekommt, 800 Seiten am Stück liest und, wenn nicht, nach fünf aufhört. Egal ob „Mann“ oder „Goethe“ draufsteht.
Lesen stand einmal für Disziplin.
Spoerhase: Was in Deutschland Sitzfleisch heißt und als moralische Aushaltefähigkeit des Bürgertums galt, etwa eine Wagner-Oper durchzusitzen, hat Pendants in anderen Bereichen. Die Frage ist, ob die Orte, wo man das zeigt, sich verschoben haben. Ob man sich jetzt eher richtig ernährt oder Marathon läuft, um Selbstdisziplinierungsbereitschaft und moralische Überlegenheit zu signalisieren.
Ist das Buch als Objekt obsolet?
Spoerhase: Schaut man sich Bücher von Judith Schalansky oder Michael Lentz an, da wird für ein bestimmtes Publikum das Buchobjekt ostentativ ausgestellt. Self-Publishing ist ein Bereich, den man nicht in den Blick bekommt, wenn man nur das Buch betrachtet. Da werden eigene Marketingstrategien ausprobiert. Autoren binden eine Community an sich, die in den Entstehungsprozess eingebunden wird. Die Fanbase will regelmäßig lesen. Das ist eine ganz eigene Taktung der Leserschaft, der man sich unterwirft. Die einen bestraft, wenn man nicht liefert.
Martus: Gesehene und gehörte Literatur ist extrem populär. Theater, Lesungen. Bücher sind Kultobjekte, aber für weniger Leute. Selbst Möbelhäuser stellen keine Bücher mehr in die Regale. Total irre war es für mich, das Gespräch zweier Studentinnen zu belauschen: Eine sagte, sie habe ihr Zimmer in gleichmäßigen Farbtönen dekoriert. Die Bücher hätten so gestört, weil sie unterschiedlich farbig seien. Sie hat einen Vorhang davorgehängt. Das fand ich irgendwie toll. Es gibt Bücher, man schmeißt sie nicht weg, aber sie haben keinen Schauwert mehr. Man braucht sie nicht mehr, um seine Subjektivität auszustellen.
Spoerhase: Früher gab es die Chefarztbibliothek, wo eigentlich kein einziges Buch durchgearbeitet worden ist. Da war kein Vorhang, aber irgendwie doch ein mentaler.
Books as furniture.
Martus: Bei einer tollen Literaturdiskussion 2005 über Uwe Timms Der Freund und der Fremde war der Moderator Martin Lüdke, Timms Generation. Timm erzählt, dass Benno Ohnesorg einen unheimlichen Bildungswillen hatte, alles nach einer Liste durchlas. Es gab zwei Gesprächspartnerinnen, Julia Encke und Ricarda Junge, beide eine viel jüngere Generation. Encke fand, das sei eine superironische Szene, wie der Typ versuchte, auf diese Weise Bildung abzuarbeiten. Lüdke und Timm sagten: „Nein, das war so damals.“ Es könnte für eine jüngere Generation total unplausibel sein, dass man solche Bildungsarbeit auch noch als Leistung im Regal dokumentiert.
Spoerhase: Die Bildungskarriere als Regal.
Hat sich das Lesen tribalisiert?
Martus: Seit der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts hatte Literatur immer zwei Funktionen. Einerseits, sich dem gesellschaftlichen Allgemeinen zu nähern. Aber sie war immer auch das individuelle Moment der Distinktion. Zu sagen: „Wir gehören zusammen, weil wir diese oder jene Literatur lesen. Ihr gehört nicht dazu, ihr versteht das nicht.“ An dieser Ökologie von Zuordnung zum gesellschaftlichen Ganzen auf der einen und Sektenbildung auf der anderen Seite hat sich nichts grundlegend verändert.
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