„Wir wissen nicht, was uns am Ende erwartet“

Dokumentarfilm 2015 flohen Hassan Fazili und seine Familie aus Afghanistan. Drei Jahre dauerte ihre Flucht, die sie mit Handys filmten. Daraus entstand der Film „Midnight Traveler“

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„Wir wissen nicht, was uns am Ende erwartet“

Foto: Midnight Traveler/Flickr (Public Domain)

Im Spätsommer 2019 treffen ein Freund und ich Hassan in einem Café in Kreuzberg. Wir haben gemeinsame Freunde, die von Hassan und seinem Film erzählten. Seine Geschichte interessiert uns und wir sitzen über vier Stunden zusammen. Hassan erzählt durch das bildliche Nutzen seiner Hände und Füße von seinem Leben, seiner Familie, seiner Flucht und seiner Situation jetzt. Eine Freundin übersetzt von Farsi zu Deutsch. Auf die Frage, wo er sich und seine Familie jetzt sieht, hält er seine Hand hoch, zwischen seinen Finger ist ein Stück Papier.

„Meine Hand ist Afghanistan, das Stück Papier ist meine Familie“, sagt er und lässt das Papier los. Das Papier schwebt langsam und Kreise ziehend zu Boden. „Afghanistan hat uns losgelassen“, fährt Hassan fort, während er nachdenklich auf das herabschwebende Papier blickt, „aber wir schweben in der Luft. Wir haben den Boden noch nicht erreicht, und wir wissen nicht, was uns am Ende erwartet.“

Es ist 2014, kurz bevor Hassan und seine Familie 2015 fliehen müssen. Sein neuster Film ist gerade erschienen „Peace in Afghanistan“, ein Dokumentarfilm über den Talibankämpfer Mullah Turjan. Dieser hat seine Waffen abgegeben, einen Deal mit der afghanischen Regierung gemacht und dafür eine Wohnung und Geld bekommen. Der Film wird im afghanischen Fernsehen gezeigt, um weitere Taliban zu bewegen, ihre Waffen niederzulegen. Parallel dazu betreibt Hassan mit Freunden das Art Café in Kabul, ein Treffpunkt für Kunst und Kultur. Es zieht Studenten an, Künstler, Musiker und Journalisten und steht für den Teil der afghanischen Gesellschaft, der sich mehr demokratische Freiheit wünscht.

Die Ereignisse überschlagen sich. Erst wird Mullah Turjan ermordet und Hassan für seine Beteiligung an dem Film von den Taliban bedroht. Zur gleichen Zeit stürmen Polizisten das Art Café, welches mit seiner offenen Atmosphäre und dem Zugang für beide Geschlechter Unmut auslöst. Später hetzt die Polizei Gläubige einer nahen Moschee gegen das Café auf. Wegen der falschen Behauptung, es würde dort eine Kirche betrieben und der Koran verbrannt werden, sammeln sich über 300 wütende Menschen vor dem Café und drohen Betreiber*innen und Gästen mit dem Tod.

Die Familie Fazili beschließt, die Stadt zu verlassen und zieht in Hassans Heimatort Balkhab im Norden Afghanistans. Nach einigen Wochen bekommt Hassan jedoch einen Anruf eines alten Freundes, inzwischen selbst ein Talibankämpfer, der ihn warnt: die Taliban hätten die Familie aufgespürt und Hassan sei in Lebensgefahr.

Die Familie flieht nach Tadschikistan, von wo aus sie in zahlreichen Ländern Asyl beantragen. Wie ein Spielball der Behörden fühlen sie sich. Nach einem Jahr ist ihnen nach zahlreichen Anträgen kein Asyl gewährt worden. Hassan beginnt, mit einem Handy ihr Leben zu filmen, um den Behörden zu zeigen, unter welchen Bedingungen seine Familie lebt. Als fest steht, dass sie in Tadschikistan nicht bleiben können, bleibt ihnen nur noch die illegale Flucht als Option. Die Familie beschließt, auch diese zu filmen.

„Wir haben gefilmt, weil wir nicht wussten, ob wir es schaffen“, sagt Hassan. „Wir wollten nicht ungehört verschwinden, ohne unsere Geschichte erzählen zu können.“

Die Flucht der Familie Fazili führt sie in drei Jahren von Tadschikistan, zurück über Afghanistan in den Iran, die Türkei, Bulgarien, Serbien, Ungarn und schließlich im April 2018 nach Deutschland. Daraus entsteht der Dokumentarfilm „Midnight Traveler“, der auf der diesjährigen Berlinale nominiert war und auf zahlreichen anderen Filmfestivals gezeigt wird.

Gefilmt mit drei Handys von allen vier Mitgliedern der Familie, von Hassan selbst, seiner Frau Fatima und ihren beiden Töchtern Nargis und Zahra zeigt dieser Dokumentarfilm greifbar und intim die Geschichte und Entwicklung einer Familie im Schatten einer illegalen Flucht. Ein Narrativ, das nicht von außen zugeschrieben eine Geschichte aufbaut, sondern ein Dokument der Realitäten einer Flucht, der Unsicherheit des Status illegaler Flüchtlinge und den damit verbundenen Ängsten und Schwierigkeiten. Vor allem aber die Realität einer starken Familie, die mit dem Wunsch nach Sicherheit über siebentausend Kilometer zurücklegte.

Die Familie Fazili hatte Glück. Sie ist körperlich unversehrt in Deutschland angekommen, der Bedrohung in Afghanistan entkommen und alle vier haben den möglichen Gefahren ihrer Flucht getrotzt. Und trotzdem – sie waren widerholt bedroht, teilweise in Lebensgefahr. Und heute, in Deutschland, sind sie geduldet, ihr Asylantrag ist noch nicht durch. Nach wie vor sind sie das Blatt, das langsam durch die Luft zu Boden schwebt, nicht wissend, wann das Ende kommt – und was das Ende bedeutet.

Der Film „Midnight Traveler“ wird am 06. November 2019 um 21:00 Uhr in Berlin im FSK Kino in Kreuzberg gezeigt.

Weitere Informationen und Anmeldung für den Film unter fsk-kino.peripherfilm.de.

Eingebetteter Medieninhalt

Hassan Fazili ist ein afghanischer Regisseur und Kameramann. Bekannt ist er besonders für seine Filme "Voice of a Nation. My Journey through Afghanistan" (2012) und "Midnight Traveler" (2019).

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