Ellie
Der Jeep Cherokee mit dem verblichenen fetten USAID-Logo und der schlaffen weißen Fahne hält wenige Meter von mir entfernt. Ich knie am Boden, noch nicht tot, aber so gut wie. Ist dieser Wagen ohne Fahrer auch wieder eine Fata Morgana? Kann mein Wille nun schon Fahrzeuge zu meiner Rettung fernsteuern? Der Jeep ist so nah, dass ich die Abgase dahinter aufsteigen sehe und die Vibration des Motors unter den Füßen spüre. Scheiße, ich kann die Dieselschwaden förmlich inhalieren. Ich erbebe vor Hoffnung und kippe in den Sand.
Irgendwann gibt sich selbst die Hoffnung auf. Mein ganzer Körper ist von Blasen übersät, und mein Inneres fühlt sich an, als wäre es mit Sandpapier ausgeschrubbt worden; staubtrocken und vom letzten Rest Angst gereinigt.
Extreme Dehydrierung kann angenehme Wahnbilder hervorrufen. Seit ich den Hund gefunden habe, bin ich im Kopf an ein paar schönen Orten gewesen. Ich stand in einem blitzsauberen Badezimmer mit Marmorboden und fließendem Wasser; mehrere verglaste Kühlschränke mit kaltem Bier hätte ich fast geöffnet; ich habe meine toten Kameraden getroffen, die freundlich, aber distanziert waren und mir Pommes mit Ketchup gegeben haben; wieder und wieder hat mich ein Helikopter aufgesammelt und zurück zur Basis geflogen; einmal habe ich mich sogar umgezogen, bin in meinen Nissan Sunny gestiegen und nach Hause gefahren, wo ich angeklopft und gewartet habe, dass Cath aufmacht und mich in die Arme nimmt. Sie hat gemeckert, dass ich zu spät sei.
Das hier ist schon kein Traum mehr. Ein führerloses Fahrzeug, das kommt, um einen zu retten, klingt wie die Dolce-Vita-Vision eines Dritte-Welt-Milizionärs. Nicht mal ein Soldat, nur ein feindlicher Kombattant, der von allen Seiten eingeschlossen ist und keine Munition mehr hat, könnte so ein Wunder erträumen. Oder ein amerikanischer Jettie, der in der Wüste abgestürzt ist.
Ich bin ein Offizier mittleren Ranges. Auf so etwas falle ich nicht rein.
Ich halte die Augen geschlossen und höre, wie sich die Tür des Jeeps quietschend öffnet, es klingt, als würde sie von innen aufgetreten. Ich umarme den winselnden Hund und lasse meine Gedanken an einen Ort schweifen, wo Kinder sich auf einer Wippe gegenseitig anstacheln: höher! Warum nicht als letzte Tat im Leben ein hilfloses Wesen trösten? Irgendwo in der Vergangenheit höre ich Cath lachen. Na klar doch, hier, nimm auch noch mein Kissen. Ich lächele leise. Cath war manchmal sarkastisch, was meine kleinen egoistischen Freuden betraf – wenn ich die ganze Decke an mich riss, den letzten Rest Nachtisch nicht mit ihr teilte, mir selbst den letzten Tropfen Wein aus der Flasche einschenkte, oder wenn ich mich morgens, wenn es an der Tür klingelte, schlafend stellte; sie kannte mich, und das vermisse ich. Aber jetzt muss sie mir vergeben. Im Leben haben wir einander nichts gegönnt. Im Tod können wir großmütig sein. Ich werde sie nie wieder vermissen, werde nie wieder angemeckert werden; bald wird alles vergessen sein.
Tschüss, Erde. Tschüss, Krieg. Tschüss, Frieden. Tschüss, Frozen Margaritas.
