Lord Giga

Werkschau Aby Warburgs Bilderatlas gilt als legendär. Die rekonstruierten Tafeln zeigen, wie groß aber auch die Missverständnisse sind
Ausgabe 37/2016

Jubiläen, das zeigt sich immer wieder, eignen sich nicht sonderlich gut für kritische Neubewertungen. Sie zergehen zumeist im Selbstzweck unter viel Jubel und Hossassa. Auch anlässlich des 150. Geburtstags des Hamburger Kunsthistorikers, Kulturwissenschaftlers und Bilderforschers Aby Warburg fährt die Verwertungsmaschine hoch. Die Verlage werfen zahlreiche Bücher zum Thema aus, etwa Kurt W. Forsters Ein Blick in die Abgründe der Bilder, und auch kunstinstitutionell schwenkt man den Lorbeerkranz, besonders prominent das Karlsruher ZKM (Zentrum für Kunst und Medien) mit der Ausstellung Aby Warburg Mnemosyne Bilderatlas. Rekonstruktion – Kommentar – Aktualisierung. Die vom praxisnahen Kunsthistoriker Roberto Ohrt und dem Künstler Axel Heil kuratierte Schau widmet sich mit dem Mnemosyne Atlas dem sagenumwobenen, viel zitierten und häufig falsch verstandenen Kernstück der Warburg-Huldigung.

Der Bankierssohn Warburg, der sein Geschäft auf die Erforschung der Bilder verlegt hat, nimmt die ausufernde Arbeit am Atlas 1926 in Hamburg auf, frisch zurück von einem zweijährigen Sanatoriumsaufenthalt. Er kann da mit 60 Jahren bereits eine Karriere vorweisen: Die Fresken des Ferrareser Palazzo Schifanoia hat er längst dechiffriert, der Begriff der „Pathosformel“ für formelhafte Gefühlsausdrücke ist geprägt und auch sein Besuch bei den Hopi-Indianern bereits erfolgt. Und doch ist es vor allem dieses gigantomanische Spätwerk, auf das Warburgs Wirken immer wieder kapriziert wird.

Lässigkeit in Kategorienfragen

Auf mit schwarzem Samt bespannte Tafeln in der Größe 170 × 140 cm – Warburgologie ist totale Akkuratesse! – heftete er Fotografien, Abbildungen, architektonische Zeichnungen mit dem Ziel, Verwandtschaftsbeziehungen herauszuarbeiten. Noch immer schimmert unter diesem komparatistischen Riesenvorhaben Warburgs Lebensthema durch, das Fortleben der Antike in der Kunst der Renaissance – nicht von ungefähr benennt er den Atlas nach Mnemosyne, der griechischen Göttin der Erinnerung. Und doch geht der Bildwissenschaftler in Methode, Umfang und Inhalt weit über die Wiedergeburt der Antike hinaus. Die bis 79 durchnummerierten Tafeln folgen einer inhärenten Systematik, die von der Antike über deren Rückkehr nach Italien, Manet, Dürer, den Barock und Rembrandt in die Gegenwart reichen sollte. Das Vorhaben blieb unvollendet, da Warburg 1929 einem Herzinfarkt erlag; unvollständig ist auch unsere Vorstellung vom Atlas, da lediglich von 63 Bildtafeln eine fotografische Dokumentation erhalten ist.

Steht man nun in Karlsruhe vor den rekonstruierten Tafeln, vollgepinnt mit teils lausigen Tintenstrahldrucken, wird nicht bloß die Monstrosität des Vorhabens fassbar. Auch die Unabgeschlossenheit, die sicherlich ihren Teil zum Mythos Mnemosyne Atlas beigetragen hat, versteht man plötzlich als zwingend für diesen Ansatz. Scheint doch das samtene Tiefschwarz all die Bilder zu enthalten, die Warburg nicht zur Verfügung gestanden haben.

Wie der Bildwissenschaftler im Einzelnen vorging, veranschaulicht schön die Tafel 6 um die Laokoon-Gruppe, jene Plastik also, die den Todeskampf des Priesters und seiner Söhne zeigt. Statt formale Ähnlichkeiten herauszuarbeiten, worauf der Atlas häufig reduziert wird, umstellt Warburg die Gruppe inhaltlich. Dem geopferten Priester stellt er aktive Opferhandlungen aus dem antiken Griechenland bei, bis er schließlich bei rituellen Beerdigungstänzen anlangt. Warburg, auch das ist hier deutlich zu erkennen, hat eher konzentriert mäandert – und nicht wie ein Marshall McLuhan abenteuerliche Brücken geschlagen.

