Gegner im Geiste, Brüder im Kampf

Wahhabiten Der Westen hat mit Hilfe der saudischen Autokraten die Araber unterjocht – und sich seine eigenen Feinde herangezüchtet. Dies gefährdet nun den Traum vom säkularen Ägypten

In seinem 1956 erschienenen Buch L’Afro-Asiatisme vertritt der algerische Denker Malek Bennabi die Auffassung, die islamische Welt sei vom Westen dazu verleitet worden, sich auf „Unwesentliches zu konzentrieren, um die Weiterentwicklung der Muslime zu bremsen oder gar zu stoppen“. Bennabi unterstellt etwa den Muslimbrüdern, sich zur Konzentration auf die Religion verleiten zu lassen, so dass „wir zwischen Kolonialismus und Bereitschaft zum Kolonialismus stecken bleiben“.

Ein säkulares Staatswesen in Ägypten, das die Reichtümer seines Volkes zu schützen vermag, war für den Westen jedenfalls lange ein Albtraum. Das „Verleiten“ zur Abkehr vom Wesentlichen kann daher als Ausprägung jener Kreuzfahrermentalität verstanden werden, die dem Kampf des Abendlandes mit dem Morgenland eine religiöse Qualität verleihen sollte. Die Religion sollte zum Holzwurm werden, der den Arabern, respektive den Muslimen, jegliche Aussicht auf Weiterentwicklung zerfrisst.

Gute Dienste leistete hierbei das Bündnis der Familie Saud mit den Wahhabiten, die seit jeher dem säkularen Staatsmodell des Gründervaters des modernen Ägypten, Muhammad Ali, feindselig gegenüberstand. Schließlich hatte Ali deren zweiten Staat zunichte gemacht. Der Wahhabismus (siehe A-Z, S. 32) war für die „Topographen der arabischen Welt“ der ideale Holzwurm, weil er die Araber zum religiös geprägten Denken verleitete und somit ihre Rückständigkeit garantierte.

Die Emanzipation der Frau ist heute ein beliebtes Motiv der als „Demokratisierung“ deklarierten Erpressungskampagnen des Westens. Doch bereits vor 100 Jahren, als es in zahlreichen europäischen Staaten noch nicht einmal das Stimmrecht für Frauen gab, lebte – sozusagen mitten in der Wüste – eine vollkommen emanzipierte arabische Frau: Fatima Al Zamil Sabhan. Sie bekam im Jahre 1911 als Vormund ihres Enkels Saud al-Raschid, der noch ein Kind war, die Herrschaft über das Emirat Hail übertragen – ein Staat, der sich damals über weite Teile der Arabischen Halbinsel erstreckte. Hail hatte eine Hauptstadt, eine Sprache, eine offizielle Religion und eine auf das Gewohnheitsrecht aufbauende Verfassung, die das monarchische Herrschaftssystem und die Erbfolge regelte. Damals erhoben mehrere konkurrierende Kräfte Anspruch auf die Vorherrschaft in der ölreichen Region: die Raschid-Dynastie aus Hail, die Saudis aus dem Nadschd und die Haschemiten aus dem Gebiet des Hedschas.

Fatimas gemeucheltes Erbe

Fatima war gebildet und hatte ein ausgeprägtes Bewusstsein für politische Belange. Unter ihr nahm nicht nur der Reichtum Hails zu, sondern auch die innere Stabilität. Sie pflegte die Kontakte zu umliegenden Herrschern, und es gelang ihr, die Kampfkraft der Truppen des Emirats zu erhöhen. Die britische Forschungsreisende Gertrude Bell schrieb über Fatima: „Keiner hasst die Wahhabiten und die Saudis so wie sie.“ Nur ein Jahr nachdem Fatima – zumindest theo­retisch – die Herrschaft an ihren damals 15 Jahre alten Enkel übergeben hatte, erlitt die Familie Saud eine ihrer empfindlichsten militärischen Niederlagen.