Als Erstes bekomme ich einen Tritt in die Rippen, dann noch einen. Eine kleine Gestalt beugt sich über mich und entreißt mir den Hund. Dann noch ein Tritt, diesmal weniger kräftig, dafür verächtlicher. Eine Stimme auf Englisch. »Du wolltest meinen Hund stehlen. Du Hundedieb.« Man hat mir im Leben schon viel vorgeworfen, aber noch nie, dass ich einen streunenden Hund stehlen wollte. Aber der Junge, der über mir steht, ist sich seiner Sache sicher. Er streichelt und küsst den Hund, wobei er mir immer wieder in die Rippen stößt. »Du klaust meinen Hund. Siehst du nicht, dass er verletzt ist? Du Brutalo. In der Hölle sollst du schmoren. Aber da schmorst du ja schon. Gott hat dich gestraft.«
Langsam dämmert mir, dass der Junge hierhergekommen ist, um seinen Hund zu suchen, und jetzt glaubt, ich hätte das Tier stehlen wollen. Endlich, nachdem ich acht Tage durch die Wüste geirrt bin, kommt mein Erretter, und zwar ein Teenager mit einer Stinkwut.
Ich hebe die Hand, um den Vorwurf zu entkräften. Die Bewegung strengt mich so an, dass ich fast wieder umklappe.
»Wenn du nicht den Hund klauen willst, was hast du dann hier vor, so weit weg vom Camp? Nur Bekloppte wandern in diesem Aufzug durch die Wüste.«
Der Junge ist so überzeugt von sich, wie es nur ein Fünfzehnjähriger sein kann, der schon Auto fährt. Er trägt ein Fußballtrikot, weiße Shorts und Fußballschuhe. Gott sei Dank hat er mich nicht mit den Stollen getreten, um seinem Unmut Ausdruck zu verleihen. Er sieht aus wie jemand, der zum Sport will, und nicht wie jemand, der seinen geliebten Hund in der Wüste sucht.
»Was soll diese Uniform? Bist du ein Skorpionjäger? Ein Eidechsensammler?«
Anscheinend bemerkt der Junge erst jetzt meinen Fliegeranzug und hält mich für eine Art uniformierten Straßenkehrer, der nebenbei geklaute Hunde verkauft.
»Haben sie dich zurückgelassen? Die sind nämlich alle weg.« Er versetzt mir einen letzten Tritt, diesmal in den Hintern, und spuckt in den Sand. Dann hebt er mit einer Hand den Hund auf, küsst ihn auf die Schnauze und geht.
Ich bin jetzt voll da und hellwach. Das ist keine Fata Morgana. Eine Fata Morgana tritt einem nicht in die Rippen. Ich sehe den Jungen an und erkenne jetzt, dass er höchsten vierzehn oder fünfzehn ist. Er macht die Tür des Cherokee auf und setzt seinen Hund auf den Beifahrersitz. Dann geht er um den Wagen herum und verschwindet auf dem Fahrersitz. Wie kann es überhaupt sein, dass er fahren darf? Wo sind seine Eltern? Wie können sie diesen Knirps in einem SUV durch die Wüste fahren lassen? Dass Araber ein Faible für Luxuskarossen haben, ist ja bekannt – vergoldete Lamborghinis, Range Rover mit Gucci-Sitzschonern und dazu passenden Gebetsteppichen und so. Aber selbst nach deren albernen Maßstäben ist das hier völliger Wahnsinn. Ich bin mir auch gar nicht sicher, ob er ein Araber ist.
»Hey«, schreie ich, aber nur ein Hauch heißer, trockener Luft entweicht meinem Mund. Ich rappele mich auf die Knie und winke mit beiden Armen.
»Du kannst mich nicht hierlassen.«
Der Junge lässt den Motor an, er stottert, dann ein Knall aus dem Auspuff. Kurz schüttelt es den Jeep, dann geht der Motor wieder aus. Noch ein Versuch, wieder das mürrische Geräusch des Motors, der einen Scheiß auf die Zündung gibt. Mit verärgert hochgezogenen Brauen steigt der Junge aus, wie jemand, der es nicht gewohnt ist, dass ihm ein Motor nicht gehorcht. Er knallt beide Hände auf die Motorhaube, stemmt sie mit einiger Mühe hoch und taucht in den Motorraum.
Das muss ein Zeichen sein. Ich bin immer noch baff. Vom Auftauchen des Jungen und seiner Entschlossenheit, mit seinem verletzten Hund einfach wieder wegzufahren, davon, dass er in mir nichts weiter als einen Kleinkriminellen sieht, und schließlich von dem Jeep, der nicht anspringen will. Ist das die Hand Gottes, auf die ich gewartet habe?
