Es kann eigentlich von niemandem mehr übersehen werden, der Irak-Konflikt lebt in besonderer Weise von einer Hegemonialpolitik der Vereinigten Staaten, die nicht zuletzt gegen Westeuropa als politischen Alliierten und zugleich mächtigsten ökonomischen Rivalen gerichtet ist. Gerade deshalb ist dieser Konflikt der authentische Anlass für den sich zuspitzenden Zwist zwischen den USA einerseits und Deutschland und Frankreich andererseits. Insofern lässt sich Hermann Scheers Schlussfolgerung nur zuzustimmen, dass "die Selbstbestimmung der EU eine multilaterale Weltordnung erfordert". Es scheint dringend geboten, diese Erkenntnis um eine Analyse der transatlantischen Konfliktpotenziale zu bereichern und nach sinnvollen Schritten auf Europas steinigem Weg zu einer multilateralen Weltordnung zu fragen.
Amerikas Unilateralismus bedeutet weit mehr als eine imperiale Neuordnung der Welt - es geht um die absolute Weltherrschaft. Um dieses Ziel zu erreichen, sind Bush und seine Regierungsmannschaft offenbar entschlossen, ungeachtet der ablehnenden Haltung einer überwältigenden Mehrheit der Weltbevölkerung und Weltstaatengemeinschaft, gegen den Irak Krieg zu führen, denn die jetzige US-Regierung repräsentiert eine von Machthunger, Öldurst und fundamentalistischer Rechthaberei getriebene Machtelite. Das zentrale Motiv ist unverkennbar, durch einen Sieg möchte man aller Welt die eigene militärische Dominanz demonstrativ vor Augen führen. Dass es zugleich um den monopolistischen Zugriff auf die strategischen Ölreserven im Mittleren Osten geht, steht außer Frage. Entscheidend ist jedoch, dass George W. Bush als Präsident die USA militärisch für mächtig genug hält, um Amerikas unilaterale Weltordnung mit zermalmender Stärke durchzusetzen. Darin bestärkt ihn augenscheinlich die Überzeugung, dass "Gott Amerika diese Stärke verliehen hat", um "den Frieden in der Welt herzustellen".
Machen wir uns nichts vor: Die erstrebte absolute Vorherrschaft der USA wird angesichts ihrer flächendeckenden Auswirkungen auf das Zusammenleben der Völker, auf die Zunahme globaler Ungerechtigkeit und die Zuspitzung einer weltweiten Umweltkrise imperialistischer sein als alle bisher in der Weltgeschichte bekannten imperialistischen Systeme.
An dieser verhängnisvollen Perspektive war und ist Westeuropa selbst nicht unbeteiligt. Durch seinen vasallenhaften Beistand für die US-Kriege auf dem Balkan - insbesondere den Bombenkrieg gegen Jugoslawien 1999 - wurde seit Mitte der neunziger Jahre sukzessive dem US-Unilateralismus der Weg bereitet. Bundeskanzler Schröder scheint diesen historischen Fehler inzwischen begriffen zu haben und seit dem Sommer 2002 zu spüren, wohin die Reise gehen soll. Außenminister Fischer hat dagegen offenbar die Zeichen der Zeit noch nicht erkannt, sein Vertrauen in das transatlantische Bündnis scheint größer zu sein als das Vertrauen in die Fähigkeit der Europäische Union, den Aufbau einer multilateralen Weltordnung voranzutreiben. Sein Nein zum Irak-Krieg ist merklich zurückhaltend, jedenfalls nicht leidenschaftlich überzeugend. Überdies bleibt rätselhaft, warum sich der deutsche Außenminister die Chance, die Staaten Osteuropas für eine gesamteuropäische Anti-Kriegsposition zu gewinnen, entgehen ließ. Colin Powell hat es dagegen verstanden, dieses Versäumnis für Amerikas Kriegslegitimation zu nutzen. Die zehn osteuropäischen Staaten, die sich zur Ergebenheitsadresse an die USA veranlasst sahen, sind ja nicht nur teils schon Mitglied, teils noch Anwärter der NATO, sie sind allesamt auch Bewerber um eine möglichst baldige Mitgliedschaft in der EU.
