Was man heute vom Mauerfall lernen kann

Mauerfall Wenn der Mauerfall auch in Zukunft noch eine zentrale Bedeutung haben soll, muss er mehr sein als nur die Aufarbeitung des Erbes der SED-Diktatur

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Wer sich mit der akademischen Literatur zur „Übergangsjustiz“ (transitional justice) befasst, der weiß, dass verschiedenen Generationen andere Rollen bei der Aufarbeitung der Geschichte zukommen. Für mich persönlich, geboren im Jahr 1987, ist die DDR selbstverständlich ein Unrechtsstaat (auch wenn dieser spezifische Satz mittlerweile eher politische Hygiene als analytische Fähigkeiten bescheinigt). Wo politische Opposition lebensgefährlich oder existenzbedrohend ist, dort gibt es nichts zu rechtfertigen oder zu relativieren, nicht nur weil viele Tausende von Menschen persönliche Konsequenzen tragen mussten (so wie die Mauertoten oder politischen Flüchtlinge), sondern auch weil in einem solchen System der Repression das ganze Ausmaß der Ungerechtigkeit niemals ganz zu Tage kommen kann, selbst nach seinem Zerfall nicht. Versuche die DDR in gewissen Hinsichten zu relativieren, egal ob nun faktisch gerechtfertigt oder nicht, spiegeln in meinen Augen zuallererst eine gewollte oder ungewollte Ignoranz der dortigen Machtverhältnisse wider. Und sie sind daher eigentlich immer ein Schuss nach hinten.

Andererseits ist die DDR und der (nicht mehr) real existierende Sozialismus trotz allen Unrechts nicht das Thema unserer Zeit und meiner Generation. Georg Diez schreibt in einem sonst sehr guten Artikel bei Spiegel Online, dass „der Kapitalismus, nicht der Sozialismus”, heute das Problem wäre. Diese Aussage ist in diesem Zusammenhang leider zu plakativ. Es geht nämlich nicht ganz einfach um rechts oder links, sozusagen um eine Umkehr in der Rollenverteilung der politischen Lager. Vielmehr sind es die politischen Themen unserer Zeit, die Jugendarbeitslosigkeit und die Klimaerwärmung, die neuen Flüchtlingsströme und die Zukunft der Europäischen Union, die man in Bezug zum Mauerfall setzen sollte. All diese Fragen existieren für Linke, Konservative und Liberale gleichermaßen. Zum Jahrestag aber wird die Debatte, nicht zuletzt durch die Aussagen von Bundespräsident Joachim Gauck, auf Themen wie die allgemeinen Legitimität von linken Ministerpräsidenten oder Versuche des Geschichtsrevisionismus gelenkt. Diese Aspekte sind, bei allem Respekt, nicht jene, die mich bewegen. Des Bundespräsidenten Mauerfall scheint nicht mein Mauerfall zu sein.

Warum sind „Grenzzauntote” anders als Mauertote?

Das heißt natürlich nicht, dass das Ereignis für Nachgeborene wie mich irrelevant ist. Ganz im Gegenteil. Es bedeutet aber schon, dass meine Assoziationen sich von denen der „Generation Gauck” unterscheiden. Ein Beispiel für den bereits tobenden Kampf um die Deutungshoheit der Wende ist die Aktion des „Zentrums für politische Schönheit”, welche zum 25. Jahrestag die Berliner Mauerkreuze abmontiert und an die EU-Außengrenzen gebracht hat, um auf die dort unmenschlichen Verhältnisse aufmerksam zu machen. Aber trotz Lampedusa und anderer menschlicher Tragödien auf dem Mittelmeer stößt die Aktion allgemein auf wenig Verständnis, nicht zuletzt weil für viele der Vergleich zwischen „der Mauer” und den heute bestehenden „EU-Grenzzäunen” illegitim ist. Der „Missbrauch” der Mauerkreuze ist daher von diesem Blickwinkel aus gesehen „blanker Zynismus”, wie Bundestagspräsident Norbert Lammert in vernichtendem Ton sagt.

Natürlich kann man gegen die Aktion des „Zentrums für politische Schönheit” sein, aber eine Frage stellt sich dann doch: warum ist es dermaßen inakzeptabel eine geschichtliche Parallele zwischen den zwei Grenzpolitiken zu ziehen? Warum reicht als Begründung für eine Unterscheidung, dass ihre Funktionen nominell nicht die gleichen waren bzw. sind, da man in der DDR ein-, und in der EU heutzutage lediglich (?) ausgesperrt wird? Das Leid und das Unrecht, das Flüchtlinge aus Ländern wie Syrien, Somalia oder Eritrea zur Migration treibt, ist sicherlich nicht geringer als das der damaligen DDR-Bürger. Die schockierenden Konsequenzen der Abschottung sind auch die gleichen, Tod und Folter inbegriffen. Ist der Unterschied vielleicht, wie man so oft hört, dass wir schlichtweg nicht die Mittel haben, alles Leid dieser Welt bei uns zu mildern? Also lieber ein paar tausend „Grenzzauntote” statt innenpolitischer Probleme? Diese Rechtfertigung erinnert stark an die SED-Rhetorik vom „antifaschistischen Schutzwall“ und den ideologischen Widerwillen, sich das eigene Scheitern im Hinblick auf die Realität einzugestehen. Die Mauer und die Grenzzäune, beides nichts als eine bedauerliche Notwendigkeit eines bestehenden Systems? Mitnichten. Historisch besonders verstörend sind dabei Aussagen, dass die bestehende Grenzpolitik ja den „Braindrain“ in den Herkunftsländern verhindern würde.

