Ein Buch, bemerkte Hari Kunzru vor Kurzem in seiner Besprechung zu Masha Gessens Autokratie überwinden (Aufbau 2020) in der New York Review of Books, sei ein langsames Medium. In Zeiten einer Pandemie und weltweiter Proteste gilt das umso mehr. Eine Momentaufnahme also, wie auch diese Videoschaltung zwischen den USA und Deutschland: Was sagt uns Gessens neues Buch über das fragile Jetzt? Und was über die nähere Zukunft?
der Freitag: Masha Gessen, im November diesen Jahres stellt sich Donald Trump zur Wiederwahl als Präsident der USA. Mittlerweile wird auf beiden Seiten des Atlantiks ziemlich laut darüber spekuliert, dass Trump eine Niederlage bei dieser Wahl nicht akzeptieren würde. Sind das realistische Szenarien? Oder ist das unbegründete Panikmache?
Masha Gessen: An solchen Szenarien ist fast nichts spekulativ. Trump hat seine Absichten vollkommen klar gemacht. Er hat über Millionen von Illegalen gesprochen, die 2016 zur Wahl gegangen seien, er hat verrückte Verschwörungstheorien über Wahlbetrug in die Welt gesetzt, obwohl genau das, bei allen Problem, die das US-amerikanische Wahlsystem hat, keines ist, und auch einer seiner Erfüllungsgehilfen, Brian Kemp in Georgia, hat wieder und wieder behauptet, bei der Wahl würde es dazu kommen, dass illegale Einwanderer ihre Stimme abgeben würden. Damit hat Trump rhetorisch die Grundlage für die Verweigerung einer Anerkennung des Wahlausgangs gelegt. Das ist sehr schwer nachzuvollziehen. Ich selbst habe versucht, es in Gedanken so durchzuspielen: Ich habe mir die USA als ein Land vorgestellt, in dem der Staatschef eine Niederlage bei einer Wahl nicht anerkennen würde.
Was würde in so einem Land geschehen?
Wenn wir über andere Länder in einer solchen Situation sprechen, fragen wir: Auf wessen Seite steht das Militär?
Das war auch schon bei Trumps Drohung, das Militär gegen Protestierende einzusetzen, die nach der Ermordung George Floyds auf die Straße gingen, die große Frage. Würde das Militär sich einem Einsatzbefehl des Präsidenten verweigern? Immerhin ist er der Oberbefehlshaber. Und dann haben sich hohe Ränge in der US-Armee gegen einen Einsatz ausgesprochen. Aber gesetzt den Fall, Trump unterliegt im November und akzeptiert das nicht, auf welcher Seite stehen die Streitkräfte dann?
Es gibt eine hypothetische Antwort auf diese Frage. Sie lautet, dass das von der Legitimität des Wahlausgangs abhängt. Die wiederum hängt vom Stimmenvorsprung des Wahlsiegers ab. Wenn Trump mit dem selben winzig kleinen Rückstand verliert, mit dem er 2016 im Vorsprung lag, dann stecken wir in sehr, sehr großen Schwierigkeiten. Ich denke, er könnte sich dann dafür entscheiden, die Wahl nicht anzuerkennen, und es könnte zu einer ausgewachsenen militärischen und konstitutionellen Krise kommen. Aber wenn er bei der Wahl mit Millionen von Stimmen im Rückstand liegt, dann werden ihn uniformierte Sicherheitskräfte aus dem Oval Office eskortieren.
Sie schreiben, dass sich 2016 „die besiegte Mehrheit“, die Clinton gewählt hatte, in zwei Lager zu spalten schien, „die sich nur im Grad ihrer Panik unterschieden“. Zu denen, die weniger panisch reagierten, gehörten die unterlegene Präsidentschaftskandidatin selbst, die davon sprach, dass man Trump „Aufgeschlossenheit“ und die Chance, das Land zu führen, schulde. Sie betonte auch, dass die friedliche Übergabe von Macht in den USA konstitutionell verankert sei. Ganz ähnlich Barack Obama, der scheidende Präsident, der schon vor dem Wahlabend darüber sprach, dass unabhängig vom Wahlausgang die Sonne auch auch am nächsten Tag wieder aufgehen würde. Hätte Clinton und Obama weniger auf ein business as usual setzen sollen, hätten sie weniger Normalität kommunizieren sollen, und panischer reagieren müssen?
