Mit Peter Handkes Büchern der späten Jahre, sagte einmal eine befreundete Schriftstellerin, sei es ein bisschen wie mit dem Ruhrgebiet. Wer sich da aufhalte, wisse nie so recht, in welcher Stadt er sich gerade befinde. Was heißt, dass man zumindest immer weiß, dass man im Ruhrgebiet ist. Immerhin. Das war vor einigen Jahren, wir saßen über Kaffee (Wein?), auf dem Tisch zwischen uns (dem Tresen vor uns?) Die morawische Nacht, Handkes Buch von 2008, das auch einen – erneuten – Abschied von Jugoslawien zum Thema hat.
Eingestickter Schmetterling
Wann beginnen diese „späten Jahre“ bei Handke? Und gibt es dazu noch ein Postscriptum, ein spätes Spätwerk oder Spät-Spätwerk? Dass das Werk der späten Tage vermutlich mit der expliziten Beschäftigung Handkes mit Jugoslawien begann, mit Die Wiederholung von 1986, die ein jugendliches Ich auf die Suche nach seinem in Slowenien verschollenen Bruder schickt und sich über die langen Texte Mein Jahr in der Niemandsbucht (1994) und Der Bildverlust (2002)bis zur morawischen Nacht und zum Theaterstück Immer noch Sturm (2010) erstreckt, könnte einleuchten, entgegen der beliebten Einteilung, die einen „klassisch“ und, ja, „konservativ“ gewordenen Handke seit der Tetralogie um die Langsame Heimkehr von 1979 vermutet.
Dass dann auch diejenigen Texte, die nach der Bekanntgabe des Literaturnobelpreises 2019 an Handke abermals zu erbitterten Diskussionen führten, all das also, was der Sohn einer Kärntner Slowenin seit 1992 oft, aber nicht immer, in Zeitungen und Zeitschriften zum blutigen Zerfall Jugoslawiens veröffentlicht hat, zu diesem Spätwerk gehören, ist klar.
Schon vom Sound her, mehr noch aber durch ihr Interesse an Nebensächlichkeiten, Details und „dritten Dingen“ machen sich diese Texte als Teil eines größeren Korpus bemerkbar. Dafür mussten diese stellenweise kriegsberichtenden und scharfen Polemiken gegen die westliche Medienwelt 1992ff. nicht erst ihren Band in Suhrkamps „Handke-Bibliothek“ bekommen. Natürlich hat Handke seit Mitte der 80er auch anderes publiziert. Keinesfalls hat das, was er seitdem geschrieben hätte, immer auch Jugoslawien zum Thema gehabt. Auch die Niemandsbucht etwa verhandelte Jugoslawien nur indirekt, über die Erzählung von einem Bürgerkrieg, in deutschen Landen.
Man kann es nun beinahe als Ironie (des Schicksals?, der Geschichte?) betrachten, dass Handke just dann den Nobelpreis zugesprochen bekam, als er sich – ob nun Spät-Spätwerk oder nicht – von der Jugoslawien-Thematik mehr und mehr wegbewegt hatte, zuletzt mit Die Obstdiebin (2017), und sein Schreiben heller, unbeschwerter, verspielter wurde. Gerade jetzt flammte eine Diskussion wieder auf, die sich spätestens seit dem Zeitungstext Gerechtigkeit für Serbien (1996) in unschönem Turnus wiederholt hatte, sobald Handke etwas zum Balkan sagte oder schrieb. Unter verschärften Bedingungen von Cancel Culture, 280-Zeichen-Aktivismus und grassierender Unfähigkeit, Literatur anders zu bewerten als nach Maßgaben der Moral. Die Diskussion um die Preiswürdigkeit von einem, der ob seiner Medienkritik oft mechanisch dem Lügenpresse-Chor zugeschlagen und dessen Forderung nach „Gerechtigkeit“ noch für Slobodan Milošević ebenso oft als Ultranationalismus denunziert wurde, wirft ihre Schatten nun auch auf Handkes neue Erzählung Das zweite Schwert.
Zu Recht? Diese Maigeschichte handelt von einem, der aufbricht, sich zu rächen. Und wie er aufbricht! Frisch gebadet, im Dior-Anzug, ein Hemd mit eingesticktem Schmetterling am Leib. Aber Rache wofür? Hier wird es interessant: Was zu rächen ist, ist ein Unrecht an der Mutter des Erzählers – biografische Interpretationen liegen nah, und ihre Anlässe reichen zurück zu Wunschloses Unglück, in dem Handke 1972 den Freitod der Mutter nicht ver-, aber wohl bearbeitet hat. Und begangen hat das Unrecht ausgerechnet eine Journalistin. Sie hat die Mutter „eine der Millionen aus der einstigen großen ‚Donaumonarchie‘ “ genannt, „für welche die Einverleibung des kleingewordenen Lands ins ‚Deutsche Reich‘ Anlass zu Freudenfesten gewesen war“. Die Schwester zweier „von der Erde kartätschter Brüder, von denen sie ... mir, dem Heranwachsenden, so liebreich erzählte“!
Kad Sam Bio Mlad
Auf Frühjahr 2019 datiert die letzte Seite der Erzählung ihre Niederschrift. Als Kommentar zur Schlammschlacht vor Stockholm taugt sie nicht. Der Ausflug aus der Niemandsbucht in die angrenzenden Täler, zu Fuß auf ungleichen Socken zwar („Das gehört zum Spiel. Der Rächer mit den verschiedenfarbigen Socken“), in Schuhen aber, die den Erzähler schon durch die Sierra del Gredos trugen (siehe Der Bildverlust), in Bus, Bahn, im Taxi, wo man mit dem Fahrer Eric Burdons When I was Young („ ‚Als ich jung war‘ / ‚Kad Sam Bio Mlad‘ / ‚Quand j’étais jeune‘ “) schmettert, ohne Lesestoff („No book today, my love is far away“), um eine Tat zu begehen, zu der es nie kommt, ist so oder so viel mehr als ein Kommentar.
Die Maigeschichte strotzt vor Referenzen auf so vieles, was Handke in seiner langen Karriere geschrieben hat: So kommt dem Erzähler beim Losgehen Karl Philipp Moritz in den Sinn, der hatte schon 1972 das Motto des Kurzen Briefs zum langen Abschied geliefert. Findet der Rächer im Schlamm einen Bleistift und eine „rostfleckige Nähnadel“, so fehlt hier, anders als in der Stunde der wahren Empfindung (1975), ein Drittes. Doch: „Lass es fehlen!“ Handke spielt mit seinem Werk, leichtfüßig oft, dann tief, wenn‘s um große Themen geht: „Ja, ‚Einbildung Gerechtigkeit‘, um die geht es hier und heute, was schert es mich, ob dabei das Recht, das kodifizierte, auf meiner Seite ist.“
Fast als Summe nicht nur der späten und späteren Jahre möchte man das alles also lesen. Muss man aber nicht. Man kann ja auch in Duisburg oder Essen bleiben.
Das zweite Schwert. Eine Maigeschichte Peter Handke Suhrkamp 2020, 160 S., 20 €
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