Manchmal manifestiert sich Gott als technische Panne.
Schwerfällig komme ich auf die Füße und humpele auf den Cherokee zu, wo der Nachwuchskicker immer noch halb im Motor hängt. Ich hieve mich daneben, mein Gesicht dicht an dem des Jungen, der mit einem Zahnstocher eine Zündkerze reinigt. Zum ersten Mal sehe ich sein Gesicht deutlich. Er hat große braune Augen, einen Hauch von Bart auf der Oberlippe und dunkelbraune Haare, die ihm immer wieder über die Augen fallen. Der Junge schenkt mir keine Beachtung und säubert weiter die Zündkerze, bis ich es nicht mehr aushalte und zische: »Hast du Wasser?«
»Das habe ich schon geprüft. Ist voll, kein Problem.«
Ich stürze mich auf den Kühler, wobei der Junge mir zusieht. Mit zitternden Händen schraube ich den Deckel ab; das Wasser ist kochend heiß und verbrüht mir die Zunge, als ich versuche, etwas aus der kleinen Öffnung herauszulecken.
»Sei kein Tier«, sagt der Junge, setzt die Zündkerze wieder ein und wischt sich die Hände mit einem öligen Lappen ab. »Im Jeep ist Trinkwasser.«
Ich schwanke, ob ich ihn umarmen oder ihm eine reinhauen soll. Gleichzeitig wird mir klar, dass er mich gar nicht hierlassen wollte. Er will mich nur irre machen. Alles hier will mich irre machen. Vorsichtig bewege ich mich am Cherokee entlang, öffne die hintere Tür und sehe eine Plastikflasche des Welternährungsprogramms. Als ich sie hochhebe, schwappt Wasser darin herum. Es ist eiskalt.
Mutt

Collage: Ira Bolsinger; Material: Getty Images, Adobe Stock
Ein roter Vogel schoss aus dem Sand empor, bevor der weiße Mann im grünen Overall sich daraus erhob. Ich habe zwar keine Angst vor Geistern, aber ich umgebe mich auch nicht gern mit ihnen. Er kam zu mir und nahm mich in den Arm. Ziemlich peinlich. Er gehört zu den Männern, die nicht wissen, wie man ein Baby hält, wie man einen Hund streichelt, wie man ein Mann ist. Als wäre ich eine kostbare Vase, so fasste er mich an.
Ich kann diesen Mann nicht riechen. Anders als die Männer, die im Hangar gewohnt haben, riecht dieser nicht nach gekochtem Kohl. Welcher Mensch hat bitte keinen Geruch? Oder habe ich das letzte mir verbleibende Talent auch noch verloren? Riechen können heißt überleben. Dieser Mann riecht nach nichts. Nur Geister und Spitzel riechen nach nichts. Ich glaube nicht an Geister; sie sind eine Erfindung meiner menschlichen Gefährten, um sich zu trösten, dass sie, wenn sie sterben, nicht wirklich sterben. Wenn Menschen sterben – und es spielt keine Rolle, ob sie am eigenen Erbrochenen ersticken oder bei dem Versuch sterben, ein Kätzchen zu retten – , kommen sie in den Himmel oder in die Hölle. Wenn Hunde sterben, bleiben sie einfach tot. Was Spitzel betrifft, die haben diesen Ort längst verlassen – hier gibt es nichts mehr zu bespitzeln.
Die Vorstellung, nicht mehr riechen zu können, bereitet mir dröhnende Kopfschmerzen. Und warum versucht er eigentlich immer noch, mich zu umarmen?
Ich brauche deine unbeholfene Liebe nicht, will ich sagen. Ich brauche eine Aspirin.
Diese roten Vögel machen mir Sorgen. Sie sind überall. Aber noch mehr Sorgen bereitet mir, dass anscheinend niemand etwas gegen sie unternehmen kann.
Den ersten roten Vogel auf dem Dach sah ich an dem Tag, als Mother Dear in den Küchenstreik trat. Das Argument, das sie vorbrachte, war wie bei jedem professionellen Agitator nur ein Vorwand: Es sei kein Salz da, deshalb werde sie nicht kochen. Doch das alles war nur ein kleines Spiel, reine Täuschung. In Wahrheit sagte sie: Bringt mir meinen Sohn wieder oder verreckt doch alle, verhungert meinetwegen oder esst halt Mehl und rohes Fleisch. Oder lernt selbst kochen.
