Schlaganfall, Demenz, ein Unfall oder schwere Diabetes. Plötzlich geht es nicht mehr allein. Menschen werden zum Pflegefall und benötigen Hilfe. Das vertraute Zuhause muss umgebaut werden, vielleicht ist der Umzug in eine andere Wohnung nötig, manchmal auch ins Heim. Betroffene und deren Angehörige stehen in solchen Situationen vor einem Berg von Problemen. So war es auch bei dem türkischen Ehepaar Akdemir und Fatma Cansi. Sie gehören zur ersten Gastarbeitergeneration und leben in Berlin-Kreuzberg. Akdemir Cansi musste auf Grund seiner Diabetes ein Bein amputiert werden. Sein Leben hing am seidenen Faden. Das Ehepaar dachte, nun sei alles vorbei.
Hilfe kam schließlich aus dem Stadtteil, von der "Koordinierungsstelle rund ums Alter". Insgesamt 13 solcher Einrichtungen in Trägerschaft der Wohlfahrtsverbände sind berlinweit ganz auf die Wünsche und Bedürfnisse von Menschen, die aufgrund von Alter oder Behinderung dringend Unterstützung brauchen, eingestellt. "Wir versuchen, so zu helfen, dass die Menschen trotz aller Einschränkungen ein weitgehend selbstständiges Leben führen können", sagt Gisela Seidel. Sie leitet die zur Diakonie gehörende Kreuzberger Koordinierungsstelle. Als die Cansis zu ihr kamen, riet sie zum Umbau der Wohnung. Die Türschwellen wurden begradigt, für die Badewanne gibt es jetzt einen Lift. Fatma Cansi kann ihren Mann nun relativ problemlos pflegen.
Viele solcher Klienten hat Gisela Seidel in ihrer Kartei. Alle haben unterschiedliche Probleme, "aber alle bekommen individuelle Hilfe". Immer wieder ist die Sozialarbeiterin in den vergangenen Wochen von Journalisten nach ihrer Meinung zu den geplanten Pflegestützpunkten gefragt worden. "Das, was Ulla Schmidt will, machen wir eigentlich seit Jahr und Tag", sagt sie. Dennoch würden Seidel und ihre Kolleginnen einiges gerne verbessert sehen. Deshalb haben sie sich zusammengesetzt und ein Modell erarbeitet, das den Koordinierungsstellen neue Aufgaben überträgt.
Wichtig erscheint den Mitarbeiterinnen die Beratung und Begleitung von jungen Klienten, von Eltern, deren Kinder behindert sind oder Jugendlichen, die nach Unfällen im Rollstuhl leben müssen. Die Modell-Planerinnen wollen auch zusätzliche Angebote im Stadtteil schaffen wie beispielsweise ein Tanzcafé für Alzheimer-Kranke. Gleichzeitig sieht das Modell eine bessere Kooperation und Vernetzung zwischen den bestehenden sozialen Diensten vor. Noch hat die Berliner Sozialsenatorin Heidi Knake-Werner (Die Linke) dieses Modell nicht abgesegnet, denn sie wollte weder neue Pflegestützpunkte noch weitere alternative Modellprojekte. "Es kommt mir darauf an, in den bestehenden 13 Koordinierungsstellen alle Angebote so öffentlich und zugänglich zu machen, dass sie auch tatsächlich alle Bürger erreichen", erklärt die Senatorin. Der nun ausgehandelte politische Kompromiss scheint ihr entgegen zu kommen. Dabei wären dem Land Berlin mit der Einrichtung der Stützpunkte gar keine neuen Kosten entstanden, denn der Staat finanziert sie in der Anlaufphase jeweils mit 45.000 Euro. Wer die Finanzierung danach übernehmen soll, ist allerdings nicht geklärt.
