Wirkung first

Interview Manuela Schwesig ist Patin einer Homöopathentagung. Alles Placebo, oder was? Martin Andree findet das nicht schlimm
Ausgabe 22/2019

der Freitag: Herr Andree, Ex-Familienministerin Schröder kritisiert Manuela Schwesig dafür, dass sie die Schirmherrschaft für eine Stralsunder Homöopathentagung übernommen hat, die heute beginnt. Schröder meint, dass Homöopathie einen „Eintritt in ein unaufgeklärtes Weltbild“ darstellt. Wie kommt sie drauf?

Martin Andree: Wahrscheinlich setzt sie Aufklärung gleich mit evidenzbasierter Medizin. Hier müssen sich Therapien gegen bloße Placebo-Effekte profilieren. Das ist aber nicht der letzte Stand der Aufklärung.

Das ist selbst unaufgeklärt?

Placebo-Effekte werden als Residualgröße, als Nebeneffekt, betrachtet und nicht als positive Methode, um Krankheiten zu therapieren. Doch die erheblichen therapeutischen Potenzen von Placeboeffekten sind in sehr vielen empirischen Studien bewiesen worden.

Was genau ist ein Placebo?

Es geht um Therapien, die leer sind, also keinen pharmakologischen Aktivstoff enthalten und trotzdem wirken.

Welchen Anteil haben Placebo-Effekte überhaupt an medizinischen Therapien?

Man kann von circa 25 bis 40 Prozent ausgehen. Das zeigt zugleich auch die deutlich stärkere Wirkung des Verums. Aber es ist ja statistisch kein kleiner Effekt, wenn etwa ein Drittel aller therapeutischen Effekte auf Placebo-Effekte zurückgehen. Und das auch in schulmedizinischen Therapien.

Verführt eine solche Zahl nicht dazu, zu denken, dass Placebos bei allen Krankheiten gleich gut funktionieren?

Das tun sie keinesfalls. Es ist ein erheblicher Fortschritt in der Forschung, dass man sehr genau differenzieren kann, wo Placebo-Effekte gut funktionieren und wo nicht. Das richtet sich auch gegen den typischen Einwand, man könne Krebs eben nicht durch Homöopathie heilen.

Kann man nicht, oder?

Nein. Man kann Krebs so auch nicht therapieren. Aber selbst bei Krebs können Placebo-Effekte Symptomminderung bewirken.

Schmerzen lindern?

Genau. Auf der anderen Seite gibt es Krankheiten, wo Placebo-Effekte sehr stark wirken, Herz-Kreislauf-Erkrankungen etwa, Immunerkrankungen und, sehr bemerkenswert, Parkinson. Obwohl es sich um ein ‚hartes‘ Krankheitsbild handelt, lassen sich massive Effekte von Placebos messen, die sich etwa in signifikanter Abnahme körperlicher Beschwerden wie Gliederschütteln manifestieren.

Sie beschreiben Placebo-Effekte als semantische Effekte, die therapeutisch oder heilend wirken.

Das war der Grundgedanke meines Buchs: Wenn in Placebos kein Wirkstoff enthalten ist, kann man bei Placebo-Therapien alle semantischen oder informationellen Aspekte einer Therapie in Reinform beobachten. Hier wirkt das Zeichen der Vergabe des Medikaments, die Figur des Arztes, die Requisiten und andere Kontexte, etwa die Praxis und die ärztlichen Anweisung.

Wirken eigentlich teure Placebos besser als billige?

Da kommt etwas zum Tragen, was man Preisschmerz nennen kann. Das symbolische Opfer der Bezahlung fördert die Heilung.

Die ist aber doch letztlich alles sowieso nur Einbildung, oder?

Nein, natürlich nicht. Solche Formulierungen ärgern mich immer wieder. Gerade neurowissenschaftliche Studien haben zeigen können, dass die Reaktionen des Körpers auf Placebo-Effekte ähnliche biophysiologische Effekte auslösen wie echte Medikamente.

Paracelsus meinte, dass Farne gegen Stichwunden helfen, weil ihre Blätter durchstochen sind. Hildegard von Bingen empfahl roten Beifuss als blutungsfördernd, weißen hingegen als blutungsstillend. Lebt ein solches Denken in Sympathien, Korrespondenzen und Ähnlichkeiten in heutigen Naturheillehren fort?

Dieses Ähnlichkeitsdenken bewirkt bis heute Placebo-Effekte, etwa bei der Farbgebung von Medikamenten. Rote Arzneimittel werden tendenziell als stimulierend empfunden, blaue oder grüne sollen beruhigende Wirkung haben. Es gibt eine Anzahl von Codes, die offenbar intuitiv richtig eingesetzt werden, um die Medikamentenwirkung zu verbessern. Sie können auch Vergabemittel auf ihre Placeboeffekte hin testen und feststellen, dass mehrere Tabletten stärker wirken als eine, Kapseln stärker als Tabletten, Spritzen stärker als Kapseln. Somatisch gesehen absurd, weil ja in keinem Fall dem Körper ein Wirkstoff zugefügt wird.