Das kann sie gut. Sie trägt ihre Depression nicht wie ein Ehrenabzeichen an der Brust, sondern verwandelt sie in eine subtile Form des Widerstands. Wäre sie woanders geboren worden, wäre sie jetzt sicher ein sozialistisches Staatsoberhaupt, das mit eiserner Faust ein Land mittlerer Größe regiert. Doch hier ist sie nur eine Mutter mit einer Gebetskette aus Plastik.
Für gewöhnlich kann ich Vögel riechen, bevor ich sie sehe; die meisten riechen nach Unfug, außer Krähen, die riechen nach schmutzigen Geheimnissen anderer Leute. Aber an jenem Tag roch ich nichts. Ich war dabei gewesen, den Himmel zu beobachten. Das tut man hier mit der Zeit ganz automatisch, das können Sie mir glauben, denn hier fällt gerne mal was vom Himmel. Während ich also angestrengt Ausschau hielt, bemerkte ich etwas Rotes auf dem Dach. Ich spürte seine Präsenz. Er war nicht größer als ein Spatz, aber anders als Spatzen, die nicht still sitzen können und die glauben, das Leben sei ein einziges langes Fest, war der rote Vogel völlig ruhig. Und er hatte keinen Geruch. Ich winselte, plötzlich in Sorge, dass ich meinen Riecher verloren haben könnte, und nahm nur einen schwachen Hauch Kummer wahr, der, kaum überraschend, aus der Küche drang. Eigentlich eine lachhafte Untertreibung – dieses Haus atmet förmlich den Gestank des Kummers. Wenn Mother Dear die Wäsche macht, weht der Geruch von Verzweiflung zwischen den Wäschestücken auf der Leine hindurch. Sie vergießt Tränen ins Curry, so traurig ist diese Frau. Wozu braucht sie Salz, wenn sie auch mit ihren Tränen würzen kann? Traurigkeit beunruhigt mich nicht. Traurigkeit ist in diesem Haus praktisch wie ein Bruder für mich.
Es ist nicht meine Art, Panik zu verbreiten, aber als Sohn dieser Erde und verantwortungsbewusstes Familienmitglied hat man Pflichten, also tat ich, was man eben tut, wenn man von der Präsenz eines rätselhaften Wesens irritiert ist und den anderen sagen will, dass sie sich vorsehen sollen: Ich hob den Kopf und stieß eine kurze Folge von Warnungen aus. Mother Dear blickte zum Himmel, schüttelte den Kopf und widmete sich wieder ihrer traurigen Verrichtung. Um nützlich zu erscheinen, erfinden wir manchmal Arbeit, wo gar keine Arbeit nötig ist. Sie bügelte Laken mit einem nicht angeschlossenen Bügeleisen.
Ich gab ein langes jaulendes Wuff von mir, das in diesem Haus allgemein als Zeichen verstanden wird, dass ich es ernst meine – die Welt geht jeden Moment unter, gleich fallen wieder Bomben, die Katze schielt wieder nach dem Milchtopf. Mother Dear schmiss ihren Pantoffel nach mir. Ich konnte mich gerade noch ducken. Jeder Vogel, selbst einer dieser dickköpfigen Milane, hätte nach diesem kleinen Tumult die Flucht ergriffen. In dieser Gegend gehören fast alle Vögel zum Sicherheit-geht-vor-Typ und misstrauen der menschlichen Rasse – eine kluge Strategie, wie ich hinzufügen möchte, aber ein Privileg, das mir leider verwehrt ist. Doch dieses hübsche rote Kerlchen blieb arglos sitzen, flatterte nicht, ja, hob nicht einmal leicht die Flügel, um sich zum Abflug bereit zu machen, nur für den Fall. Um meine Überzeugungskraft war es offenbar auch schon einmal besser bestellt.
Dann kam Momo rein, und ich bellte ihn inständig an, doch nach oben zu schauen, was er auch tat. Aber er schüttelte nur den Kopf, ging hinaus und verschwand unter seinem Cherokee.