In Collagen stellen die einzelnen Werke untereinander Bezüge her, wie es sprachlich niemals zu leisten wäre. Keine Linearität, stattdessen entsteht eine netzartige Ordnung, die nicht mit Sprache operiert, ohne logische Muster aufzugeben. Selten gerät diese Methode der Verwandtschaftsbeziehungen als Erkenntnisinstrument so klar wie in der Tafel A, die eine fantastische Himmelskarte aus dem 17. Jahrhundert neben einer Karte der kulturellen Wanderungen im Mittelmeerraum sowie einem Stammbaum der Medici-Tornabuoni zeigt. „Verschiedene Systeme von Relationen, in die der Mensch eingestellt ist, kosmisch, irdisch, genealogisch“, notierte Warburg kurz angebunden, als hätte er damit nicht die griechisch-florentinische Linie der abendländischen Kultur ganz dick herausgestrichen.

Erschlagende 1.000 Bilder enthalten die bekannten Tafeln, und tatsächlich fällt erst, wenn man vor ihnen steht, auf, dass Warburg die Medialität seiner Vorlagen kaum respektiert. Die Seite eines Folianten, Fotografien von Bauten oder Skulpturen behandelt er nicht anders als Botticellis Geburt der Venus oder Manets Frühstück im Grünen – alles wird zum Bild! Das mag Absicht sein, schließlich sprach Warburg nur zu gern von „Bilderfahrzeugen“, wobei er die Mobilität sowohl materiell als auch imaginär verstanden hat. Ob Warburg sich jedoch bei einer Fotografie der Laokoon-Gruppe auf die Skulptur bezieht oder vielleicht doch auf unsere Sicht darauf (oder beides zugleich), bleibt genauso offen wie die Frage, ob er im Einzelnen Bezüge und Zitate oder ikonografische Anthropologien und Archetypen herausstreichen wollte. Im Zweifel, so scheint es, alles auf einmal.

Mit „grenzpolizeilicher Befangenheit“ reagierten seinerzeit Fachkollegen auf Warburgs Lässigkeit in Kategorienfragen. Allerdings mauserte sich just diese Unschärfe – gelegentlich sogar am Rande der Beliebigkeit, wofür der fragmentarische Status gern als Entschuldigung herhalten darf – zum großen Pfund des Mnemosyne Bilderatlas. Sein Unterfangen, einen opulenten Materialstoß nach nonlinearer, undurchsichtiger Methodik zu ordnen, machte Aby Warburg zum Referenzpunkt, Vorbild und Abgott einer Riege von Kunsttheoretikern, Künstlern und Kuratoren. In Ernsthaftigkeit und quellengestützter Begründung stehen sie ihrem Ahnherrn allerdings meist deutlich nach.

Dieses generelle Beliebigkeitsproblem der Warburg-Rezeption findet sich in der ZKM-Ausstellung in Form einer „Aktualisierung“ des Bilderatlas durch zeitgenössische Künstler wie Albert Oehlen, Andy Hope 1930 oder Elfie Semotan. Vieles davon ist sterbenslangweilig, bedeutungshubernd oder beides und verharrt häufig im Missverständnis, Warburgs Fokus hätte auf formalen Analogien gelegen. Interessant ist dieser Ausstellungsteil allenfalls dort, wo eine ironische Distanz zu diesem Kunsthistorikerporno spürbar wird, etwa in Olaf Metzels Aluminiumskulptur, die eine zerknüllte warburgsche Tafel darstellt. Auch Tal Rs bunte Collage, die den schwarzen Samt komplett unter Materialschichten begräbt, oder Albert Oehlens kalauernde Mnemosyne-Mimikry stechen positiv heraus.

Wobei Oehlens Verwurstung der Werbebilder unserer Zeit auch einen Umstand adressiert, der dem Mnemosyne Atlas immer wieder zugesprochen wird – die offene Mischung von E und U. Ein zweiter, suchender Durchlauf durch die 63 Tafeln bestätigt das Gegenteil: Warburg war keinesfalls der große Nivellierer, der Botticelli neben Brausewerbung stellt und „die Würdeabstände zwischen Kunst und Kult, Fetisch und Gebrauchsgegenstand, kulturellem Zeremoniell und Alltagsritual, Kennerschaft und Massengeschmack augenscheinlich gegen Null schrumpfen lässt“, wie kürzlich noch Die Welt behauptete. Wer dies annimmt, ignoriert die dem Ganzen zugrunde liegende Architektur. Denn die wenigen Tafeln, die profanes Bildmaterial zulassen, tun dies als Quellenmaterial mit erhellendem Mehrwert innerhalb thematischer Blöcke, etwa der bereits erwähnte Stammbaum der Medici-Tornabuoni. Mussolini-Porträts, Briefmarken und Werbemotive findet man hingegen nur eingehegt in den Tafeln der kleinen Sektion Gegenwart. Die Aby Warburg unterstellte Beliebigkeit, so viel kann man mit Sicherheit aus dem Jubiläumsjahr mitnehmen, ist oft eine Beliebigkeit der Interpretation des Mnemosyne Atlas.

Info

Aby Warburg. Mnemosyne Bilderatlas. Rekonstruktion – Kommentar – Aktualisierung ZKM Karlsruhe, bis 13. November

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