Die wichtigste Regel beim Schreiben eines Gedichts ist gerade in Zeiten des Internets, wo man alles gleich veröffentlichen kann: Eine Nacht drüber schlafen. Dann gewinnt man Abstand und hat, falls man nicht über ein fotografisches Gedächtnis verfügt, die Möglichkeit den Text subjektiv etwas objektiver zu beurteilen.
Da ich nicht nur Gedichte schreibe, sondern auch jährlich einen Lyrik-Wettbewerb veranstalte – der aktuelle beginnt gerade –, musste ich mich etwas intensiver mit der Frage auseinandersetzen, wie einzelne Gedichte zu bewerten sind. Im Prinzip ist der Weg zur Bewertung dem zur Interpretation sehr ähnlich: Am Anfang steht die formale Analyse, nur analysiert man das Gedicht nicht in Richtung Sinn, sondern in Richtung Qualität. Gefragt ist zu allererst das handwerkliche Können.
Dabei gibt es ein Problem: Zwar verwenden immer noch viele Dichter Metrum und Reim, aber moderner ist zweifellos der freie Vers, der ohne diese beiden Bedingungen auskommt. Es wäre jedoch ein Irrtum anzunehmen, dass freie Verse ohne handwerkliche Qualität auskommen bzw. diese nicht eingeschätzt werden kann.
Beginnt man die Analyse wie üblich bei der Form, ist es bei traditionellen Gedichten einfach festzustellen, ob das Metrum gesetzt und eingehalten wurde, ob die Reime stimmen. Bei freien Versen ist der Einsatz der Zeilenumbrüche ein wichtiges Qualitätsmerkmal. Auch hier reicht wie beim Metrum Pi mal Daumen nicht aus. Die Zeilenumbrüche und die damit entstehenden Pausen sollten zur inhaltlichen Unterstützung genutzt werden und etwas zum Rhythmus beitragen..
Bei der Analyse der Sprachqualität des Gedichts kann man beide Arten von Gedichten wieder unter gemeinsamen Kriterien betrachten. Ist der sprachliche Stil einheitlich? Gibt es sprachliche Nachlässigkeiten? Dienen sprachliche Besonderheiten dem Inhalt? Dabei fallen die Probleme bei Reimgedichten wesentlich offensichtlicher ins Auge, wenn es am Geschick hapert, Metrum, Reim und Sprache unter einen Hut zu bringen. Bei modernen Gedichten droht hingegen eine gewisse Schnoddrigkeit im Umgang mit der Sprache, weil die formalen Zwänge fehlen.
Schließlich ist noch der Inhalt zu begutachten, seine Stimmigkeit, seine Originalität. Hier haben Reimdichter manchmal Probleme den roten Faden aufrechtzuerhalten, weil sie sich von den Reimen treiben lassen. Auf der anderen Seite gibt es bei modernen Formen eine stärkere Tendenz zur bildhaften Sprache. Hier lauert die Gefahr, dass Bilder um der Bilder willen gewählt werden, sie das Gedicht nur aufpumpen, die inhaltliche Substanz aber dünn bleibt.
Hat man nun diese drei Komponenten untersucht, bleibt noch die Frage des Zusammenspiels von Form, Sprache und Inhalt. Dies ist der eher subjektive Teil der Bewertung, wobei auch die einzelnen Komponenten sicher nicht nur objektiv bewertet werden.
Insgesamt gibt es folgende Tendenzen: Schwachpunkte sind leichter bei traditionellen Gedichten zu entdecken, aber dafür ist es wesentlich schwieriger mit modernen Versen zu glänzen. Sie bringen eben nicht einen eingebauten Zwang zur Virtuosität mit.
Da nicht jeder in einer Wettbewerbsjury sitzt oder selbst Gedichte schreibt, gibt es noch einen interessanten Anwendungsfall: Man schaue sich Gedichte an, die Jahrhunderte überlebt haben und frage sich: Warum? Ist das nur Glück und Zufall oder haben diese Gedichte eine besondere Qualität? Wenn man sie qualitäts-analytisch liest, kann das durchaus den Genuss steigern.
