Das Ende der Besatzung

Linkspartei Während Zehntausende in Kabul auf Evakuierung hoffen, feiern einige Linke die Machtübernahme der Taliban als „antiimperialistischen Sieg“. Haben sie recht?
Ein Kämpfer der Taliban vor einem beschmierten Beauty-Salon in Kabul
Ein Kämpfer der Taliban vor einem beschmierten Beauty-Salon in Kabul

Foto: Wakil Kohsar/AFP/Getty Images

Wenn am Mittwoch im Bundestag über das Bundeswehrmandat zur Absicherung der Evakuierung von Ortskräften in Afghanistan abgestimmt wird, steht die Linkspartei vor keiner einfachen Aufgabe. Als eine Stimme der Friedensbewegung hat sie bislang gegen jeden Bundeswehreinsatz gestimmt. Doch die Situation in Afghanistan ist katastrophal, für viele Menschen ist die Sicherheitslage brandgefährlich geworden. Wie wenigstens einige Menschen zu retten sind, ist keine Frage, die sich nur diejenigen zu stellen haben, die diesen NATO-Einsatz zu verantworten haben – diese Aufgabe steht in der Verantwortung aller, also auch und insbesondere der Linken. Denn eins steht fest: weder das Gegenargument von der Verletzung der Souveränität eines unabhängigen Staates noch der Vorwurf der Durchsetzung von imperialen Interessen spielen bei der Frage der Evakuierung eine wesentliche Rolle.

Doch die innerlinken Stimmen nach dem Siegeszug der Taliban sind divers, es tobt ein Kampf um die Deutungshoheit über die politische Lage. In den social media-Timelines von einigen anti-imperialistischen Linken liest sich dabei teils eine unerträgliche Romantisierung der Taliban als antiimperiale Kraft. Diese Einschätzung zeugt von Ahnungslosigkeit der regionalen machtpolitischen Auseinandersetzungen und ihrer kolonialen Wurzeln.

Es gibt Linke, die jedwede Auflehnung gegen imperialistische Politiken von EU oder USA begrüßen und dabei auch Staaten wir den Iran als positiven Bezugspunkt heranziehen – das Denken ist hier stark geopolitisch dominiert, begleitet von einem teils schwer auszuhaltenden romantisierenden Bild von fundamental-religiösen Gruppen wie den Taliban. Das linke Magazin marx21 – sonst meist für differenziertere Stimmen bekannt – veröffentlichte vor ein paar Tagen einen Beitrag, der beispielhaft für diese unheilvolle Sympathie ist.

In dem Text, der mit dem Titel „Rückkehr der Taliban: Das Ende der Besatzung“ überschrieben ist, preisen die beiden Autor*innen Nancy Lindisfarne and Jonathan Neale mitunter das Justizsystem der Taliban. Es sei notwendig, dass die Taliban dieses gerechte und vor Ungleichheit schützende Justizsystem fortführen würden: „Ihre bisherige Bilanz ist vorteilhaft“.

Dieser Bewertung der Autor*innen liegt zwar die zutreffende Tatsache zugrunde, dass nicht zuletzt auch das von den NATO-Mächten installierte Justizsystem höchst korrupt war. Unerheblich für die Bewertung des Taliban-Justizsystems aber bleiben offenbar die Handlungen die seit Wochen in Bildern und Videos aus Afghanistan um die Welt gehen und jetzt von den UN und Human Rights Watch bestätigt wurden: Sich ergebende Soldaten der (nun ehemaligen) afghanischen Armee werden von Kämpfern der Taliban erst gedemütigt, dann exekutiert. Auch das Bild der öffentlichen Auspeitschung einer Frau durch die Taliban in Herat kursiert in den Sozialen Medien seit einigen Tagen. Ihr Vergehen war ein Telefonat mit einem Mann, der nicht ihr Ehemann war. Auf Ehebruch steht nach den Normen der Taliban die öffentliche Steinigung. Ein Telefonat reicht hierfür.

Ebenso in Herat hat es nach einem Freitagsgebet eine Parade gegeben, auf der mehrere Männer von den Taliban durch die Straßen geschliffen wurden. Ihre Gesichter schwarz angemalt, um sie zu demütigen und zu schänden. Das vorgeworfene Unrecht: Diebstahl.