Doch schon kurz nach Fatimas Tod wurde ihr Enkel al-Raschid ermordet. Und 1920 endete Hail auf der Schlachtbank der al-ihwan, was wörtlich „die Brüder“ bedeutet. So hießen offiziell die militanten Banden, die im Dienste der Familie Saud – laut britischen Aufzeichnungen – mit größter Brutalität gegen die Gegner des Wahhabismus vorgingen. Obwohl der Wahhabismus den Westen, das Judentum und das Christentum offen anfeindete, erhielten die Ihwan Waffen und Geld aus London. Al-Raschids Witwe wurde eine Frau des Gründers des dritten saudischen Staates, Ibn Saud, mit dem sie unter anderem den Sohn Abdullah zeugte, den derzeit amtierenden saudischen König.

1927 löste Ibn Saud die Ihwan auf und ließ ihre Anführer umbringen. Nur wenige Monate später aber wurde in der ägyptischen Stadt Ismailia eine Vereinigung mit einer ähnlich „verqueren“ Auffassung vom Islam gegründet, die sich auch ähnliche Parolen auf die Fahnen schrieb und sogar einen ähnlichen Namen hatte: al-ihwan al-muslimun – die Muslimbruderschaft.


Ihr Gründer, Hassan al-Banna, war regelmäßiger Gast des saudischen Königshauses. Er war es auch, der als erster offiziell westliche Hilfe bekam – von der Suezkanal-Gesellschaft. Zwei 2010 erschienene Bücher des ägyptischen Forschers Halmi al-Nimnim sowie des britischen Politikwissenschaftlers Mark Curtis nennen zahlreiche weitere Belege, die für die Unterstützung al-Bannas durch Saudi-Arabien und Großbritannien sprechen. Es war der gleiche al-Banna, der die Diskussion über die so genannten Hudud-Strafen sowie über Schleierpflicht und Arbeitsverbot für Frauen ins Rollen brachte.

Auch später hat sich der Westen immer wieder für den Fortbestand und die Ausbreitung des Wahhabismus der Saudis eingesetzt. Der ist zwar der westlichen Kultur gegenüber feindselig eingestellt, lässt sich aber hervorragend benutzen, um die Muslime zu einem Maximum an Rückständigkeit zu verleiten. So stehen die „Topographen der arabischen Welt“ hinter einem Staat, dessen Religiöse mit ihrem Wettern gegen die „Kreuzzügler“ die Bevölkerung einlullen, und dessen Politik dem „räuberischen Westen“ die Taschen füllt.

Mit anderen Worten: Der Westen hofiert einen Staat, der auch weiterhin dafür sorgen wird, dass die Religion seltsame Blüten treibt. Erst kürzlich versuchten Islamisten, den Traum vom „Tahrir“ mit saudischen Fahnen zu vereinnahmen, den „Freitag des Zorns“ zum „Freitag der islamischen Identität“ umzumodeln und den Tahrir-Platz – den „Platz der Befreiung“ – zu ihrer Hochburg zu stilisieren. Es sind solche Blüten, die insbesondere in Ägypten – dem Brennpunkt der Hoffnungen vom Aufschwung in der arabischen Welt – den Traum vom säkularen Staat gefährden.


Mohamed Taima
ist einer der Mitbegründer der Protestbewegung Kifaya, die seit 2004 für ein Ende der Herrschaft Mubaraks eintrat. Er ist Autor des Bestsellers Die Dynasto-Republik Mubarak, der trotz Repressalien des alten Regimes in Ägypten mehrere Auflagen erreichte. Taima lebt in Kairo





Dieser Text ist Teil der Freitag-Sonderausgabe 9/11, die der Perspektive der arabisch-muslimischen Welt auf die Terroranschläge und ihre Folgen gewidmet ist. Durch einen Klick auf den Button gelangen Sie zum Editorial, das einen ausführlichen Einblick in das Projekt vermittelt. In den kommenden Tagen werden dort die weiteren Texte der Sonderausgabe verlinkt

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Übersetzung: Andreas Bünger

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