Es dauerte eine Weile, bis ich verstand, dass nicht jeder die Vögel sehen kann. Manche Dinge, die ich sehe, sehen andere einfach nicht, weil sie nicht so aufmerksam sind wie ich. In meinem Hirn mag es seit dem fürchterlichen Unfall etwas wirr zugehen, aber meine Augen sind in Ordnung. Wobei ich betonen möchte, dass ich nie behauptet habe, außergewöhnliche Kräfte zu besitzen. Hunde glauben nicht an Magie, Hunde können es sich nicht leisten, im Leben den Weg der Spiritualität einzuschlagen. Aber die Idee hat ihren Reiz.
Wenn ich sie nämlich sehen kann, habe ich ja vielleicht, nur ganz vielleicht, doch außergewöhnliche Kräfte. Ein verlockender Gedanke, aber erst müssen wir andere Erklärungen ausschließen. Vielleicht sehen die anderen die Vögel in einer anderen Farbe. In dem erdigen Braunton eines Kanarienvogels oder dem Schuhcremeschwarz der Krähen. Oder vielleicht sehen sie die roten Vögel durchaus in Rot, finden aber nichts Ungewöhnliches an ihrer Stummheit oder an ihrer unheimlichen Erscheinung. Ja, unheimlich, denn sie fliegen hier zwar ganz offensichtlich herum, trinken aber weder das verseuchte Wasser dieses Ortes, noch sind sie scharf auf spendenfinanziertes Getreide.
Später einmal werden die Leute bestimmt alles erklären. Doctor, unser Mann der Wissenschaft, wird die logischste und wissenschaftlichste Erklärung liefern: abgereichertes Uran. Gewöhnliche Kanarienvögel hätten kontaminiertes, schwach uranhaltiges Wasser getrunken und seien daraufhin zu roten Vögeln mutiert, es handele sich also im Grunde um nichts weiter als in Farbe getauchte und ihrer Stimme beraubte Kanarien. Da muss ich Doctor leider widersprechen. Ich habe aus demselben Wasserloch getrunken, ich erleichtere mich sogar darin – wieso bitte bin ich dann noch nicht rot?
Wenn die Leute hier für etwas keine echte Erklärung haben, schieben sie es auf den Krieg. Als ob vor dem Krieg alle Brüder gewesen wären und dem Nachbarn keinen Müll in den Hof geschmissen hätten. Als ob wir erst durch den Krieg Mundgeruch und schlechte Manieren bekommen hätten. Das ist, als würde ich sagen, dass meine Hundevorfahren dieses Land einst regiert hätten, aber dann sei der Krieg gekommen und habe ihrer ruhmreichen Herrschaft ein Ende bereitet (…)
Rote Vögel sind real. Wir sehen sie nicht, weil wir sie nicht sehen wollen. Denn wenn wir sie sehen, erinnern wir uns. Wenn jemand bei einem Bombenangriff oder einer Schießerei stirbt oder wenn ihm die Kehle aufgeschlitzt wird, verwandelt sich sein letzter Tropfen Blut in einen winzigen roten Vogel, der davonfliegt. Und dann wieder auftaucht, wenn wir die Person um jeden Preis vergessen wollen, wenn wir glauben, sie vergessen zu haben, meinen, jetzt ohne sie leben zu können, oder wenn wir diese unsinnigen Worte sagen, dass wir »darüber hinweg« seien. Der Vogel erinnert uns daran, dass die Person vielleicht verschwunden, aber nicht wirklich weg ist. Sie hat uns nicht vergessen. Er erinnert uns daran, dass sie verschwunden ist, uns aber vermisst. Wir können mit unserem Leben fortfahren und so tun, als wäre die Person nicht mehr da – wir können ihre Kleider verschenken, ihre Notizbücher in der untersten Schublade verstauen, uns beharrlich nur an die klugen und witzigen Dinge erinnern, die die Person gesagt hat, und ein ewig junges Lächeln auf ihr Gesicht kleben – , aber tatsächlich brauchen wir nur den Kopf zu heben, und da ist sie (…).