In Kandahar hat es wieder öffentliche Hinrichtungen von hohen Regierungsbeamten in einem Stadion gegeben. Das sind nur diejenigen Beispiele, die mit Bildern und Videos belegbar sind. Zahlreiche (Augenzeugen-)Berichte und Erzählungen von Betroffenen verdichten sich, die Zwangsehen und Entführungen im ganzen Land bestätigen.

Sozialistische Einheitsfront mit den Taliban

Was steckt also hinter diesen Beschönigungen von Gräueltaten und den Versuchen, Gruppen wie die Taliban in ihrer Grausamkeit derart zu relativieren? Vereinfacht zusammengefasst dürfte diesen Versuchen die naive Vorstellung zugrunde liegen, dass fundamental-religiöse Ideologien wie die der Taliban bloß eine Spielart von kleinbürgerlicher Auflehnung der unterdrückten Klasse seien. Auch mit Gruppen wie diesen gelte es eine Art Einheitsfront gegen den Kapitalismus aufzubauen. Das Ziel dabei müsse sein, dass sich Sozialist*innen an die Spitze absetzten (Chris Harman, politischer Islam, S. 60 ff. 2012).

Diese Vorstellung und das entstandene Narrativ einer unterdrückten Klasse, die soeben den Imperialismus bezwingen konnte, führt zu dieser Erzählung: Die Taliban haben eigentlich nur die falsche Ideologie, aber ein Sieg gegen den Imperialismus und damit gegen eine der aggressivsten Formen des Kapitalismus ist immer noch ein Sieg – und daher irgendwie erbauend. Faust hoch, oder, wie ich in einer Kommentarspalten-Diskussion unter Leuten in nicht unwichtiger Stellung linker Organisationen lesen musste: Darauf erstmal anstoßen! Die aus den Flugzeugen stürzenden Jugendlichen sind für Revoluzzer in Europa und Amerika schließlich vor allem Bilder auf Bildschirmen, also schnell ausgeblendet. Wann hat man schließlich hierzulande zuletzt sein Glas Lambrusco erhoben, um auf den Umsturz einer Ordnung anzustoßen?

Es ist anders

Doch wer von einem Sieg der Taliban über den Imperialismus oder aber einem Scheitern der NATO spricht, der oder die hat die Machtpolitik der Weltordnung nach dem Kalten Krieg nicht verstanden. Woran soll die NATO denn gescheitert sein? Wer hat tatsächlich geglaubt, dass die USA oder das NATO-Bündnis wegen der Menschenrechte und Demokratie in das Land einmarschierten? Hier wäre tatsächlich mehr geopolitisches Denken angebracht. Schon der Glaube daran, dass dieses Bündnis unter der Führung der USA die Taliban vollständig „besiegen“ wollte, trifft nicht zu. Bereits der Einmarsch 2001 war begleitet von Verhandlungen mit dem engen Verbündeten Pakistan, einem künstlichen, kolonialen und religiös-fundamentalistischem Staatskonstrukt aus der Zeit der britischen Kolonialherrschaft, der als Pufferzone zur russischen Einflusssphäre in Abspaltung von Afghanistan und Indien 1947 entstanden ist. Den Taliban-Kämpfern ist freies Geleit zum Rückzug gewährt worden, in die Grenzregionen von Afghanistan und Pakistan. Nicht etwa aus Gründen des humanitären Kriegsrechts, sondern weil die Taliban-Regierung bis zu diesem Zeitpunkt von Pakistan installiert worden war und man dem Verbündeten zumindest die ausgebildeten Kämpfer lebendig zurückschicken wollte.