Im Nachbarland Brandenburg ist man viel aufgeschlossener, hier stößt die Stützpunkt-Idee als Weiterentwicklung der Pflegereform durchaus auf wohlwollendes Interesse. Einen Stützpunkt für 20.000 Einwohner will Ulla Schmidt. Für Jens Büttner vom Potsdamer Sozialministerium geht das Konzept auf. Für ihn bringen die "Pflegecenter" vor allem den Menschen in ländlichen Regionen, die weitab von den sozialen Diensten leben, Vorteile. "Da hätten wir dann alles unter einem Dach", sagt er. Seine Chefin, Sozialministerin Dagmar Ziegler (SPD), ist ohnehin dabei, die Pflege in dem ostdeutschen Bundesland total umzukrempeln. Wohnortnah soll sie sein und mehr auf freiwillige Nachbarschaftshilfe angelegt. Alte und behinderte Menschen auf dem flachen Land benötigen schließlich andere Hilfen als die Betroffenen in der Großstadt, wo sich die sozialen Dienste gegenseitig Konkurrenz machen. Deshalb denkt man im südlichen Brandenburg auch bereits über Modelle nach, die dem Leben in der Region angepasst werden sollen. ABC-Stellen beispielsweise. Diese Anlauf- und Beratungs-Center sollen künftig zu Pflegestützpunkten ausgebaut werden. Auch von mobilen Diensten ist die Rede, von Bussen, die zu den Menschen fahren, statt auf sie zu warten. "Wir brauchen mehr Angebote im Pflegesektor", betont Büttner, auch wenn die konkrete Ausgestaltung noch nicht ausgereift ist.
Der nordrhein-westfälische Sozialminister Karl-Josef Laumann (CDU) dagegen lehnte die geplanten Pflegestützpunkte von vornherein rundweg ab. Zu teuer, heißt es im Ministerium. "Das können wir uns nicht leisten", behauptet Laumann seit Monaten. Er kritisiert, dass mit der Einführung der Stützpunkte "noch kein zusätzlicher Handschlag am Bett eines Pflegebedürftigen finanziert wird". Er will vielmehr, dass die Mehreinnahmen der Pflegeversicherung "den Betroffenen direkt zugute kommen und nicht in neue Modelle fließen" sollten. Auch ihm kommt nun entgegen, dass die Pflegestützpunkte künftig Ländersache sind. So wird in Nordrhein-Westfalen alles beim Alten bleiben.
Der Sozialverband Deutschland (SoVD), der die von Schmidt geplanten Stützpunkte ursprünglich ebenfalls ablehnte, fordert nun eine von den Kostenträgern und Leistungserbringern unabhängige Beratung. Wenn die Kranken- oder Pflegekasse beispielsweise berät und gleichzeitig über Leistungen entscheiden soll, sind Interessenkollisionen programmiert. An dieser "zu starken Rolle der Pflegekassen" bei der individuellen Beratung hatte sich auch die Kritik des Bundesverbands der Verbraucherzentrale entzündet. Pflegestützpunkte - wenn sie denn schon entstehen - sollten anders ausgestaltet werden, heißt es in der Berliner Zentrale. Auch er kritisiert, dass Beratung und Entscheidungen über Leistungen der Kassen nicht in einer Hand liegen dürfen. Doch davon weicht auch der Bund-Länder-Kompromiss nicht ab, der Einfluss der Kranken- und Pflegekassen auf die Stützpunkte wird dominant bleiben.
Die nervöse Reaktion der Wohlfahrts- und Sozialverbände ist auch darauf zurückzuführen, dass die Einrichtung von Stützpunkten teuer wird. Zwar sehen auch sie einerseits Bedarf für ergänzende Dienste wie in Kreuzberg, andererseits fürchten sie auch ein Mehr an Belastung ihres ohnehin knappen Personals. Gisela Seidel hat die finanzielle Zuwendung für 2008 mittlerweile bekommen. Und ihr Modellprojekt? Das scheint irgendwie verloren gegangen zu sein im zuständigen Verwaltungsapparat des Berliner Senats.
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