Wir sind gewürfelt

Theater Angela Richter inszeniert in Zagreb Slavoj Žižeks „Antigona“ für unsere Zeit. Postheroisch? Postmoralisch!
Ausgabe 43/2019

Kein Sauerstoffmolekül blieb ungenutzt, schreibt die Zeitung Večernji list über diesen Premierenabend am vergangenen Samstag. Und wenn Alma Prica als blinde Seherin Tiresija sich zunächst so auf einem auf der Bühne stehenden Projektor abstützt, dass der Eindruck entsteht, sie habe eigenhändig den sonst in buntes Licht getauchten und mit Aufnahmen aus dem Zuschauerraum bespielten Bühnenhintergrund verdüstert, kann man die Atemlosigkeit des Publikums tatsächlich spüren.

Wer kein regelmäßiger Besucher des Kroatischen Nationaltheaters ist, jenes repräsentativen Baus aus dem späten 19. Jahrhundert, das ein Drilling der Zürcher Oper und des Staatstheaters Wiesbaden ist, dem fällt schon früher am Abend die ausgewählte Garderobe der Theatergänger auf. Auch das fortgeschrittene Alter vieler Besucher, die sich aber bald mit jüngeren mischen, welche den „Purgern“ – so der noch österreichisch-ungarische Spitzname der alteingesessenen Zagreber – in Sachen Putz in nichts nachstehen. Vielleicht sind die Premieren hier am Platz der kroatischen Republik, der noch bis 2017 nach Tito benannt war, immer so feierlich, mit Fotografen, die Prominente ablichten, vielleicht liegt es aber daran, dass die Aufführung eines Dramas des slowenischen Starintellektuellen Slavoj Žižek ansteht.

Eines Stückes, dessen Aufführung schon lange angekündigt war. Allerlei kam dazwischen, zuletzt ein Unfall des Hauptdarstellers, der wenige Tage vor der eigentlich anberaumten Premiere in einer dunklen Seitenstraße von einem Auto erfasst wurde und dabei die vordere Zahnreihe einbüßte. Die ist provisorisch ersetzt, ein wenig hinkt er noch, das lässt sich aber gut in seine Rolle als Herrscher über Theben integrieren. Žižeks Antigona eröffnet die aktuelle Theatersaison, in der Regie von Angela Richter, seit 2013 eine von vier Hausregisseurinnen am Schauspiel Köln. Richter, die kroatische Wurzeln hat und sich neben ihrer Theaterarbeit für Belange der Informations- und Meinungsfreiheit im Internet einsetzt (Sie hat für den Freitag schon Interviews mit Julian Assange und Edward Snowden geführt.), hat DiEM25 mitbegründet.

Die Antigone ist der Stoff, der uns eine der faszinierendsten Frauenfiguren der Literaturgeschichte beschert hat. In der autoritativen Fassung bei Sophokles begehrt die Titelheldin gegen die Staatsmacht auf. Ihre Brüder sind im Zweikampf gestorben. Die Vorgeschichte kennt man aus dem Ödipus-Mythos. Als der, nachdem er durch Beantwortung der Orakel-Frage nach der Mehrbeinigkeit des Menschen die Pest von der Stadt abgewendet hat und thebanischer Herrscher geworden ist, merkt, dass er nicht nur den Vater erschlagen, sondern auch die Mutter geehelicht und mit ihr die Kinder Eteokles und Polyneikes, Ismene und eben Antigone gezeugt hat, blendet er sich und geht ins Exil. Den beiden Söhnen überträgt er die Regierung der Stadt, im jährlichen Wechsel. Daran hält sich Eteokles nicht, es kommt zum Krieg der „Sieben gegen Theben“, der Antigone ohne Brüder lässt.

Bauchreaktion: Misstrauen

Kreon, Antigones Onkel mütterlicherseits, wird Herrscher und gewährt nur dem, der die Stadt verteidigt hat, Eteokles, die Bestattungsriten, seinem Bruder Polyneikes sollen sie, bei Todesstrafe für jeden, der gegen das Gebot verstößt, verwehrt sein. Das akzeptiert Antigone nicht, Totengötter und Familienbande sind ihr heiliger als Menschenbefehl. Heimlich bedeckt sie den Körper des Toten, wird verhaftet und in ein Felsverließ unter der Erde gesperrt. Incipit Tragoedia: Antigone ist Kreons Sohn Hämon versprochen, der den Vater umstimmen will, er scheitert, lebend wird ihn der Vater nicht mehr sehen. Der Seher Teiresias warnt diesen nicht nur vorm Unmut des Volkes, er prophezeit auch, dass er ein Kind verlieren werde. Kreon besinnt sich, doch im Verließ erwarten ihn die erhängte Antigone und Hämon, der sein Schwert zuerst gegen den Vater und dann gegen sich selbst wendet. Euridice, Hämons Mutter, tötet sich, er bleibt als Gebrochener zurück.