Ich kann weder in Barack Obamas noch in Hillarys Kopf hineinschauen, deshalb weiß ich nicht, ob sie wirklich in Panik waren oder ob sie dachten, es würde alles gut werden. Es ist denkbar, dass Obama, der die Trägheit der amerikanischen Institutionen kennt, tatsächlich zuversichtlich war, dass Trump von diesen Institutionen in Schach gehalten werden würde. Ich habe noch nicht darüber nachgedacht, aber wir alle haben ja eine sehr eigene Sichtweise auf die Welt. Und die meisten von uns haben Erfahrungen mit der Arbeit in Institutionen, die extrem träge reagieren. Ich glaube, dass Obama diese Erfahrung, und zwar eine ziemlich traumatische Erfahrung, acht Jahre lang gemacht hat. Es hätte für ihn sehr viel erfordert, sich Trumps Unempfindlichkeit gegenüber dieser Trägheit vorstellen zu können. Er ging ja vermutlich davon aus, dass Trump ein Mensch genau wie er selbst ist. Was er nicht ist. Es ist möglich, dass er keine Panik verspürte. Es ist aber auch möglich, dass er welche verspürte, es aber als seine präsidiale Pflicht ansah, eine Art Normalität und die Erwartung einer geordneten, friedlichen Machtübergabe nicht zu enttäuschen. Und ich habe großen Respekt davor. Es ist ein wesentlicher Teil der amerikanischen Tradition. Und in gewisser Weise gleicht dieses Dilemma, in dem er sich befand, dem Dilemma heutiger Journalisten, wie ich es in meinem Buch beschreibe.
Da beschreiben Sie, wie alles, was Journalisten über Trump äußern, zu einer Normalisierung seines Tuns führt. Was auch daran liegt, dass es Respekt verlangt, über den Präsidenten zu berichten. Respekt, den dieser Präsident zwar nicht verdient, wohl aber sein Amt.
Ganz gleich, was Sie tun, Sie tragen zum Schaden bei. Hätte Obama gesagt: „Wir stehen am Rande eines Abgrundes, lasst uns politisch mobilisieren, lasst uns Widerstand leisten“, dann hätte er zum Schaden beigetragen.
Und eine bürgerkriegsähnliche Situation heraufbeschworen?
Zumindest hätte das eine Missachtung einer der wichtigsten Institutionen der Demokratie, der friedlichen Machtübergabe, bedeutet.
Sie beschreiben Trump als aufstrebenden Autokraten und beziehen sich auf den ungarischen Theoretiker und ehemaligen Minister Balint Magyar. Der beschreibt das postkommunistische Ungarn als „Mafia-Staat“. Der erste Schritt zur Etablierung einer Autokratie ist für Magyar der „autokratische Versuch“. Dem folgt der autokratische Durchbruch, was schließlich zur autokratischen Konsolidierung führen kann. Sie scheinen optimistisch zu sein, dass die Trump-Präsidentschaft immer noch eine Autokratie der ersten Stufe ist. Was macht Sie da so sicher?
Magyar ist wahrscheinlich, von allen lebenden Denkern, mein absoluter Favorit. Er hat mir unglaublich geholfen, sowohl mit seiner Terminologie als auch dadurch, wie er über Sprache nachdenkt. Er beschreibt, wie wir versucht haben, die Zeit nach dem Zusammenbruch des Kommunismus in der Sprache der liberalen Demokratie, und das ist ja die Sprache der Politikwissenschaft, zu beschreiben: freie und faire Wahlen und Pressefreiheit, individuelle Freiheiten. Aber wenn wir über ein ganz anderes Tier sprechen, ist diese Sprache nicht sehr nützlich. Magyar hat also diese sehr detaillierte Taxonomie der postkommunistischen Autokratien aufgestellt. Und ich habe mir sein Modell geliehen, mit dem vollen Verständnis, dass man nicht einfach ein postkommunistisches Modell nehmen und es auf die USA übertragen kann. Aber gleichzeitig ist es ein besseres Modell als das, was wir im Moment haben Also versuche ich, es sehr vorsichtig anzuwenden. Ich bin ja kein Politologe, sondern Journalist, ich kann mit manchen Dingen lockerer umgehen. Das erste Stadium der Autokratie ist eines, in dem es noch möglich ist, den autokratischen Versuch mit Wahlmitteln rückgängig zu machen. Nun würde ich das im Falle der USA wahrscheinlich etwas ausweiten und sagen: durch institutionelle Mittel.
Wenn Trump also nach einer Niederlage bei der nächsten Wahl aus dem Amt eskortiert wird, weil er seine Niederlage nicht anerkennt ...
