Ein und dasselbe Geschrei

Geschlechtszuschreibungen Eine neue Studie zeigt, wie Menschen sogar dort Geschlechtsunterschiede hineininterpretieren, wo gar keine wahrnehmbar sind – in die Schreie von Säuglingen
Ausgabe 20/2016
Andere Außenzuschreibung: In Japan soll ein Schrei-Ritual das Baby gesund halten
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Foto: Toshifumi Kitamura/AFP/Getty Images

Es beginnt schon am ersten Tag: Geschlechtszuschreibungen prägen ein Menschenleben von Beginn an. Säuglinge mit Zipfelchen zwischen den Beinen bekommen im Krankenhaus ein blaues Namensbändchen, Säuglinge ohne Zipfel ein rosafarbenes: Mädchen werden öfter als süß, Jungen öfter als Racker bezeichnet. So weit, so bekannt. Gern wird die unterschiedliche Behandlung auf biologisch bedingte Unterschiede zurückgeführt, so erst kürzlich wieder im Wissensressort der Süddeutschen Zeitung – Mädchen sind eben anders als Jungs, Männer anders als Frauen, deshalb ist es nur logisch und richtig, unterschiedlich mit ihnen umzugehen.

Eine Studie des britischen Journals BMC Psychology zeigt nun, dass Erwachsene sogar dort Geschlechtsunterschiede hineininterpretieren, wo es gar keine gibt – nämlich in das Geschrei von Säuglingen. Männer haben ja eine tiefere Stimme als Frauen, dann muss das bei Kindern doch auch so sein. Oder etwa nicht? Nein, sagt das Forscherteam. Bis zur Pubertät, wenn die Jungen in den Stimmbruch kommen, unterscheidet sich die Grundfrequenz von Jungen und Mädchen nicht.

28 Säuglinge haben die Forscher beim Schreien aufgenommen, 15 männliche, 13 weibliche. Das Team verglich die Schreie und konnte keine geschlechterspezifischen Unterschiede in der Tonhöhe finden. Die erwachsene Zuhörerschaft, der die Schreie vorgespielt wurden und die das Geschlecht bestimmen sollte, hörte aber vermeintliche Unterschiede heraus. Höhere Schreie ordneten sie Mädchen zu, tiefere Jungen. Sie lagen damit in 60 Prozent der Fälle richtig, nur knapp über der Zufallsquote von 50 Prozent.

Zusätzlich untersuchten die Wissenschaftler, welche Aussagen Erwachsene über die Männlichkeit oder Weiblichkeit treffen, wenn ihnen das Geschrei eines mutmaßlichen Jungen oder Mädchens vorgespielt wird. Die Ergebnisse bestätigen tradierte Geschlechterklischees: Wurde den Probanden gesagt, ein Kind mit hoher Stimme sei männlich, wurde es als weniger maskulin eingeschätzt, ein weibliches Kind mit hoher Stimme hingegen als sehr feminin. Vor allem männliche Zuhörer werteten hohe Schreie bei Jungen deutlich häufiger als Zeichen geringerer Männlichkeit.

Das könnte die Entwicklung der Geschlechtsidentität von Kindern beeinflussen, schreiben die Wissenschaftler. Fakt ist jedenfalls: Menschen neigen dazu, Phänomene willkürlich zu interpretieren. Und das gilt nicht nur für Babygeschrei.

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