Die tragische Geschichte der Schwester, die die Familie über den Staat stellt, ist oft interpretiert worden. Manche sahen sie als noble Rebellin gegen die Tyrannei. Jean Anouilh zeichnete Kreon 1941 sympathischer, als Mann der Ordnung und Vernunft, während Antigone Irrationalität und egoistische Maßlosigkeit verkörpert. Von Hegel stammt eine komplexe Deutung, die in Antigone und ihrem Onkel zwei widerstrebende Formen sittlichen Verhaltens sieht. In der Tragödie komme „die Familienliebe, das Heilige, Innere ... mit dem Recht des Staates in Collision“. Die Krux: In ihrer Einseitigkeit realisieren Kreon und Antigone je nur eine Seite der Sittlichkeit.

Aus einer „Bauchreaktion des Misstrauens, ja sogar des Hasses auf das heldenhafte Image der Antigone als größter Heldin im Widerstand gegen die Staatsmacht“, so Žižek, habe er gewagt, „eine neue Antigone zu schreiben, die all das herausstellt, was an ihrem klassischen Bild falsch ist, und Alternativen vorschlägt“. In Zagreb heißt das Stück schlicht Antigona, der Titel des Dramentextes Die drei Leben der Antigone erinnert an Die zwei Leben der Veronika (1991) von Krzysztof Kieślowski. Es ist ein anderer Film des Polen, auf den sich Žižek, neben Tom Tykwers Lola rennt (1998), bezieht: Der Zufall möglicherweise (Przypadek) von 1981, wo Kieślowskis Held Witek mal Apparatschik wird, mal Oppositioneller und mal die Liebe findet. Sterben muss er jedes Mal.

In Žižeks „kontrafaktischer Antigone“, die „Sophokles’ Version als ein Bruchstück eines zerbrochenen Gefäßes“ behandelt, gibt es auch drei Enden. Während das erste sich an Sophokles hält und Antigone vom Schlusschor für ihre Charakterstärke gepriesen wird, obsiegt sie beim zweiten. Der Chor rühmt Kreons Pragmatismus genauso wie Antigones Prinzipientreue, legt Zeugnis davon ab, dass es sich die Herrschenden leisten können, „an starren Grundsätzen festzuhalten“, während das Volk den Preis zahlt. Das dritte Leben der Antigone endet, genau wie das Kreons, mit einem Urteil des Chors, der das Volk darstellt: Was er, so schreibt Žižek, erreichen will, sei unsere Konfrontation mit der „echten Antigoneunserer Zeit“. Unser Mitgefühl für eine Heldin, die in ihrem Beharren vor humanitärer Selbstgefälligkeit nur so strotzt, soll ausgeblendet werden.

Wie Richter das in Zagreb inszeniert, ist tatsächlich atemberaubend: die Bühne weitgehend leer bis auf einen um die eigene Achse rotierenden Glasquader, der nicht nur die Projektionen auf den Bühnenhintergrund bricht und Antigone als Verließ dienen wird. Er ist auch ein Echo aus dem Prolog: „Es ist, als ob die Götter mit uns würfelten.“ Minimalistische Kostümierung: Antigona (Iva Mihalić) in goldgelber Supergirl-Montur, Kreon (Mislav Čavajda) als dunkler Supervillain in schwarzer Ganzkörperbemalung, die in der Umarmung dunkle Flecken auf dem Körper des Sohnes (Filip Vidović) hinterlässt. Noch angeschlagen dominiert Čavajda die Bühne deutlich. Der Chor ist im Publikum verteilt, was gerade in der Verurteilung Antigonas am Ende dem Zuschauer vermittelt, mitten im Kreuzfeuer zu sein, das Volk als die Gewalt zu spüren, die es ist. Und nachdenklich macht, hatte er doch die kroatische Hymne angestimmt, zu Beginn dieser Antigone. Zweimal dann, nicht dreimal: ein Deus ex Machina: Žižek, übermenschlich groß: „Es ist kein Happy End, wenn niemand stirbt.“ Wie weit die Beschreibung Jamal Khashoggis, des ermordeten saudischen Journalisten, als moderner Antigone führt? Den die Welt beklagte, während im Jemen Menschen starben, durch US-amerikanische Waffen? Darüber denkt man länger nach, am Ende dieses nach-heroischen Stückes.

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Geschrieben von

Mladen Gladić

Redakteur Kultur und Alltag

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