Als ich den roten Vogel sehe, knurre ich. Momo mag es, wenn ich knurre. Er sagt dann meist, hey, mein Tiger. Aber heute Morgen bleibt er unter dem Jeep liegen und sagt, sei still, Mutt. Ich mag es, wenn er meinen Namen sagt. Wenn er sei still sagt, meint er eigentlich, mach weiter, mein Tiger, knurr lauter.
Ich bin unschlüssig, ob ich Momo von den roten Vögeln erzählen soll. Menschen können so pedantisch sein. Sie glauben, da oben sitzt jemand, der Brot und Milch und seltsame sexuelle Gelüste produziert, sie glauben an Seelen, Dschinn, Märchen, Seeungeheuer mit Brüsten und Flossen und politische Theorien über den Nutzen von Ungleichheit, aber wenn man ihnen sagt, wo der rote Vogel herkommt, schütteln sie den Kopf, als wollte man sie zu irgendeiner Hundereligion bekehren.
Es gibt noch einen anderen Grund, warum ich zögere, Momo von den roten Vögeln zu erzählen: Im Herzen ist er ein Geschäftsmann. Selbst wenn er fernsieht oder sein Jeep ein Panne hat, selbst wenn er darüber nachdenkt, seinen Vater zu ermorden, arbeitet er immer an irgendeiner Geschäftsidee, die ihn unglaublich reich machen wird. Bisher hat er zwar ausschließlich mit Schrott gehandelt, aber er wartet darauf, »dass die Märkte sich öffnen, dass sich die Situation stabilisiert, dass die Wiederaufbauphase beginnt«, damit er sich in seine Finanzmarktabenteuer stürzen kann (…).
Ich weiß, was er tun würde, wenn er die roten Vögel sehen könnte. Er würde ihr Marktpotenzial erkennen. Er würde sie einfangen wollen. Das Kosten-Nutzen-Verhältnis analysieren. An riesige Netze denken. Er würde meinen, dass Amerikaner sicher fettes Geld dafür zahlen würden. Dass arabische Scheichs sie bestimmt gern zum Frühstück äßen, wenn sie von ihren magischen Qualitäten erführen. Zweihundert Dollar pro Schuss. Er hat eindeutig zu viele Sendungen im Nachtprogramm von Nat Geo gesehen, in denen es die ganze Zeit um nichts anderes als um Tierquälerei geht. Er glaubt, das wahre Leben sei der wirklich allerletzte Teil von „Fast and Furious“ (…).
Ellie

Collage: Ira Bolsinger; Material: Getty Images, Adobe Stock
Mit zwei Kissen unter dem Hintern kommt Momo, der minderjährige Fahrer des Jeeps, so gerade eben auf Höhe des Lenkrads. Um Gas zu geben, muss er nach unten rutschen und fast im Stehen fahren. Ich bin mir nicht sicher, ob er überhaupt etwas durch die Windschutzscheibe sieht. Aber das spielt auch keine Rolle, weil ich nach draußen sehen kann, und dort ist nichts als Sand. Ich hätte die Flasche nicht in einem Zug austrinken sollen; mein Magen fühlt sich an, als würde er in einem Mörser zerstoßen.
Alle paar Minuten dreht sich Momo zum Beifahrersitz und sagt: »Momo hat dich lieb, Mutt. Momo liebt dich.« Als der Hund nicht reagiert, hupt der Junge und schreit: »Muutttttt! Wir fahren nach Hause, Mutt. Willst du nicht wieder nach Hause, Mutt? Fast and furious, nur noch schneller. Wir holen dir einen Arzt, besorgen dir einen Verband, dann wirst du wieder gesund. Dann kannst du wieder brüllen wie ein Tiger.«
Mutt klebt mit der Nase am Fenster und wimmert seltsam menschlich. Ihn scheint die ewige Frage zu quälen: Kann man je wirklich wieder nach Hause zurückkehren?
»Du hättest nicht so gierig sein sollen«, sagt der Junge zu mir, während ich mir stöhnend den Bauch halte. »Wenn man gierig ist, bekommt man Bauchschmerzen.«
»Ich hatte Durst«, murmele ich. »Großen Durst. Mir ist übel.«
»Ein Amerikaner, dem übel ist, Gott bewahre. Amerikaner sind übel und gehen diesem Universum übel auf den Sack«, sagt er, ohne dabei in meine Richtung zu schauen.