Pluralismus und die Heimatlosigkeit der politischen Linken

Eine andere wichtige Lehre, die sich aus der Wende und dem Zusammenbruch des Ostblocks generell ziehen lässt, ist die Notwendigkeit einer politisch pluralistischen Gesellschaft. Wo eine Einheitspartei 40 Jahre an der Macht ist, dort ist politischer Umbruch zwangsläufig unerwartet und abrupt (wie man auch am arabischen Frühling sehen konnte). Die Pressekonferenz von Günter Schabowski vom 9.11.1989 ist auch deshalb so legendär, weil der Sturz des Systems paradoxerweise von einem völlig überrumpelten SED-Funktionär offiziell verkündet werden musste. Eine solche Absurdität ist nur in einem Staat möglich, in dem die Exekutive zwar momentan die Macht hält, politische Entwicklungen aber selbst nicht mehr steuern kann. Ohne Pluralismus läuft jede noch so mächtige Staatsgewalt die Gefahr, auf nichts mehr als nur Sand gebaut zu sein.

25 Jahre später scheint der Mauerfall vor allem das Scheitern der SED darzustellen, nicht aber die Notwendigkeit des politischen Pluralismus. Wenn Bundespräsident Gauck die Legitimität der von der Linken geführten thüringer Landesregierung in Frage stellt oder Wolf Biermann die Bundestagsfraktion mit Häme überschüttet, so hilft das vielleicht im längst gewonnenen Kampf gegen die SED, nicht jedoch dem Pluralismus in einer wiedervereinigten Bundesrepublik. Sieben Jahre SPD-Regierung im Zeichen der „Agenda 2010” und die schleichende „Gentrifizierung” der Grünen haben eine ganze Anzahl von politisch Heimatlosen hervorgebracht (nicht zuletzt viele junge Leute), die eigentlich in der Linken ihr politisches Zuhause finden sollten. Doch anstatt die schon länger andauernde Evolution der Linken weg von der SED zu unterstützen, wird eine ganze Partei und damit jede mögliche Entwicklung delegitimiert. Der Pressekompass im Falle Biermann zeigt, dass dies einer Mehrheit der Deutschen gefällt. Aber eine langfristige Schwäche und Zerstrittenheit der politischen Linken sollte prinzipiell selbst Demokraten rechts der SPD nicht recht sein. Die heutige Gefahr für den Pluralismus, wenn wir ihm denn überhaupt noch dieselbe Bedeutung beimessen, ist sicherlich nicht mehr die SED, sondern die anhaltende Politikverdrossenheit.

Europäisches Versprechen oder doch nur deutscher Nationalismus?

Des Weiteren muss man die Frage stellen, welche Mentalität und welche Interessen den politischen und wirtschaftlichen Kraftakt der Wiedervereinigung möglich gemacht haben. Die Siegermächte, allen voran Frankreich und Großbritannien, waren bekanntlich nicht davon überzeugt, dass eine größere Bundesrepublik wirklich wünschenswert und nicht vielleicht doch zu dominant sein würde. Die friedliche Wende und die darauffolgende europäische Integration anderer ehemaliger Ostblockstaaten schienen solche Bedenken fast vollständig zu entkräften. Die deutsche Wiedervereinigung, so sieht es auch das heutige deutsche Selbstverständnis, ist nicht einfach das Resultat nationaler Solidarität, sondern einer klaren europäischen Vision. Das heißt auch, dass es ohne das gesamteuropäische Projekt die Wende in der Form niemals gegeben hätte. Der Mauerfall ist nicht nur der Sieg von Demokratie über Diktatur, sondern auch von Europäismus über das andere „Gespenst” der europäischen Geschichte, den Nationalismus.

Für eine junge Generation, die Europa nicht nur träumt, sondern tagtäglich auch lebt, ist dieser zweite Aspekt nicht weniger wichtig als der erste. Wenn die Wende mehr bleiben soll als nur eine Erfüllung nationaler Aspirationen, als ein Ereignis durch das, wie AfD-Chef Bernd Lucke suggeriert, „die einzelnen Staaten“ des Kontinent „wieder souverän” wurden, dann muss sie auch als Verpflichtung gegenüber Europa gesehen werden. In Zeiten immer stärker werdender antieuropäischer Bewegungen, die in den meisten Fällen einfach nur nationalistisch argumentieren, ist dieses Erbe des Mauerfalls mehr denn je davon bedroht in Vergessenheit zu geraten. Wer es bewahren möchte, der muss heute nach Griechenland, Spanien oder Ungarn gucken, an jene Orte, die in ihrer Krise europäischer Solidarität bedürfen. Und natürlich nach Brüssel, wo viele der neuen politischen und physischen Mauern ihren Ursprung haben. Wenn Deutschland seine Teilung überwunden hat, so kämpft Europa immer noch mit den seinen.

All dies würde heißen den Mauerfall wirklich ernst zu nehmen und ihn zu verstehen als ein Ereignis, dessen Bedeutung so viel mehr ist als nur das Ende eines von Anfang an zum Untergang geweihten Unrechtsstaats.

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Mogneba

Dr. Moritz Baumgärtel ist Dozent an der Rechtswissenschaftlichen Fakultät der Universität Utrecht und am University College Roosevelt in Middelburg.

Mogneba

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