Mit der Homöopathie assoziert man ja auch sofort ein „Zurück zur Natur“.

Die Ganzheitlichen würden sich immer nach dem Ursprung sehen. Aber die Vorstellung von Ganzheitlichkeit kann auch bedrohlich sein. All das, was der Schulmedizin vorgeworfen werden kann, die Rationalisierung der Krankheit durch Experten, die nur auf ihr Gebiet spezialisiert sind und dafür auch hochspezialisierte Apparate einsetzen, kann bei Patienten sehr starke positive Placebo-Effekte auslösen. Denn damit grenzt man die Krankheit ein und macht sie kontrollierbar. Es erscheint so eben auch nicht der ganze Mensch als krank.

Man hört hier eine Skepsis der Homöopathie gegenüber heraus.

Ich würde selber nie zum Homöopathen gehen, weil ich das Narrativ nicht glaube, etwa dass die Wirkung bei Verdünnung des Inhaltsstoffs steigt; ich persönlich würde die Illusion hochkonzentrierter Wirkstoffe bevorzugen. Aber auch wenn ich noch nie beim Homöopathen war, haben mich als Wissenschaftler die starken, messbaren Placeboeffekte von Homöopathie beeindruckt. Und dann kann man sich gleich die Anschlussfrage stellen: Wie soll man denn sonst durch Narrative und Storyteling Patienten heilen, wenn Placebos in der „normalen“ Medizin verboten sind?

Das sind sie?

Ärzte dürfen ihre Patienten nicht über Therapien täuschen. Ich glaube aber schon, dass viele Ärzte über ihre Laufbahn hinweg die Wirkung von Placebos erfahren, weswegen eine hohe Dunkelziffer belegt ist. Viele greifen auch auf Pseudoplacebos zurück, verschreiben Vitamine oder ein pflanzliches Präparat, um damit bei Patienten die Suggestion zu erzeugen, dass das einen positiven Einfluss auf die Beschwerden nimmt, die sie haben. Die Praxis der Medizin ist hier also eigentlich schon intelligenter als ihre offizielle Selbstbeschreibung.

Das finden Sie problematisch?

Ich finde es inkonsistent, dass man ideologisch gewachsene alternative Heilmethoden als Placebos benutzen darf, aber dasselbe in der klassischen Medizin verboten ist. Ich glaube, dass dieser innere Widerspruch so fundamental ist, dass der in der Zukunft zu wichtigen Revisionen unserer Epistemologie der Heilung führen wird.

Die Schulmedizin könnte somit von der Homöopathie lernen?

Sie könnte den Teil ihrer Therapie, der schon jetzt auf Placebo-Effekten beruht, bewusst zum Wohl des Patienten einsetzen und auch aktiv optimieren und ausbauen. Der Aspekt etwa, dass Heiler aus dem Bereich der alternativen Heilmethoden wahrscheinlich mehr Zeit mit ihren Patienten verbringen, ist einer, den man von diesen Heilmethoden assimilieren könnte. Der therapeutisch positive Effekt der Zuwendung des Arztes als symbolischer Figur wird ja auch in der Schulmedizin nicht geleugnet. Eine Therapie zum Wohl des Patienten müsste also die somatischen und die semantischen Aspekte besser gegeneinander abwägen und kombinieren. Das kann man sicher auch als Kosten-Nutzen-Relation durchrechnen. Viele Ärzte fänden es ja auch wahrscheinlich gut, wenn sie mehr Zeit mit ihren Patienten verbringen könnten.

Man bräuchte also auch mehr Ärzte?

Möglicherweise. Vielleicht könnte man auch woanders Kosten sparen. Placebos sind sehr günstig in der Herstellung.

Und weil sie keine Chemie enthalten, haben sie keine Nebenwirkungen?

Nein, auch Placebos haben Nebenwirkungen.

Das klingt absurd.

Klingt es, ist es aber nicht. Da Nebenwirkungen von klassischen Medikamenten gelernt sind, geht es hier um Konditionierungseffekte. Es werden also Nebenwirkungen beobachtet, die aus dem Symptompool der klassischen Medikation bekannt sind. Man sieht auch daran, dass die Wirkungsmacht von Placebos unsere Vorstellungskraft übersteigt und wir uns eigentlich viel, viel intensiver mit ihnen auseinandersetzen müssten.

Zur Person

Dr. Martin Andree ist Medienwissenschaftler und unterrichtet an der Uni Köln. Er hat vier Bücher über verschiedene Formen von Medienwirkungen veröffentlicht. Sein Buch Placebo-Effekte. Heilende Zeichen, toxische Texte, ansteckende Informationen ist Ende 2018 bei Fink (461 S., 49,90 €) erschienen

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