Unglaublich, wie herzlos dieser Fünfzehnjährige ist. Wo bleibt seine Menschlichkeit? Ich krepiere hier gleich, weil ich acht Tage nichts gegessen habe, und dieser Junge wirft mir übermäßigen Konsum vor.
Ich schließe die Augen, kauere mich auf dem Sitz zusammen und denke an all das, was ich in »Interkulturelle Sensibilität« gelernt habe. »Es gibt viele Gründe, warum sie uns hassen, aber einer davon ist, dass wir unsere Haustiere lieben«, hatte uns der Ausbilder im Modul »Kulturelle Sensibilität im Umgang mit Tieren« im Seminar »Wie man amerikanische Werte verteidigt, ohne die Gefühle des Gegenübers zu verletzen« erzählt. »Sie glauben ernsthaft, dass man mit dem Geld, das wir für Hundeshampoo ausgeben, die gesamte Bevölkerung eines zentralafrikanischen Landes ernähren könnte. Und dabei wissen sie noch nicht einmal was von den Amerikanern, die ihre Pythons mit lebenden Ratten füttern und sie vor dem Zubettgehen knuddeln.« Der Junge am Steuer ist ein Vertreter genau dieser Kultur. Im Moment hasse ich diese Kultur auch; jede Kultur, der winselnde Köter wichtiger sind als in der Wüste verhungernde Menschen, sollte einen Crashkurs in interkultureller Sensibilität bekommen. Und wir reden hier nicht von irgendwelchen dahergelaufenen Menschen, wir reden hier von Piloten, Piloten auf einer Mission, nicht diesen Luftikussen, die einen Regenbogen auf der Brust haben oder Wälder mit Pestiziden einnebeln, wir reden hier von echten Piloten im Einsatz, die in streng geheimer Mission unterwegs sind.
Dieser Hund hier kehrt heim. Dieser Hund hat einen Namen, auch wenn es nur Mutt ist. Dieser Hund wird geliebt. Mich hat man noch nicht einmal nach meinem Namen gefragt. Wie der Junge heißt, weiß ich, weil er die ganze Zeit »Momo hat dich lieb« zu seinem Hund sagt.
Ich sollte erleichtert sein, glücklich, dass ich aus dieser Wüste gerettet werde, wo ich acht Tage und Nächte festgesessen habe. Stattdessen bin ich angepisst, weil ich nicht die Aufmerksamkeit bekomme, die man eigentlich verdient hat, wenn man acht Tage in der Hölle der Wüste überlebt hat. Nach all den Nahtod-Erfahrungen, nach all den Opfern, die ich für das Land gebracht habe, fühle ich mich gerade wie ein lästiger Anhalter. Eben noch blickt man in der Wüste dem sicheren Tod ins Auge, und im nächsten Moment sitzt man schon in einem Auto und schmollt, weil die Umgangsformen des Retters zu wünschen übrig lassen.
Die letzte Mahlzeit, die ich zu mir genommen habe, bestand aus einer Aspirin und einer Tasse Kaffee. Ich wünschte, ich hätte mir beides für jetzt aufgehoben.
»Du arbeitest für USAID?«, fragt Momo und biegt abrupt ab, ohne dass ein Grund dafür ersichtlich wäre – links sieht alles aus wie rechts, es gibt weder Fahrzeugspuren noch Schilder, überall nur Sand, so weit das Auge reicht.
»So in etwa«, antworte ich und stelle fest, dass mir eine Tarngeschichte fehlt. In dem ganzen Elend habe ich völlig vergessen, mir auszudenken, wo ich herkomme und was ich hier mache. Eigentlich sollte ich eine ausgearbeitete Geschichte parat haben. Warum zum Henker bin ich in einem Fliegeranzug durch die Wüste gelaufen und dabei fast verhungert? War ich das schwächste Glied einer Kamelsafari, das man zurückgelassen hat? In den ersten Tagen hatte ich mir noch Gedanken über eine Tarnung gemacht, aber jetzt herrscht in meinem Kopf gähnende Leere. Kurz denke ich an die halbe Strike Eagle, aber die liegt fünf Tagesmärsche von hier entfernt. Selbst wenn sie den Vogel fänden, würden sie ihn nicht mit mir in Verbindung bringen.