... ich habe eher gedacht: Wenn das Impeachement-Verfahren erfolgreich gewesen wäre. Die Tatsache, dass eine Amtsenthebung plausibel war, ist ein Hinweis darauf, dass wir uns immer noch im Stadium des autokratischen Versuchs befinden. Es ist gescheitert, auch weil dieser Versuch schon weit fortgeschritten ist und Trump sich ein Beinahe-Monopol der politischen Macht geschaffen hat. Dies ist eines der Warnzeichen bei Magyar: Parlament, Exekutive und Gerichte werden von ein und derselben politischen Partei kontrolliert. In den USA kann das zwar auch ein ganz normaler Zustand sein, doch mit einem aufstrebenden Autokraten im Präsidentenamt wird das extrem gefährlich. Wenn ich sage, dass wir uns in der Phase eines autokratischen Versuchs befinden, dann sage ich nicht, dass dieser Versuch notwendigerweise an einer Wahl scheitern wird. Aber ich denke, dass dies mit einem ausreichend großen Vorsprung des Herausforderers um das Präsidentenamt möglich ist. Es wird also keine reguläre Wahl werden im November, ganz anders als die Wahl vor vier Jahren. Aber trotzdem wird es eine Wahl sein, die Konsequenzen haben kann.
Es ist bis jetzt auch kein reguläres Wahljahr. Wir haben die Covid-19-Pandemie nicht überwunden und die USA befinden sich noch mittendrin. Dann gab es die landesweiten Proteste, ausgelöst durch den Mord an George Floyd durch Polizisten. Liegt in diesen Krisen auch ein Potential, die Dinge zum Besseren zu wenden?
Es ist ein Gemeinplatz, dass Krisen auch Gelegenheiten darstellen. Ich glaube, wir haben das beim „Trump’schen Moment“ gesehen, der auf seine Weise eine politische Krise ist, wir haben es bei der Corona-Pandemie gesehen. Und wir haben es jetzt bei den Protesten gesehen. Zum Beispiel, dass Ideen, die vorher marginal waren, in den Mittelpunkt rücken. Mit großer Geschwindigkeit. Etwa die Idee einer universellen, staatlich finanzierten Gesundheitsversorgung, die Idee der Wiederherstellung des Wohlfahrtsstaates und des universellen Grundeinkommens: Das waren völlig marginale Ideen. Zwei Wochen nach Beginn des Lockdown waren sie politischer Mainstream. Der Kongress hat im Frühjahr 2020 ein für US-amerikanische Verhältnisse unfassbar progressives Paket verabschiedet. Dass das Hilfspaket den Menschen tatsächlich mehr Geld bringt, als sie unter regulären Bedingungen der Arbeitslosigkeit erhalten hätten, war für die USA unglaublich. Es ist nicht erneuert worden, so dass wir wirklich schlimme Folgen zu erwarten haben, aber es war dennoch ein Moment der klaren politischen Chance.
Und die Proteste?
Manche wollen jetzt die Polizei reformieren, manche wollen sie sogar abschaffen und viele wollen ihr die Finanzierung zusammenstreichen. Etwas, wovon die meisten Menschen vor zwei Wochen noch nicht einmal gehört hatten, ist zum Hauptthema der politischen Diskussion geworden und wird wahrscheinlich von der Mehrheit der Menschen eher befürwortet als abgelehnt. Es ist ein unglaubliches Umdenken. Es ist noch zu früh, um zu wissen, ob das nachhaltig ist. Manchmal sieht man diese Art von politischer Verschiebung, und dann bildet sie sich gleich wieder zurück. Ich habe über erfolgreiche Revolutionen berichtet und über gescheiterte Revolutionen.
Was ist Ihre Meinung zur Abschaffung der Polizei? Sie sprechen viel von der Gefahr, die die Autokratie für die Institutionen darstellt. Sind Sie mit der Abschaffung der Polizei als Institution einverstanden?
Wenn ich von Institutionen spreche, dann in erster Linie deshalb, weil ich denke, dass der Glaube der Amerikaner an Institutionen fehl am Platze ist, weil er religiöse Aspekte aufweist. Ich bin nicht gegen Institutionen an sich, aber ich bin kein Institutionalist. Und ja: Ich stehe der Abschaffung der Polizei sehr wohlwollend gegenüber. Ich denke, in einem amerikanischen Kontext ist die Idee unglaublich produktiv, denn ich glaube, die Amerikaner haben sich seit langer Zeit nicht mehr mit einer grundlegenden politischen Idee dieser Art beschäftigt. Es geht um die Frage, wie wir zusammenleben. Die meisten amerikanischen Städte sind im Grunde genommen dazu da, ihre Polizei aufrechtzuerhalten. Nicht andersherum.
