Pastell-rosa Anstrich, unten links ein Spätkauf – das Haus in der Popkovka-Straße unterscheidet sich kaum von anderen Häusern in Kitai Gorod, dem ältesten Stadtteil von Moskau. Hier zu wohnen ist für die meisten unbezahlbar. Sie gehen in dem Innenstadtviertel aber tagsüber einkaufen, nachts feiern und ungewöhnliche Orte entdecken. Hausnummer 12 in der Popkovka ist einer dieser Orte. 20 Stufen muss man zum Café „Ziferblat“ hinaufsteigen.
Oben angekommen, fällt der Blick zunächst auf eine Glasvitrine, gefüllt mit Weckern. In der anderen Ecke des Durchgangszimmers sitzen zwei junge Menschen hinter Laptop und Kasse. Für Neulinge gibt es eine kurze Erklärung inklusive Führung durchs Café, Stammgäste
gäste kennen das Ritual: Wecker auswählen, Uhrzeit sowie Name des Weckers und eigenen Namen auf einen Zettel notieren. Im Ziferblat werden nicht Speisen oder Getränke berechnet, sondern Zeit. Jede Minute kostet zwei Rubel, eine Stunde umgerechnet etwa drei Euro. Ein kleiner Betrag für Kaffeevariationen aller Art, Tee, Kekse, Früchte und – eine Atmosphäre, die wohl einmalig in Moskau ist.„Komische Dinge tun“Obwohl der Eingang zum Café versteckt in einem Hinterhof liegt und keine Schilder einen Hinweis geben, ist das Ziferblat immer gut besucht. An diesem frühen Montagabend sind die knapp 100 Plätze fast alle besetzt. Auf Couches und in alten Sesseln sitzen Schüler, Studenten, Künstler, vereinzelt auch Geschäftsleute. Nicht selten machen die Besucher auf ihren mitgebrachten Instrumenten Musik. Essen selbst mitzubringen, ist ausdrücklich erwünscht. Seit anderthalb Jahren gibt es das Ziferblat. Die Idee dahinter ist aber schon älter, denn Moskau hat zwei Hauptprobleme: Es mangelt an Raum und an Freundlichkeit.Der Café-Gründer Ivan Mitin erinnert sich an die Anfänge: „Für unser damaliges Kunstprojekt brauchten wir einen Treffpunkt – einen Platz, an dem man nicht für jede Tasse Kaffee zahlen musste und wo einen die Kellner nicht unfreundlich anstarrten, nur weil man Plätze belegt und komische Dinge dabei tut.“ Mitin hat sich bereits als Autor und Schauspieler versucht, in seiner Rolle als Geschäftsmann ist er aber bisher am erfolgreichsten. Der 27-Jährige wirkt jungenhaft. Während er selbstironisch von seinen unzähligen gescheiterten Versuchen berichtet, als Künstler berühmt zu werden, spielt er mit seinem Handy. Seinen ersten großen Erfolg hatte er mit dem „Baumhaus“, dem Vorläufer des Ziferblat. In einem kleinen Zimmer unterm Dach schuf er einen Freiraum, in dem sich die Leute zum Kaffeetrinken und Diskutieren treffen konnten, bezahlt wurde freiwillig.Weil das normale Moskauer Kaffeevergnügen eine teure – fünf Euro für den Latte macchiato sind nicht selten – und meist unfreundliche Angelegenheit ist, entwickelte Mitin seine Geschäftsidee, für die verbrachte Zeit in einem freundlichen Café etwas zu berechnen. Natürlich hätten ihn die Freunde gewarnt: Viele Leute würden kommen, mehrere Tassen Kaffee in sich hineinstürzen, möglichst viele Kekse mampfen und das Café nach einer halben Stunde wieder verlassen. „Aber mal ehrlich, wie viel Kaffee kann man in einer Stunde trinken? Bei fünf Tassen stirbt man doch …“Die Besucher des Ziferblat kommen tatsächlich nicht um zu hasten, sondern um lange zu bleiben. Für viele ist das Café eine Oase im rauen Moskauer Alltag. Mittlerweile hat Mitin ein zweites Ziferblat in Moskau eröffnet, sechs weitere Cafés in anderen Großstädten Russlands und der Ukraine. Dass sein Zeit-Freundlichkeits-Konzept auch außerhalb der Metropole ankommt, zieht aber auch die Konkurrenz an. Unter dem Label „Anti-Café“ – Mitin selbst nennt seine Cafés lieber „freien Raum“ – eröffneten 2012 unzählige Läden in Moskau mit dem gleichen Prinzip der Bezahlung. Das Wort „anti“ bezieht sich dabei auf das Finanzierungsmodell.Erst die Menschen verändernFür Mitin sind die anderen Anti-Cafés aber nicht lediglich lästige Konkurrenz, sondern eine Verstümmelung seiner Idee. „Ich wollte den Menschen zeigen, wie man in Moskau offener und freundlicher miteinander kommunzieren, die gesellschaftlichen Umgangsformen im Land verändern und sich durch gegenseitigen Austausch bilden kann. Aber diese anderen Café-Besitzer stellen einfach nur Playstations auf.“ Die Anti-Cafés seien lediglich auf den Profit aus, die Atmosphäre und die Grundidee hätten sie nicht übernommen. Dabei hatte Mitin Workshops angeboten, um seine Vorstellung von einer besseren Gesellschaft den anderen Cafébesitzern näherzubringen. „Ich wollte, dass die Menschen sich Zeit kaufen, stattdessen töten sie sie nur!“Obwohl Mitin das Ziferblat als unpolitischen Ort sieht, wird seine gesellschaftskritische Ausrichtung deutlich. Für ihn ist aber in Russland nicht Putin allein das Problem, sondern die Gesellschaft an sich. In einem Interview sagte er kürzlich, dass sich die Menschen erst verändern müssten, um eine neue Regierung verdient zu haben. Die Occupy-Proteste nach den Präsidentschaftswahlen im Mai 2012, die keine 300 Meter von seinem Café entfernt stattfanden, habe er natürlich unterstützt – mit Kaffee, Tee und Keksen. Die Menschen seien jedoch noch nicht bereit dafür, sich selbst zu organisieren, um etwas zu verändern, sagt Mitin.Das Ziferblat sei sein erster Schritt dahin: Die Mitarbeiter sind für Mitin Mitbesitzer, kein Servicepersonal. Bildung und respektvoller Umgang sollen im Vordergrund stehen. Es gibt Vorträge über Kunst, Fotografie und Esperanto. Außerdem Filmabende, Veranstaltungen zur Freiwilligenarbeit und Gespräche mit Schriftstellern. Mitin sagt, sein nächstes Projekt solle wieder ohne Bezahlung funktionieren. Doch bis es so weit ist, will er zunächst ein Ziferblat in Paris oder Berlin eröffnen. Eines aber soll sich nicht ändern: Wer ins Ziferblat geht, kommt in ein Wohnzimmer zu Freunden. Für maximal neun Euro pro Tag eine gute Möglichkeit zum Innehalten und Verweilen. Ab der vierten Stunde hört der Wecker hier nämlich auf zu ticken.