Wahlkampf im Schlafzimmer

Medien Das Buhlen um die Wählergunst macht nun auch vor Dating-Apps nicht mehr halt. Der nächste Flirt könnte mit einer Maschine sein
Ausgabe 26/2017
Ein Tinder-Bot?
Ein Tinder-Bot?

Foto: Matt Cardy/Getty Images

Mit dem Turing-Test, benannt nach dem britischen Computerpionier Alan Turing, lässt sich herausfinden, ob man mit Mensch oder Maschine kommuniziert. Bei diesem Test „spricht“ man per Tastatur sowohl mit einem Menschen als auch mit einer künstlichen Intelligenz (KI). Kann man beide nicht voneinander unterscheiden, hat die KI den Test bestanden. Nutzer der Dating-App Tinder in Deutschland werden vielleicht bald einen ganz ähnlichen Test durchführen müssen, wenn sie mit einem „Match“ in Kontakt treten. Vor der Parlamentswahl in Großbritannien zumindest gab es für manch Tindernden eine handfeste Überraschung: Statt dem üblichen Smalltalk, mit dem Kontaktaufnahmen zwischen Paarungswilligen via App oft beginnen, wurde gefragt, wen sie zu wählen beabsichtigten. Antworteten sie mit Labour oder einer anderen Partei, deren Chancen, die Konservativen im jeweiligen Wahlkreis zu schlagen, gut standen, wurde ihnen ein Link zum nächsten Wahllokal geschickt. Antworteten sie, dass sie eine andere „progressive“ Partei wählen wollten, fragte der Chatpartner, ob sie eine taktische Stimmabgabe in Betracht ziehen würden, um die Tories zu schlagen. Bei Unentschiedenheit oder wenn gar eine „rechte“ Partei auserkoren war, bekam man eine Liste von Zielen des Corbyn-Lagers oder einen Text, der die Konservativen kritisierte.

Das alles war das Werk von Yara Rodrigues Fowler und Charlotte Goodman, die mit zwei Software-Entwicklerinnen einen sogenannten Chatbot, ein intelligentes Programm kreierten, der auf Tinder solchen Wahlkampf betrieb. Dafür mussten erst Facebook-User rekrutiert werden, die den Wahlkämpferinnen ihre Profile „ausliehen“, wie die zwei Frauen jetzt in der New York Times schreiben. Der Bot überzeugte die App, dass sich die Inhaber der Profile in einer Gegend aufhielten, in der das Wahlergebnis knapp zu werden versprach und markierte alle 18- bis 25-Jährigen dort als potenzielle „Matches“. Wenn die nun die typische Wischbewegung nach rechts, Zeichen des Gefallens, machten, wurden sie aber nicht angeflirtet. 30.000 politische Nachrichten hätten junge Wähler in wichtigen Wahlkreisen auf diesem Weg erreicht, liest man. Man kann solch mediales détournement, wie die Situationisten um Guy Debord es genannt hätten, für eine witzige Idee halten. Man darf sich aber auch wundern, warum das Flaggschiff des US-amerikanischen Linksliberalismus nicht einmal fragt, ob es sich bei der Aktion nicht um einen gravierenden Verstoß gegen Geschäftsbedingungen handelt. Und, das wiegt schwerer, man hätte auch darüber nachdenken können, dass der Tinder-Bot gar nicht weit weg von ist, was sich etwa Cambridge Analytica auf die Fahnen schreiben, den amerikanischen Wahlkampf nämlich mit persönlich zugeschnittener Werbung mitentschieden zu haben. Kann man auch weniger alarmistisch reagieren? Tinder-Gebrauch, beklagt die Soziologin Eva Illouz, führe dazu, dass feste Beziehungen unwahrscheinlich werden. Stammwähler wird ein Bot also nicht rekrutieren. Dass User flugs mit weiteren „Swipes“ zu anderen potenziellen Partnern eilen, macht aber auch wahrscheinlich, dass im Netz noch andere Tinderüberraschungen warten. Solange die Bots der anderen die Nutzer aber in deren politische Betten locken wollen, wäre es naiv, in diesem Spiel nicht mitzuwischen.

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Geschrieben von

Mladen Gladić

Redakteur Kultur und Alltag

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