Vielleicht brauche ich gar keine Tarngeschichte. Wenn USAID hier vor Ort ist und Fünfzehnjährige als Fahrer anheuert, kann ich denen wahrscheinlich jeden Mist auftischen. Dann kriege ich saubere Klamotten und eine Untersuchung vom Arzt, sage danke und springe in den nächsten US-Heli, der Richtung Heimat fliegt und der, so hoffe ich, nicht von einem aufmüpfigen Teenie gesteuert wird.
»Und du? Arbeitest du für USAID?«, frage ich, damit sich eine Beziehung zwischen uns entwickeln kann oder wenigstens die Möglichkeit entsteht, gemeinsam über einen Witz zu lachen oder etwas über die nächsten abgehenden Flüge zu erfahren. In Wahrheit will ich ihn fragen: Scheiße, warum bist du nicht in der Schule? Hast du einen Führerschein? Wieso trägst du Fußballsachen? Aber all das frage ich nicht. Nur: »Arbeitest du für USAID?«
Eigentlich ist eine Tarnung für mich simpel; ich gebe mich einfach als Pilot aus, der mit einer Ladung humanitärer Hilfsgüter – Nahrungsmitteln, jeder Menge Fußbälle und Süßkram – hierher unterwegs war, dann aber notlanden musste und sich in der Wüste verlaufen hat. Perfekt. Obwohl ich vor Hunger jeden Moment ohnmächtig werde, ist mein Hirn noch in der Lage, glaubhafte Szenarien zu erfinden. Ich bin ein zäher Hund, jemand, der noch fix im Kopf ist, wenn er eigentlich längst fix und alle ist.
»Ich bin zu jung für einen Job«, sagt Momo verächtlich, als hätte ich ihn nach einem peinlichen Familiengeheimnis gefragt. »Ich bin selbstständig. So eine Art Unternehmer.«
Das beruhigt mich. Ich bin also keinen lüsternen Ziegenhirten oder blutrünstigen Kombattanten in die Hände gefallen, sondern bei anständigen Leuten gelandet, die ein eigenes Unternehmen führen und Hunde mögen. Die Art von Gemeinschaft, in der kleine Jungen es aus eigener Kraft zu etwas bringen wollen. Ein Ort, an dem es hoffentlich Toiletten mit Wasserspülung und warmes Essen gibt. Ich schließe die Augen und stelle mir ein blutig gebratenes Rib-Eye-Steak mit einem Klacks Bratensoße vor, dazu ein Glas mit Eiswürfeln.
Um uns herum wirbelt der Sand, und ich habe keine Ahnung, wie Momo sich orientiert. Das ist ein Wüstenvolk, sage ich mir, die kennen hier jedes Sandkorn. Ich vertraue diesem Jungen. Ein Fünfzehnjähriger, der seinen verletzten Hund gerettet hat, wird sich schon nicht verirren oder einen Mitmenschen im Stich lassen. Er repräsentiert das Beste, das die Wüste zu bieten hat. Dieser Junge ist unsere Zukunft. Dieser Junge ist unsere Hoffnung. »Das beeindruckt mich immer an der arabischen Kultur: Ihr Jungs packt es selbst an. Macht was aus euch trotz der Umstände. Amerika hatte mal dieselben Werte, aber …«
»Wer hat gesagt, dass ich Araber bin?« Momo grölt vor Lachen. »Hast du das gehört, Mutt, der Typ glaubt, wir sind Araber. Hey, bring uns nicht auf Ideen. Mutt, wärst du nicht auch gern ein Araber?«
Mir wird vor Erschöpfung schwarz vor Augen; ich träume von Vanille-Milchshakes und Pfannkuchenstapeln, die so hoch sind, dass sie aussehen wie aneinandergelehnte Wolkenkratzer.
Übersetzung: Michael Schickenberg
Info
Rote Vögel Mohammed Hanif Michael Schickenberg (Übers.), Hoffmann und Campe 2019, 320 S., 22 €
Was ist Ihre Meinung?
Kommentare einblendenDiskutieren Sie mit.