Kommentare 10
Ich habe den Ein
Druck meine Wuehlmaus
bohnert.
Mal wieder.
Mann, wie haben Sie's nur hinge-Krieg-t, ein ganzes Jahrhundert zu verschlafen! Hinterm Mond?
Hochachtung, Dichter!
Mir gefallen die Überlegungen, auch wenn für meinen Geschmack ein bisschen viel Gewicht auf Metrik und Formales gelegt wird.
Gedichte muten vielleicht gelegentlich altmodisch an, aber gute Lyrik ist zeitlos und genauso unvergänglich wie der Mond, hinter dem sie zu wohnen scheint.
off topics? erbitte den rat eines ausgewiesenen(?) austral. dada-didaktikers:
habe, magnetisiert wie ich bin, eine bemerkung zu einem beitrag einer hohen dame verfaßt und fühle mich un-glücklich mit meinem bisherigen auftritts-motto. deine meinung zu meinem neuen auftritt:
denkzone8, autor von zwei guten kommentaren, div. kurz-opern(i.v.: opera in-seria fulminante) und einem gelungenen essay über das begehren(pearls before swine). geschäfts-mann, wissens-homöo-pathiker, dezenz-rat und senior coach eines berliner stadt-kinds. mit selbst-gestrickter ehren-doktor-mütze f. öffi-kritik.
akzeptabel oder: zu aufgeputzt?
bei verdichteter rede sind drei goldene gedanken zu beachten:
(1) vor der veröffentlichung 1001 nacht drüber schlafen.
(2) schön solls sein.
(3) beim ent-sorgen nicht zögern.
im übrigen kann ich die poetische tendenz der beiden kommentatoren nur unterstützen.
Vielversprechend.
Am Zeilen-Bruch muss unbedingt gearbeitet werden.
über den lyrischen Wettbewerb
ein geh dicht
wenns geht
es kommt nie
zu spät
zurzeit
und zum Gruß
zu zweit
und zu Fuß
das ist niemals verkehrt
und wenn es mal holpert
über Worthülsen stolpert
so geht es doch beim
stolpern dem Reim
der Substanz der Gedanken
dem Bewusstsein, den Schranken
nur sich selbst auf den Leim
und das hat keinen Wert
wie ein Pferd
eine Mähre
und ein Klepper
nur wäre
wäre Lyrik
ein Sport
und der Preis wäre Mord
für das bessere Wort
das ist immer verkehrt
tja, manche menschen können gar nicht anders, als hilf-reich zu sein. gut sie ansprechen zu dürfen.
also auch hier: die not ist überall zu spüren.
wenn gedichte sich stalker-haft aufdrängen, hats der autor schwer ,da hilft ihm kein gewehr.
gedicht-abweiser wie: wenn die muse an dir zerrt, beiß in einen frischen apfel! sind in ihrer probat-heit höchst unzuverlässig.
reim-ohr-würmer konnten noch nie präpariert werden, doch der befallene weiß: es gibt sie.
schon die verdichtete prosa hat sirenen-charakter.
dem drang nach sentenzen, merk-sätzen, pragma-stützen ist kaum zu widerstehen.
kurzum: hiermit rege ich an: zur schaffung einer kleinen ent-sorgungs-spalte für gnomiker, verfolgte des apophthegmas, belagerte des koan, aphorismus-bedrängte, gepeinigte des reim-zwangs: irgendwo auf diesen seiten sollte es doch einen besen-schrank geben, der sonst wenig genutzt wird. bitte um konkretisierungen duch die geschätzten wort-geber (wenns nicht anders geht, auch in gebundener Form).
ja, es gibt sie. so wie es alles gibt was es nimmt. oh seele mio? wen die prajna stütze biss? stalker04? mancher strecke wortgewalle in der kummer kammer falle. besen-würmer-kammer-wesen-seids-gewesen-alle, alle!
da nich fuer. (sagt der Hamburger in mir,)