Es sei auch daran erinnert, dass die Entwicklung hin zu Amerikas unilateraler Weltordnung nicht erst mit der Amtsübernahme von George W. Bush und nicht erst nach dem Ende des Kalten Krieges begann. Die Wurzeln dieser Hybris lassen sich bis in die siebziger Jahre hinein verfolgen. Man denke an den NATO-Doppelbeschluss von 1979 zur Stationierung nuklearer Mittelstreckenraketen in Westeuropa. Die Grundlagen der US-Hegemonialstruktur sind lange vor der Erosion des Ostblocks 1990/91 im Herrschaftssystem der Vereinigten Staaten entstanden. Seit dem Zusammenbruch des Warschauer Vertrages wie dem Verschwinden der Sowjetunion konnten die Protagonisten eines Hegemonialanspruchs jedoch immer unverhohlener und offensiver in Erscheinung treten. Nun haben sie den bisher verborgenen transatlantischen Gegensatz unwiderruflich und glasklar zu Tage gefördert.
Hat aber der europäische Kontinent in seiner Gesamtheit überhaupt eine andere Perspektive, als sich der absoluten Weltherrschaft der USA zu unterwerfen? Oder wird er in der Lage sein, getrieben durch den Irak-Konflikt, eigene moralische und politische Ressourcen für eine multilaterale Weltordnung zu behaupten?
Welche konkreten Schritte auch entwickelt werden, Europas Weg hin zu einer multilaterale Weltordnung müsste so beschaffen sein, dass er bei der amerikanischen Bevölkerung nicht a priori auf Ablehnung stößt und den Handlungsspielraum der Protagonisten einer unilateralen Weltordnung sukzessive einengt. Andernfalls besteht die reale Gefahr, eine multilaterale Perspektive für die Welt über Jahre oder gar Jahrzehnte zu blockieren. Dies impliziert ernsthafte europäische Initiativen für identitätsstiftende Projekte, die den Dissens mit der US-Regierung nicht verstärken. In diesem Sinne ist Michael Brumliks Vorschlag, dem "amerikanischen Neoimperialismus den europäischen Neo-Neutralismus" entgegen zu setzen, "die Mitgliedschaft im militärischen Teil der NATO ruhen und ... die entsprechenden bilateralen Übereinkünfte überprüfen (zu) lassen", eher kontraproduktiv. Derart symbolische Schritte sind dazu geeignet, auf beiden Seiten des Atlantiks Gegenkräfte zu mobilisieren. Sinnvoller erscheint es, diese "Nebenkriegsschauplätze" zu meiden.
Die NATO hat seit dem Krieg der USA in Afghanistan ohnehin an Bedeutung verloren. Augenblicklich driftet sie durch eine ernsthafte Krise, von der niemand sagen kann, ob sie noch eskaliert. Die erkennbare Instrumentalisierung der Türkei, um andere europäische NATO-Mitglieder in die Falle einer Teilnahme am Krieg gegen den Irak zu locken, und das in einem Augenblick, da sich Deutschland und Frankreich um dessen Verhinderung bemühen, offenbart die Art des verbliebenen Interesses der USA an der westlichen Allianz. In Amerikas unipolarer Weltordnung wird sich dieses Bündnis weiter zum universell und global gebrauchsfähigen Machtvehikel der USA wandeln und dadurch die ihm einst zugedachte Funktion einer partnerschaftlichen Sicherheit vollends einbüßen.
In einer multipolaren Weltordnung wäre die NATO ohnehin ein Fremdkörper. Dagegen entspricht die Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit (OSZE) weitestgehend Kriterien einer Multipolarität, die als legitime Antwort gegeben werden muss. Daher stünde die Wiederbelebung der im vergangenen Jahrzehnt immer mehr zurückgedrängten OSZE gerade jetzt auf Europas außenpolitischer Agenda. Dieses auf die Zukunft gerichtete Projekt gezielt und offensiv weiter zu entwickeln, würde eine unvergleichbar stärkere Dynamik für eine multipolare Weltordnung entfalten als eine lähmende und perspektivlose Beschäftigung mit der NATO.
Mohssen Massarrat ist Politikwissenschaftler an der Universität Osnabrück und Verfasser des Buches Amerikas Weltordnung. Hegemonie und Kriege um Öl, das demnächst im Hamburger VSA-Verlag erscheint.
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