Wie kommt’s?
Die Polizei ist der einzige große Haushaltsposten in fast jedem städtischen Haushalt. Und das sind nicht 40 Prozent. Der größte Teil der kommunalen Haushalte entfällt auf’s Polizei-Bugdet. Das gesamte Steuersystem und die Verwaltung erfüllen also eigentlich eine polizeiliche Funktion. Und es stellt sich die Frage: Leben wir deshalb zusammen? Tun wir uns deshalb zusammen und bündeln unsere Ressourcen, um das Gewaltmonopol des Staates zu ermöglichen? Das ist eine grundlegend politische Frage. Und ich hoffe, wir sind in der Lage, sie zu beantworten, indem wir sagen: Nein, eigentlich ist es nicht das, wofür wir uns zusammentun.
Wofür dann?
Wir tun uns zusammen, damit wir besser leben können. Um unseren Kindern eine Ausbildung zu ermöglichen. Um den Müll zu aufzusammeln und schöne öffentliche Räume zu schaffen. Und wir wollen auch die Ordnung in diesen öffentlichen Räumen aufrechterhalten. Aber das ist eine zweitrangige Funktion unserer Politik.
51 Millionen Menschen werden wahrscheinlich immer noch für Trump stimmen. Die würden sich jetzt wahrscheinlich ausgeschlossen fühlen, wenn sie hören, wie Sie „wir“ sagen. Was ist mit denen?
Ich habe ein begrenztes Interesse an deren Idee eines "wir". Was mich aber sehr interessiert, ist die Art und Weise, wie Trump es geschafft hat, die amerikanische Idee dieses „wir“ zu verändern. Neulich sagte ich zu David Remnick, dem Chefredakteur des New Yorker, dass Trump unser erster, nativistischer, weißer, suprematistischer Präsident sei. Und David sagte: „Sekunde, wir hatten schon viele rassistische Präsidenten. Viele weiße, suprematistische Präsidenten.“ Ja, das hatten wir, aber wir hatten, soweit ich weiß, keinen, der versucht hätte, einen Nationalstaat zu schaffen. Der hat hier nie existiert. Wir haben vor Trump nie über die USA als belagerte Nation gesprochen, als Festung. Die Erzählung, die so fehlerhaft ist wie jede Mythologie, war immer: Wir sind eine Nation von Immigranten. Ich glaube, die Grundlage dafür wurde in den 15 Jahren zwischen 9/11 und der Wahl von Trump gelegt. Das hat seine Wahl möglich gemacht hat, aber er hat das alles verstärkt, indem er diese Idee von einer Einwanderernation aus dem kollektiven Gewissen herausgestrichen und gesagt hat: Wir sind eine weiße, konservative Nation, die sich um den Schutz unserer Grenzen und unseres Weißseins dreht.
Es war also schon vor Trump einiges im faul. Dahin kann man nicht zurück?
Es gibt immer noch diese sehr populäre Vorstellung, vor allem im Establishment der Demokratischen Partei, dass alles in Ordnung war, bis diese unerklärliche Anomalie eintrat. Und da kommt natürlich Russland ins Spiel: Der Grund, warum wir Trump gewählt haben, ist, dass sich die Russen eingemischt haben. Das ist eine Erzählung, die diesen Mythos der großen Normalität vor Trump stützt. Mein Argument dagegen ist: Die Amerikaner haben Trump gewählt. Und die Amerikaner haben Trump gewählt, weil diese Normalität vor Trump für sie nicht funktioniert hat. Was nicht den Anschein erwecken sollte, als hätten nur Menschen aus der Arbeiterklasse Trump gewählt. Seine Wähler waren oft weiße Menschen aus der Mittelschicht, die ihr Weißsein schützen wollen und extremen wirtschaftlichen Ängsten ausgesetzt sind. Man muss nicht arm sein, um wirtschaftliche Ängste zu haben. In den USA kann man wahrscheinlich noch größere wirtschaftlich Ängste verspüren, wenn man wirtschaftliche Status zu verlieren hat. Das ist der Normalzustand, bei extremer Ungleichheit, bei extremem Mangel an jeglicher Art von Sicherheit. Eine Normalität, zu der wir nicht zurückkehren könne, denn sie war es, die uns Trump gebracht hat. Die Corona-Krise hat die Ungleichheit verstärkt, sie hat die Unsicherheit verstärkt. Sie hat uns allen vermittelt, wie schutzlos wir sind.
Wie kann man diese Situation als Chance begreifen?