Hätte die NATO die Taliban besiegen wollen, hätten sie ihren wichtigsten militärischen Vorteil bekämpft: ihr sicheres Rückzugsgebiet, das pakistanische Grenzgebiet zu Afghanistan. Hier wurden die Taliban vom Verbündeten Pakistan versorgt: medizinisch, militärisch, ideologisch und mit Nachwuchs. Die Familien der Kämpfer und die ökonomischen Handels- und Versorgungsrouten der Taliban-Wirtschaft waren stets geschützt. In dieser Zeit haben die Taliban nicht nur finanziell erhebliche Zuwendungen aus Katar, den Emiraten und Pakistan bezogen, sondern auch eine beachtliche Gewaltökonomie mit Einnahmen aus dem Opiumgeschäft, Schutzzöllen und Steuern errichtet und konnten ihre Kämpfer finanziell ohne Weiteres um ein Vielfaches entlohnen als die afghanischen Soldaten. Afghanistan war zu keinem Zeitpunkt so wichtig wie das Bündnis mit der Atommacht Pakistan, dessen Militärbudget die USA jährlich mit mehreren Milliarden unterstützen. Der unangetastete Sitz der Taliban-Führung befindet sich in Quetta, einer pakistanischen Großstadt, und wird jetzt kurzerhand nach Kabul umverlegt.

Nein, der Imperialismus wurde nicht besiegt, die USA haben sich aus innenpolitischen Gründen und einer sich schon seit Barack Obama strategisch grundlegend anders ausgerichteten Außenpolitik zurückgezogen. Dabei haben sie die Taliban zum Schluss als nützlicheren Partner angesehen als die korrupte afghanische Regierung. Die Verhandlungen zum Abzug haben die USA mit den Taliban seit Februar 2020 geführt, noch unter Donald Trump und unter Ausschluss der afghanischen Regierung. Das Ergebnis der Vereinbarung enthält neben der Zusicherung der Taliban, dass von Afghanistan keine Gefahr mehr für die USA ausgehen dürfe, sogar den Passus, ökonomische Beziehungen aufrecht zu unterhalten. Der Journalist Paul Nuki vom britischen Telegraph vermutet dahinter ein potenzielles „new US/Afghani narco hub“.

Verloren haben die USA und die NATO vielleicht an Ansehen und Glaubwürdigkeit. Die Zusicherung Afghanistans als eine Einflusssphäre hat man sich aber schon seit Februar 2020 ausgehandelt. Fortan aber ohne Bodentruppen und damit günstiger als bisher – und zudem der neuen innenpolitischen Lage und veränderten Außenpolitik entsprechend. Ausdrücklich festgehalten in dem ausgehandelten Dokument wurde auch, dass die USA das Emirat der Taliban nicht anerkennen würden. Eine nichtanerkannte Regierung lässt sich völkerrechtlich leichter angreifen, etwa mit milden Mitteln aus der Luft – als Erinnerung an die Vereinbarung. Im Fall der Fälle.

Selbst wenn man es politisch für vertretbar hält, im Kampf gegen den Imperialismus all das drohende Morden, die drohenden Vergewaltigungen, die drohenden Versklavungen von Frauen als „Kollateralschaden“ geopolitischer Kämpfe zu ignorieren: Wer tatsächlich eine anti-imperialistische „Einheitsfront“ mit diesen Taliban imaginieren kann,der sollte sich vorher dringend in machtpolitischen und geostrategischen Fragen noch schulen – um gegenüber den „armen Bauern in Sandalen“, wie es Lindisfarne und Neal formulieren, auch wirklich die intellektuelle Führerschaft übernehmen zu können, die gerade in Militärjets der Kataris zwischen Doha, Kandahar und Kabul jetten.

Moheb Shafaqyar ist Jurist, Exilafghane und lebt in Berlin. Er ist Mitglied der Linkspartei

Nur für kurze Zeit!

12 Monate lesen, nur 9 bezahlen

Freitag-Abo mit dem neuen Roman von Jakob Augstein Jetzt Ihr handsigniertes Exemplar sichern

Print

Erhalten Sie die Printausgabe zum rabattierten Preis inkl. dem Roman „Die Farbe des Feuers“.

Zur Print-Aktion

Digital

Lesen Sie den digitalen Freitag zum Vorteilspreis und entdecken Sie „Die Farbe des Feuers“.

Zur Digital-Aktion

Dieser Artikel ist für Sie kostenlos. Unabhängiger und kritischer Journalismus braucht aber Unterstützung. Wir freuen uns daher, wenn Sie den Freitag abonnieren und dabei mithelfen, eine vielfältige Medienlandschaft zu erhalten. Dafür bedanken wir uns schon jetzt bei Ihnen!

Jetzt kostenlos testen

Was ist Ihre Meinung?
Diskutieren Sie mit.

Kommentare einblenden