Ich gebe Ihnen ein lustiges Beispiel aus meinem persönlichen Leben. Wir waren in Quarantäne, als die Fahnen für das Buch kamen. Ich sah sie mir an und sagte „Oh mein Gott, das ist wie eine Botschaft aus der Vergangenheit!“ Das Buch begann mit dem Impeachment, und es fühlte sich an, als sei das in einem anderen Universum geschehen. Ich war verzweifelt und sprach mit meinem Redakteur. Der gab mir zwei Tage, um das Buch zu überarbeiten. Und meine Freundin sagte zu mir: „Wir erfinden doch jetzt alle möglichen Arten und Weisen, Dinge anders zu machen als früher. Sag ihnen, sie die Druckausgabe verschieben." Wir hatten also diesen Streit, oder diese Diskussion, und ich sagte, dass wir gar nichts Neues erfinden. Wir erfinden nur Möglichkeiten, wie wir das tun können, was wir immer getan haben. Nur, dass wir dabei keine Hosen mehr tragen! Hier gibt es nichts Neues! Keine Hosen und keine BHs, aber abgesehen davon .... Für mich ist es ein nützliches Bild: Machen wir die alten Sachen einfach ohne Hosen, oder werden wir neue Wege finden, die Dinge anzugehen?
Wie würde das aussehen?
Vielleicht etwas langsamer. Ein Beispiel aus dem Alltag: Ich war während des Lockdowns so glücklich, keine Geschäftsessen mehr zu haben. Ich steige stattdessen jeden Tag auf mein Fahrrad, treffe mich mit jemandem und wir hängen im Park ab. Und der einzige Grund, warum wir dort sind, ist, miteinander zu reden. Das ist ein sehr kleiner Versuch einer Neuerfindung, aber ich hoffe sehr, dass wir daran festhalten werden. Aber was wird zum Beispiel mit der Bildung geschehen, die von dieser Pandemie so schwer getroffen wurde? Werden die Universitäten zu dem Schluss kommen, dass sie dem Lehrkörper jetzt weniger für's Unterrichten bezahlen können, nur damit sie ihre Räumlichkeiten vermieten können? Oder werden sie selten zu dem Schluss kommen, dass es Möglichkeiten gibt, Bildung für alle zugänglicher zu machen?
Das wäre die wünschenswertere Lehre aus der Krise.
Natürlich, aber Sie können aus allen Erfahrungen, die wir bereits gemacht haben, diese Schlussfolgerungen ziehen. Folgen wir der vor der Pandemie herrschenden Logik des Kapitalismus im Endstadium und tun deshalb das Gleiche, ohne Hosen zu tragen, oder werden wir eine neue Logik entdecken, wenn wir sehen, wie vernetzt und abhängig wir sind?
Auch die Proteste nach der Ermordung von George Floyd sind vernetzt, und das weltweit. Wie empfinden Sie es, wenn Menschen in Berlin auf die Straße gehen, als wären es die Straßen von Minneapolis?
In den USA sind wir uns bewusst darüber, dass diese Proteste überall auf der Welt stattfinden, aber es ist sehr schwer, sich darüber klar zu werden, warum. Meine Vermutung ist, dass sie uns daran erinnern sollen, wie zentral die USA weiterhin kulturell in der Welt sind und welch große Verantwortung auf uns lastet. Es wäre wirklich großartig, wenn das die Amerikaner dazu bringen würde, ein wenig darüber nachzudenken, welchen Anteil die Welt an der amerikanischen Politik nimmt. Denn wissen Sie, diese Rhetorik der Wahlbeeinflussung, die ich unglaublich lästig finde, geht auf die Gründerväter zurück. Dies hier war eine sehr kleine, unabhängige Nation, die Angst vor mächtigen fremden Ländern hatte, und wir setzen diesen Weg fort, während wir die Welt regieren. Ganz zu schweigen von den Auswirkungen, die die USA auf das Klima des Planeten haben. Daher haben Deutsche und Neuseeländer natürlich ein Interesse am Ausgang der amerikanischen Wahlen und an den Ergebnissen der politischen Kämpfe hier.
Zur Person
Masha Gessen, geb. 1967 in Moskau, wurde mit Büchern wie Der Mann ohne Gesicht: Wladimir Putin. Eine Enthüllung (2012) und Der Beweis des Jahrhunderts. Die faszinierende Geschichte des Mathematikers Grigori Perelman (2013) bekannt. Gessen schreibt für das Magazin The New Yorker, lehrt am Amherst College und lebt in New York
Was ist Ihre Meinung?
Kommentare einblendenDiskutieren Sie mit.